Die Bedrohung / The Threat

Literarische Miniatur aus dem Zyklus „Ukrainische Apokalypse“ / Literary Miniatur from „Ukrainian Apocalypse“

Ein Amokläufer tötet alles, was ihm in die Quere kommt. Aus Angst, er könnte seine Waffen auch gegen dich richten, lässt du ihn gewähren. Aber was, wenn er dein Verhalten als Schwäche auslegt? Wird er dich dann nicht erst recht attackieren?

A spree killer kills everything that gets in his way. Fearing that he might turn his weapons on you, too, you just let it happen. But what if he interprets your behaviour as weakness? Won’t he then attack you all the more?

Nachdem der Zar seinen Feldzug im Osten beendet hatte, stand er eines Tages vor deiner Tür. Nun steht ihr euch Aug in Auge gegenüber
„Ich fühle mich von dir bedroht“, verkündet der Zar mit einem mitleidheischenden Augenaufschlag. „Du musst dein Militär abschaffen.“
Du siehst den unerwarteten Besucher überrascht an. „Aber Herr Zar“, versuchst du ihn zu beruhigen, „das Militär ist doch nicht gegen Sie gerichtet – es bedroht überhaupt niemanden. Es ist nur zu unserer Sicherheit da“, bekräftigst du, an die hochgerüstete Armee des Zaren denkend. „Damit wir uns verteidigen können, wenn wir angegriffen werden.“
Der Zar schaut dich weiter zerknirscht an. „Trotzdem – all die Waffen! Nicht auszudenken, wenn sich da mal unabsichtlich ein Schuss löst. Das könnte die ganze Welt in Brand setzen! Ehrlich gesagt – ich bekomme sogar schon Alpträume davon.“
Du blickst ihm forschend ins Gesicht. Fühlt er sich wirklich von dir bedroht? Oder tut er nur so, um dich zu schwächen? Andererseits: Was spielt das schon für eine Rolle? Du hast ja gerade erst gesehen, was passieren kann, wenn der Zar davon spricht, sich bedroht zu fühlen.
Also redest du betont behutsam auf den unberechenbaren Besucher ein. „Wir können doch zusammenarbeiten“, schlägst du ihm vor. „Vertrauensbildende Maßnahmen einleiten. Das haben wir doch früher auch immer so gemacht.“
Der Zar schüttelt missbilligend den Kopf. „Nein, tut mir leid, das reicht mir nicht. Wer garantiert mir denn, dass ihr euch an die Regeln haltet, die wir dabei vereinbaren?“
Da spricht einer aus Erfahrung, denkst du. Aber natürlich hütest du dich, das offen auszusprechen. Schließlich ist dir an einer friedlichen Lösung gelegen. „Da brauchen Sie sich wirklich keine Sorgen zu machen, Herr Zar“, beschwichtigst du ihn. „Oder haben wir ihnen in der Vergangenheit jemals Anlass gegeben, an unserem Wort zu zweifeln?“
Dein Gegenüber lacht sarkastisch auf. „Allerdings!“ schleudert er dir entgegen. „Ihr wart es doch, die mir mit eurem ewigen Freiheitsgerede mein schönes Großreich zerschlagen habt! Damit ist es euch tatsächlich gelungen, dass sich meine Leute in den ungeheuren Weiten ihres Landes wie in einem Gefängnis gefühlt haben. Und heute seid ihr schon wieder dabei, ihnen den Kopf zu verdrehen!“
Na ja, denkst du – ob das mit dem Gefängnis wirklich nur ein Gefühl war? Aber du weißt natürlich, dass jetzt nicht die Zeit für ideologische Diskussionen ist. „Ich versichere ihnen, lieber Herr Zar“, wiegelst du daher ab, „dass es uns fernliegt, irgendeinen eurer Untertanen in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Es ist ja gerade unser fester Glaube, dass jeder selbst den Weg zu seinem Glück finden sollte.“
Der Zar verzieht spöttisch das Gesicht. „Siehst du“, schnarrt er triumphierend, „genau das ist euer Problem! Dass ihr meint, jeder müsse selbst über sein Leben entscheiden. Wie wollt ihr denn so die ungeheuren Herausforderungen meistern, vor denen die Weltbevölkerung heute steht? Dafür muss die Entscheidungsgewalt doch in einer Hand gebündelt sein!“
Dieses Mal wagst du es, dem hohen Besucher zu widersprechen. „Sind Sie sich da wirklich sicher, werter Herr Zar? Meinen Sie nicht, dass die Weisheit der Vielen am Ende mehr vermag als der Kopf eines Einzelnen?“
Die Augen des Zaren zucken unmerklich. Du spürst, wie dein Herz gegen deinen Brustkorb schlägt, als wolltest es aus deinem Körper fliehen. Hast du dich jetzt etwa einer Majestätsbeleidigung schuldig gemacht?
Als du dem mächtigen Herrscher jetzt aber wieder ins Gesicht siehst, wirkt er eher gelangweilt. „Mag sein, dass das am Ende so wäre“, räumt er großmütig ein. „Nur dass ihr dieses Ende eben nie erreichen werdet. Die einen wollen hierhin, die anderen dorthin, die dritten wollen wieder einen anderen Weg einschlagen – bis ihr mit euren Diskussionen fertig seid, ist die Welt doch längst untergegangen!“
Weltuntergang … Damit hattest du eher das in Verbindung gebracht, was der Zar bei seinem letzten Feldzug angerichtet hat. Dieses Mal reißt du dich aber zusammen und fragst nur vorsichtig: „Wie dem auch sei – ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, was das mit unserem Militär zu tun hat.“
„Wirklich nicht?“ Der Zar funkelt dich abschätzig an. Jetzt wirkt er doch ein wenig ungehalten. „Aber der Zusammenhang liegt doch auf der Hand! Es ist nicht dein Militär selbst, das mich bedroht – sondern das, was es verteidigt.“
So verstimmt dein Besucher auch wirkt – das kannst du doch nicht unwidersprochen lassen. „Hat denn nicht jedes Land“, wendest du ein, „das Recht, die Lebensweise seiner Menschen zu verteidigen? Erfüllt euer Militär nicht auch diesen Zweck?“
Da wird der Zar auf einmal staatstragend. „Mein lieber Nachbar“, weist er dich zurecht, „ich muss dir sagen: Dieser Egoismus ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Aber genau das ist typisch für dich und die Lebensweise, die du verteidigen möchtest. Dieser Individualismus, der zu einem Verfall aller Sitten geführt hat. Und eben dieser Sittenverfall ist es doch, der die Welt an den Rand des Untergangs gebracht hat. Was wir heute brauchen, sind Zucht und Ordnung, klare Verhaltensvorschriften, die von einer allseits anerkannten Autorität überwacht und durchgesetzt werden. Ansonsten werden wir die Zukunft unserer Kinder verspielen!“
Da wären wir dann also wieder beim Führerstaat, denkst du – behältst deine Gedanken aber lieber für dich. Die Augen des Zaren zucken schon wieder bedrohlich.
„Die Menschen wollen nun einmal in Freiheit leben“, gibst du vorsichtig zu bedenken. „Ist es nicht auch eine Art von Untergang, wenn wir uns alle nur noch wie Roboter auf vorgegebenen Gleisen bewegen können?“
Dieses Mal blitzt der Zar dich nur überlegen an. Offenbar hat er keine Lust auf weitere Diskussionen. „Nun gut“, beendet er das Gespräch. „Wie ich sehe, stoße ich mit meinem Anliegen hier auf taube Ohren. Dann werden wir das Problem eben auf andere Weise lösen müssen.“
Als der Zar gegangen ist, bleibt ein flaues Gefühl in dir zurück, das sich allmählich zu einer handfesten Übelkeit auswächst. Ist das die Angst vor der unverhohlenen Drohung? Oder hat deine Übelkeit rein körperliche Ursachen? Hat der Zar am Ende eines seiner berüchtigten unsichtbaren Gifte in deiner Wohnung versprüht?
Ach was, denkst du, jetzt werde ich selbst schon paranoid! Da meldet sich auf einmal dein Smartphone.
„Bist du gerade online?“ fragt dich ein Mitstreiter. „Nein? Dann schau doch mal in die sozialen Medien – ganz egal, in welche.“
Wahrscheinlich geht jetzt die Diskussion los, denkst du: dass du zu undiplomatisch warst und mehr Entgegenkommen zeigen müsstest. Als du aber in das Medienmeer eintauchst, schlagen ganz andere Wellen über dir zusammen.
Wohin du auch klickst, überall brennen sich dir dieselben Bilder in die Augen. Jedes Bild ist wie ein Zerrspiegel. Denn alle Bilder zeigen dich selbst: von vorne, von hinten, von der Seite.
Das allein wäre nichts Besonderes. Du bist eine Person des öffentlichen Lebens, es gibt unzählige Bilder von dir im Netz. Diese Bilder aber zeigen dich hüllenlos, und vor allem: in eindeutig-zweideutiger Pose, beim Liebesspiel mit kleinen Jungen.
Noch bevor du zur Besinnung kommen kannst, klingelt es an der Tür. Nur einen Augenblick noch, dann wird die Sturmflut der Öffentlichkeit vollends in dein Leben einbrechen und dich mit allem, was dir je etwas bedeutet hat, unter sich begraben.
Selbst wenn es dir gelingen sollte, die Deepfake-Fälschung als solche kenntlich zu machen – diesen Tsunami wirst du nicht überleben. Er wird dein Untergang sein.
Dies wird der erste Etappensieg des Zaren sein.

English Version

The Threat

One day, after the Tsar had finished his military campaign in the East, he stood at your door. Now you are standing face to face with each other.
„I feel threatened by you,“ the Tsar complains with a pitiful look in his eyes. „You must abolish your military.“
You gaze in surprise at the unexpected visitor. „But Mr. Tsar,“ you try to reassure him, „our military is not directed against you at all – it doesn’t threaten anyone. It is only there for our safety. So that we can defend ourselves if we are attacked.“
The Tsar continues to look at you contritely. „Well, in any case, all those weapons – it’s just too dangerous! What if a shot gets off accidentally? That could set the whole world on fire! Honestly – it even causes me nightmares.“
You look inquiringly into his face. Does he really feel threatened by you – despite his well-armed forces? Or is he only acting this way to weaken you? On the other hand, what does it matter? You’ve only just seen what can happen when the Tsar talks about feeling threatened.
So you speak in a deliberately cautious manner to the unpredictable visitor. „We could cooperate,“ you suggest to him. „Introduce confidence-building measures, just like we used to do in the past.“
The Tsar shakes his head disapprovingly. „No, I’m sorry, that’s not enough for me. Who can guarantee me that you will abide by the rules on which we agree in the process?“
Here’s someone speaking from experience, you think. But of course you are careful enough not to say so openly. After all, you are interested in a peaceful solution. „You really don’t have to worry about that, Mr. Tsar,“ you appease him. „Or have we ever given you cause to doubt our word in the past?“
Your counterpart laughs sarcastically. „Indeed!“ he exclaims. „It was you, after all, who smashed my beautiful great empire with your endless talk of freedom! As a result, you actually succeeded in making my people feel imprisoned in the vast expanses of their country. And today you are again putting nonsense into their heads!“
Well, you think – was this imprisonment really just a feeling? But of course you know that this is not the time for ideological discussions. „I assure you, my dear Mr. Tsar,“ you therefore emphasise, „that it is far from us to influence any of your subjects in any way. After all, it is our firm belief that everyone should find his own way to happiness.“
The Tsar grimaces mockingly. „You see,“ he snarls triumphantly, „that is precisely what your problem is – that you think everyone must decide for themselves about their lives! How do you expect to master the enormous challenges today’s world population is facing this way? For that, the decision-making power has to be concentrated in one hand!“
This time you dare to contradict the noble visitor. „Are you really sure about that, dear Mr. Tsar? Don’t you think that in the end the wisdom of the many can achieve more than the head of a single person?“
The Tsar’s eyes twitch imperceptibly. You feel your heart beating against your ribcage as if it wanted to flee from your body. Have you made yourself guilty of an insult to His Majesty?
But when you now look the mighty ruler in the face again, he seems rather bored. „Maybe that’s how it would end up,“ he concedes magnanimously. „It’s just that you will never reach that end. Some want to go in this direction, others in that direction, again others in a completely different direction – by the time you’re done with your discussions, the world will have long since come to an end!“
End of the world … You’d rather associated this with what the Tsar brought about during his last military campaign. This time, however, you pull yourself together and ask cautiously: „Be it as it may, I honestly don’t understand what this has to do with our military.“
„You really don’t get it?“ The Tsar glares at you disdainfully. „But the connection is obvious! It is not your military itself that threatens me – but what it defends.“
However disgruntled your visitor seems, you can’t let that go unchallenged. „Doesn’t every country,“ you object, „have the right to defend its people’s way of life? Doesn’t your military also serve that purpose?“
At that point, the Tsar suddenly becomes statesmanlike. „My dear neighbour,“ he rebukes you, „I must tell you: this selfishness is simply no longer in keeping with the times. But that is exactly what is typical of you and the way of life you want to defend – this individualism that has led to a decay of all morals. And it is precisely this decline in morals that has brought the world to the edge of destruction. What we need today is discipline and order, clear rules of conduct, supervised and enforced by a universally recognised authority. Otherwise we will gamble away the future of our children!“
Welcome back to the Führer state, you think – but prefer to keep your thoughts to yourself. The Tsar’s eyes are already twitching ominously again.
„People want to live in freedom,“ you argue in an emphatically calm voice. „So isn’t it also a kind of downfall if in the future we can all only move like robots on predetermined tracks?“
This time the Tsar just glares at you superiorly. Apparently he has no desire for further discussion. „Very well,“ he ends the conversation. „I see that my request is falling on deaf ears here. Then we will just have to solve the problem in another way.“
When the Tsar has gone, you are left with a queasy feeling that gradually grows into outright nausea. Is this the fear of the blatant threat? Or does your nausea have purely physical causes? Has the Tsar ended up spraying one of his notorious invisible poisons in your flat?
Come on, you think, now I’m getting paranoid myself! But then suddenly your smartphone buzzes.
„Are you online?“ a friend wants to know. „No? Then have a look at the social media – no matter which one.“
Probably the discussions have already begun, you think: that you were too undiplomatic and should be more accommodating towards the Tsar. But as you dive into the sea of the media, completely different waves crash over you.
No matter what you click on, everywhere the same images are burnt into your eyes. Each image is like a distorting mirror. Because all the pictures show yourself: from the front, from behind, from the side.
That alone would be nothing unusual. You are a public figure, there are countless pictures of you on the net. But these pictures show you naked, and above all: in an unambiguously ambiguous pose, making love to little boys.
Even before you can come to your senses, the doorbell rings. Just a moment more, and the storm tide of publicity will burst into your life, burying you and everything you ever cared about under its waves.
Even if you succeed in unmasking the deepfake as such – there is no way for you to survive this tsunami. It will be your downfall.
This will be the first stage victory of the Tsar.

Bilder / Images: Peter Ludwigs (1888 – 1943): Der Krieg /The War (1937). Museum Kunstpalast Düsseldorf (Wikimedia commons); BakeNecko: Putin, April 2020; modifiziert, modified (Wikimedia commons)

2 Antworten auf „Die Bedrohung / The Threat

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