Hexenprozesse / Witch Trials

Ukrainische Apokalypse / Ukrainian Aopcalypse

Der Einsatz von Foltermethoden bei Verhören offenbart nicht nur das ganze Ausmaß der Brutalität des russischen Besatzungsregimes. In den Folterverhören manifestiert sich auch die an mittelalterliche Vorstellungen erinnernde Irrationalität des russischen Vorgehens.

English Version

Als du die Nadeln, die du dem vor dir liegenden nackten Mann unter die Fingernägel geschoben hast, unter Strom setzt, spannen sich seine festgeschnallten Arme an. Gleichzeitig weiten sich seine Augen, und sein Mund öffnet sich zu einem Schrei.

Du weißt natürlich, dass dieser Gesichtsausdruck Angst bedeutet. Aber du weißt es nur so, wie man weiß, dass eine rote Ampel „Anhalten“ bedeutet und eine grüne Ampel „Freie Fahrt“. Es ist ein Orientierungswissen, das für deine Arbeit nützlich ist, dich aber innerlich kalt lässt.

Wie solltest du sonst auch professionell arbeiten können? Der Mann auf der Pritsche vor dir ist für dich nichts als tote Materie, die du mit der Akribie eines Pathologen behandelst. Allenfalls erscheint er dir, wenn er sich zu stark unter den Stromschlägen windet, wie ein Wurm, an dem du ein wissenschaftliches Experiment durchführst.

Bei dem Geistlichen neben dir ist das anders. Wenn du ihn aus den Augenwinkeln mit seinem Kreuz hantieren siehst, spürst du förmlich die Genugtuung, die ihm dein Tun bereitet. Für ihn ist die zuckende Materie eine Beute des Bösen, die diesem mit dessen eigenen Mitteln entrissen werden muss.

Für den Offizier auf der anderen Seite des Tisches stellt sich die Angelegenheit wieder anders dar. Er hat die Aufgabe, konkreten Nutzen aus deiner Arbeit zu ziehen. Mit seinen Fragen muss er versuchen, den Lippen, die sich jetzt wieder in unkontrollierten Zuckungen verziehen, das Eingeständnis ihrer eigenen Schande und möglichst viele Informationen über den Feind zu entlocken.

„Gibst du zu, das Land, das es nicht gibt, in Wort und Tat unterstützt zu haben?“ fragt er. Es klingt gelangweilt. Schließlich hat er diese Frage an diesem Tag schon etlichen anderen zuckenden Mündern gestellt.

Dem Mund entringt sich ein unverständliches Lautgemisch. Der Offizier dreht sich zu seinem Adjutanten um, der das Gespräch in einer Ecke des Raumes protokolliert. „Schreiben Sie“, weist er diesen an. „Der Verräter bekennt sich vollumfänglich zu seinen Taten.“

Eilfertig kritzelt der Adjutant etwas in seinen Block, bemüht, nicht auf den Tisch mit dem nackten Körper zu schauen. Er ist neu hier, offenbar hat er sich noch nicht an den Geruch des Todes gewöhnt.

Der Offizier wendet sich wieder dem zuckenden Bündel zu. „Nenn uns nun die Namen derer, mit denen du dem Feind zum Schaden des auserwählten Volkes gedient hast!“

Der Geistliche hebt sein Kreuz über den nackten Körper. Die Lippen verziehen sich erneut in chaotischen Zuckungen, doch dieses Mal dringt kein Laut aus ihnen heraus.

„Setzen Sie auch den Schwanz unter Strom!“ weist der Offizier dich an.

Mechanisch folgst du dem Befehl, obwohl du weißt, dass er nicht zielführend ist. Schließlich verfügst du über langjährige Erfahrung in dem Metier. Und die sagt dir: Dieser Körper hier verträgt keine weiteren Stromstöße. Der Organismus wird sich schlicht in seine eigene Dunkelheit zurückziehen, um ihnen zu entgehen.

Während die Zuckungen den ganzen Körper erfassen, rattert der Offizier seinen Fragenkatalog herunter: „Sprich: Wer hat dich in deinem schändlichen Tun unterstützt? Auf welche Weise habt ihr dem gelobten Land, von dem ihr euch in gotteslästerlicher Weise abgewandt habt, zu schaden versucht? Wer hat euch das ketzerische Gedankengut in eure kranken Hirne gegossen?“

Die Zuckungen steigern sich zu einem konvulsivischen Krampf, dann ebben sie ganz plötzlich ab. „Ist er fertig?“ fragt dich der Offizier.

„Nicht ganz“, diagnostizierst du nach einer routinierten Überprüfung des Pulsschlags. „Nur ohnmächtig.“

„Dann lassen Sie ihn erst mal wegschaffen“, ordnet der Offizier an. „Wir nehmen ihn uns nachher noch einmal vor.“

Er sieht kurz zu dem Geistlichen herüber, der sein Kreuz entschlossen über den reglosen Körper hält. Der Mann mit dem imposanten Bart blickt aber nicht zurück, sondern murmelt nur selbstvergessen ein paar beschwörende Worte. „Weiche von ihm“, meinst du zu hören. „Vergeblich ringst du, Satan, um eine Seele, die dank der heiligen Werkzeuge der Mutter Kirche längst wieder in den Schoß Gottes zurückgekehrt ist. Lass ab von ihr, böser Feind …“

Da geschieht etwas Merkwürdiges. Auf einmal ist dir, als würde das schüttere Haar auf dem Kopf des Gemarterten zu strahlen beginnen. Wie eine Krone sieht es aus, ja, genau, wie eine Krone aus Dornen, die leuchtend vom Kopf abstehen.

Erschrocken schaust du in das Gesicht mit den blutunterlaufenen Augen, der blutenden Nase, den aufgeplatzten Lippen und dem eingefallenen Mund. Deine Blicke tasten den geschundenen Körper ab, der von unzähligen Blutergüssen übersät ist. Als wäre er von lauter Lanzenstichen durchbohrt worden, denkst du unwillkürlich.

Und umgibt nicht den ganzen Körper auf einmal ein Strahlenkranz, eine Aureole, durch die er über dem Tisch zu schweben scheint? Ist er überhaupt noch ein Teil des Raumes? Ist er nicht eher eine Erscheinung, die aus einer anderen Welt in diese Welt reflektiert wird?

„Was ist mit Ihnen?“ hörst du den Offizier fragen. „Ist Ihnen  nicht gut?“

Da erst merkst du, dass sich dicke Schweißperlen auf deiner Stirn gebildet haben. Für einen Augenblick wird dir schwarz vor Augen, du musst dich am Tisch festhalten, um dem Ohnmächtigen nicht in seine Welt zu folgen. Dann aber hast du dich wieder im Griff.

„Es ist nichts“, lügst du. „Der Tag war nur sehr lang heute.“

Es stimmt ja auch: Du bist wirklich überarbeitet. Du bräuchtest dringend mal etwas Erholung. Nicht auszudenken, wenn du dem Leistungsdruck am Ende nicht standhalten solltest. Arbeitslos zu werden, könntest du dir auf keinen Fall leisten – schon gar nicht in diesen krisengeschüttelten Zeiten!

Maarten van Heemskerck, 1550

English Version

Witch Trials

The use of torture in interrogations not only reveals the full extent of the brutality emanating from the Russian occupation regime. It also testifies to the irrationality of the Russian proceeding, reminiscent of medieval ideas.

As you electrify the needles you have placed under the fingernails of the naked man lying in front of you, his strapped arms tremble in a sudden tension. At the same time, his eyes widen and his mouth opens in a scream.

You know, of course, that this expression means fear. But you only know it the way you know that a red light means „stop“ and a green light means „go ahead“. It is an orientation knowledge that is useful for your work, but leaves you cold inside.

Otherwise, how should you be able to work professionally? For you, the man on the cot is nothing but dead matter, which you treat with the meticulousness of a pathologist. At best, if he squirms too much under the electric shocks, he appears to you like a worm on which you are conducting a scientific experiment.

For the clergyman next to you, things look different. When you see him handling his cross out of the corner of your eyes, you can literally feel the satisfaction that your actions bring him. For him, the twitching matter on the cot is a prey of evil that must be snatched from the Lord of the Dark with his own means.

For the officer on the other side of the table, the matter presents itself in still another way. He has the task of drawing concrete benefit from your work. With his questions, he must try to elicit from the lips, which are now again contorting in uncontrolled twitches, the confession of their own shame and as much information as possible about the enemy.

„Do you admit to having supported in word and deed the country that does not exist?“ he asks. It sounds bored. After all, he has already addressed this question to quite a few other twitching mouths that day.

An unintelligible mixture of sounds comes out of the mouth. The officer turns to his aide, who is recording the conversation in a corner of the room. „For the record,“ he translates the utterances for him. „The traitor fully confesses to his deeds.“

Hastily, the aide scribbles something in his pad, anxious not to look at the cot with the naked body. He is new in this job and obviously not yet used to the smell of death.

The officer turns back to the twitching bundle. „Now tell us the names of those with whom you have served the enemy to the detriment of the chosen people!“

The clergyman raises his cross over the naked body. The lips contort again in chaotic twitches, but this time no sound escapes them.

„Put the cock under power too!“ the officer instructs you.

Mechanically, you follow the order, even though you know that it won’t lead anywhere. After all, you have many years of experience in this field. And so you are sure that this body cannot stand any further electric shocks. The organism will simply retreat into its own darkness to escape them.

While the twitching spreads over the whole body, the officer rattles off his catalogue of questions: „Tell me: who has supported you in your shameful deeds? In what way have you tried to harm the promised land from which you have blasphemously turned away? Who has poured into your sick brains the heretical ideas?“

The twitching increases to a convulsive spasm, then abruptly ebbs away. „Is he finished?“ the officer asks you.

„Not quite yet,“ you diagnose after a routine check of the pulse rate. „Just faint.“

„Then have him taken away for now,“ the officer orders. „We’ll deal with him again later.“

He looks briefly over at the clergyman, who is holding his cross resolutely over the motionless body. The man with the imposing beard does not look back, though, but only whispers obliviously a few incantatory words. „Move away from him,“ you hear him mumble. „In vain you struggle, Satan, for a soul which, thanks to the holy instruments of Mother Church, has long since returned to the bosom of God. Let it go, evil enemy, let it go …“

At that moment, something strange happens. All of a sudden you feel as if the sparse hair on the head of the martyred man began to glow. It looks like a crown, you think, yes, exactly, like a crown of thorns sparkling on the head.

Startled, you look at the face with the bloodshot eyes, the bleeding nose, the cracked lips and the sunken mouth. Your eyes scan the maltreated body, covered with countless bruises. As if he had been pierced by lance pricks, you think involuntarily.

And doesn’t the whole body suddenly have a ring of rays around it, an aureole that makes it almost float above the table? Is it still part of the room at all? Isn’t it rather an apparition reflected into this world from another?

„What’s the matter with you?“ you hear the officer ask. „Are you unwell?“

Only then do you realise that thick beads of sweat have formed on your forehead. For a moment you feel dizzy and have to hold on to the table so as not to follow the fainted man into his world. But then you get a grip on yourself again.

„It’s nothing,“ you lie. „It’s just been a long day today.“

After all, that’s not entirely wrong: you’re really overworked. You really need some rest. You don’t even want to think about the consequences of not being able to cope with the pressure to perform anymore. You just can’t afford to become unemployed – especially not in these crisis-ridden times!

Bilder /Images: Antônio Parreiras (1860 – 1937): Der Gefolterte / Tortured (1920); Museu Antônio Parreiras, Rio de Janeiro (Wikimedia Commons); Maarten van Heemskerck (1498 – 1574): Christus mit der Dornenkrone / Christ crowned with thorns (1550); Frans Hals Museum, Haarlem/Niederlande (Netherlands); Wikimedia Commons

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