Tagebuch eines Schattenlosen/2: Der Blackout/9 / Diary of a Shadowless Man/2: The Blackout/9
Mittlerweile ist Theo sich sicher: Sie sind verraten worden! Aber wieso sind die anderen Mitglieder des Teams auf einmal verschwunden?
By now Theo sees it quite clearly: they have been betrayed! But why have the other team members suddenly disappeared?
Freitag, 6. Oktober, nachmittags
Das Gesicht hinter dem Präsidenten – ich bin mir jetzt ganz sicher, es richtig erkannt zu haben. Der Spezialagent, der da über die Sicherheit des obersten Chefs des Landes gewacht hat, war niemand anderes als – Hervé, Georges besonderer Günstling.
Ich weiß noch immer nicht, wie ich das einordnen soll. Warum hat George uns denn nicht gesagt, dass sein blonder Beau auch in die Mission eingebunden ist? Wieso hat er nicht an den Planungsgesprächen teilgenommen? War seine Aufgabe etwa so geheim, dass noch nicht einmal wir etwas davon wissen durften? Oder ist es denkbar, dass …
Ich scheue mich, den Gedanken zu Ende zu denken. Die Annahme, dass jemand sich im Wortsinn bei George eingeschmeichelt haben und all unsere Pläne haarklein an unsere Gegner verraten haben könnte, ist einfach zu schrecklich!
Irritationen
Während meine Aufmerksamkeit durch das seltsam vertraute Gesicht hinter dem Rücken des Präsidenten gefesselt war, näherte sich dessen Rede ihrem Höhepunkt. Mit der Beschwörung der Gemeinschaft und dem Schutz der abendländischen Werte war schon fast die äußerste rhetorische Eskalationsstufe erreicht.
Ich fragte mich, wo Schorsch so lange blieb. Es konnte sich doch jetzt nur noch um wenige Sekunden handeln, bis die externe Stromverbindung gekappt würde! Und wenn Lina und Yvonne bis dahin die Notstromquellen nicht ausgeschaltet hätten, wäre die ganze Aktion gescheitert.
Der Präsident streute derweil eine gehörige Portion Pathos in seine Rede ein: „Bürgerinnen und Bürger dieses herrlichen Landes, das über eine so wundervolle Kultur und eine so stolze Geschichte verfügt! Die Entscheidung, die ich Ihnen heute mitzuteilen habe, ist mir durchaus nicht leicht gefallen. Aber ich bin der Meinung, dass wir nach all den fruchtlosen Verhandlungen mit denen, die nicht nur unseren Frieden, unsere Freiheit und unsere Kultur bedrohen, sondern auch ihr eigenes Volk schamlos ausbeuten und unterdrücken, nun zu anderen Mitteln greifen müssen. Wer nicht aufhört, die humanen Werte unserer Welt mit Füßen zu treten, der versteht die Sprache der Humanität einfach nicht. Und dann ist es unsere Pflicht, ihm in seiner barbarischen Sprache zu antworten, damit er nicht eines Tages die ganze Welt in ein Reich der Barbarei verwandelt.“
Noch während der Präsident sprach, überschlugen sich die Ereignisse. Auf den Überwachungsmonitoren sah ich, wie Lina und Yvonne die Gänge zu den Notstromgeneratoren betraten. Also war es Schorsch noch immer nicht gelungen, den Replay-Modus zu aktivieren! Nun hatte ich keine andere Wahl: Ich musste selbst auf die Replay-Taste drücken, um die Aktion noch zu retten – und vor allem: um das Leben von Lina und Yvonne nicht zu gefährden!
Ich wollte gerade aufstehen, da sprang die Tür auf, und der zweite Wachhund stürmte herein. In aller Eile flüsterte er seinem Kollegen etwas ins Ohr, dann entschwanden sie beide auf den Gang.
Beunruhigt drehte ich mich wieder zur Bildschirmwand um – und fand meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Lina und Yvonne wurden bereits von zwei Security-Mitarbeitern verfolgt.
„Abbruch! Abbruch!“ rief ich hektisch in mein Headset.
Aber natürlich war das zu dem Zeitpunkt völlig sinnlos. Es war viel zu spät, um die Aktion abzubrechen – die beiden waren ja längst aufgeflogen. Lina versuchte sich gerade noch vor zwei Security-Häschern in Sicherheit zu bringen, Yvonne war bereits gefasst worden. Sie ergab sich allerdings nicht in ihr Schicksal, sondern wehrte sich heftig gegen den Uniformierten, der ihr den Arm auf den Rücken drehte. So viel Kampfgeist hätte ich ihr gar nicht zugetraut!
Mit voller Wucht trat sie ihrem Peiniger gegen das Schienbein, so dass sein Gesicht sich vor Schmerz verzerrte. Erleichtert sah ich, wie Yvonne sich losreißen konnte. Während sie davonstürzte, richtete der Uniformierte sich jedoch blitzschnell wieder auf und zog seine Waffe. Einen endlosen Augenblick lang schwebte sie regungslos in der Luft, dann zuckte sein Finger am Abzug. Sekundenbruchteile später sank Yvonne zu Boden.
Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Kopf wich. Wie hatte die Aktion nur dermaßen aus dem Ruder laufen können? Was sollte ich jetzt bloß tun?
Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich auf den anderen Monitor schaute – den, auf dem ich Lina hatte fliehen sehen. Aber ich konnte sie nirgends mehr entdecken. Nicht auf diesem Monitor, und auch auf keinem anderen. Sie war einfach verschwunden.
Dasselbe war offenbar auch mit Schorsch passiert. Genau das musste der Grund für die plötzliche Rückkehr von Wachhund Nr. 2 gewesen sein: Anscheinend hatte er seinen Kollegen aufgefordert, ihm bei der Suche nach dem Entflohenen zu helfen.
Dann geschah etwas Irritierendes: Das Licht flackerte wie bei einem schweren Gewitter, manche Lampen gingen sogar kurzzeitig aus. Aber das Ganze dauerte nur Bruchteile von Sekunden, dann hüllten die Scheinwerfer den obersten Heerführer wieder in eine siegestrunkene Gloriole. Der Hackerangriff auf das Elektrizitätswerk hatte also funktioniert – nur waren nach dem Stromausfall eben sofort die Notstromaggregate aktiviert worden.
Die Lippen des Präsidenten deuteten ein wissendes Lächeln an, dann setzte er seine Rede ungerührt fort. Ich meinte fast, eine Spur von Schadenfreude aus seinen Worten herauszuhören, als er zum finalen rhetorischen Schlag ausholte: „So stelle ich hier und heute unmissverständlich klar: Das Fenster der Diplomatie ist ab sofort geschlossen! Ab morgen werden die Waffen sprechen, und sie werden so lange sprechen, bis wir auch denen die Sprache des Friedens beigebracht haben, die bis heute nur die Sprache der Waffen verstehen!“
Ich sah mich um: Die beiden menschlichen Kampfmaschinen waren noch immer nicht zurückgekehrt. Was sie mit mir tun würden, sollten sie mich hier noch vorfinden, war nicht schwer zu erraten. Wahrscheinlich, schoss es mir durch den Kopf, müsste ich dann sogar als Beleg für die angebliche Terrorgefahr herhalten!
Am Ende hätte ich so als lebende Begründung für eben jenen Krieg gedient, den wir mit unserer Aktion hatten verhindern wollen. Dazu verspürte ich nicht die geringste Lust. Also nutzte ich die Abwesenheit der beiden Wachhunde und machte mich unauffällig aus dem Staub.
Der Stimme des Präsidenten, die von den Lautsprechern in jeden Winkel des Bunkers getragen wurde, konnte ich allerdings nicht entfliehen. Scheppernd brandete die Welle der Wut an mein Ohr.
Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass der Präsident nicht irgendwelchen fremden Leuten, sondern mir selbst den Krieg erklärte. „Dies“, hörte ich ihn ausrufen, „ist nicht nur ein Krieg gegen ein einzelnes Land, sondern ein Krieg gegen alle Feinde des Friedens, der Freiheit und der Demokratie – und wir werden ihn so lange fortsetzen, bis der letzte Feind unserer Kultur unschädlich gemacht worden ist!“
English Version
The Moment of Truth/2
Friday, October 6, afternoon
The face behind the president – I am now quite sure I have identified it correctly. The special agent who was watching over the security of the country’s supreme leader was none other than – Hervé, George’s special favourite.
I still don’t know how to interpret this. Why didn’t George tell us that his blond beau was also involved in the mission? Why didn’t he take part in the strategic meetings? Was his mission so secret that not even the other team members should know about it? Or is it conceivable that …
I shy away from finishing the thought. The assumption that someone could have ingratiated himself with George and betrayed all our plans in detail to our opponents is just too terrible!
Irritations
While my attention was captured by the strangely familiar face behind the president’s back, his speech was approaching its climax. With the invocation of community and the protection of occidental values, the utmost level of rhetorical escalation had almost been reached.
I wondered why Shorsh didn’t come back. It could only be a matter of seconds now before the external power supply was cut off! And if Lina and Yvonne hadn’t switched off the emergency power units by then, the whole operation would be doomed to failure.
Meanwhile, the president sprinkled a good portion of pathos into his speech: „Citizens of this wonderful country, which has such a wonderful culture and such a proud history! The decision I have to announce to you today was not an easy one. But I believe that after all the fruitless negotiations with those who not only threaten our peace, freedom and culture, but also shamelessly exploit and oppress their own people, we must now resort to other means. Those who do not stop trampling on the humane values of our world simply do not understand the language of humanity. Therefore, it is our duty to answer them in their barbaric language, lest one day they turn the whole world into an empire of barbarism.“
While the president was still speaking, the events came thick and fast. On the surveillance monitors I saw Lina and Yvonne entering the corridors to the emergency generators. So Shorsh still hadn’t succeeded in activating the replay mode! Now I had no other choice: I had to press the replay button myself in order to save the action – and above all: in order not to endanger the lives of Lina and Yvonne!
I was just about to get up when the door burst open and the second guard dog rushed in. He hurriedly whispered something into his colleague’s ear, then they both disappeared into the corridor.
Worried, I turned back to the screen – and found my worst fears confirmed. Lina and Yvonne were already being followed by two security guards.
„Break-off! Break-off!“ I shouted frantically into my headset.
But of course that was completely useless at that point. It was far too late to call off the action – the two had long since been discovered. Lina was just trying to get away from two security agents, Yvonne had already been caught. She didn’t surrender to her fate, though, but defended herself fiercely against the uniformed man who twisted her arm behind her back. I didn’t expect her to have so much fighting spirit!
With full force, she kicked her tormentor in the shin so that his face contorted in pain. Relieved, I saw Yvonne break free. As she rushed away, however, the uniformed man straightened up in a flash and drew his gun. For an endless moment it hovered motionless in the air, then his finger twitched on the trigger. A split second later, Yvonne sank to the ground.
I felt the blood drain from my head. How could the action get so completely out of hand? What could I do now?
My heart was pounding up to my throat as I looked at the other monitor – the one where I had seen Lina fleeing. But I couldn’t spot her anywhere. Not on this monitor, and not on any other. She had simply disappeared.
The same had apparently happened with Shorsh. That must have been exactly the reason for the sudden return of guard dog no. 2: Apparently he had asked his colleague to help him find the escaped man.
Then something irritating happened: The light flickered like in a heavy thunderstorm, some lamps even briefly extinguished. But the whole thing lasted only a fraction of a second, then the spotlights once again enveloped the supreme army commander in a glorious glow of victory. Obviously, the hacker attack on the power station had worked – but the emergency generators had been activated immediately after the power failure.
The president’s lips suggested a knowing smile, then he continued his speech unperturbed. I almost thought I could hear a hint of mischievousness in his words as he struck the final rhetorical blow: „So let me make it unmistakably clear here and now: the window of diplomacy is closed with immediate effect! As of tomorrow, the weapons will speak, and they will continue to speak until we have taught the language of peace to those who until today only understand the language of weapons!“
I looked around: The two human fighting machines had still not returned. It was not difficult to guess what they would do with me if they found me here. Probably, it flashed through my mind, I would then be misused as proof of the alleged terror threat!
Thus, I would have ended up serving as a living justification for the very war that we had wanted to prevent with our operation. I did not feel the slightest desire to get involved in that. So I took advantage of the absence of the two guard dogs and slipped away inconspicuously.
However, the president’s voice, carried by the loudspeakers to every corner of the bunker, was something I could not escape. From everywhere the wave of rage came crashing down on my ears.
For the first time, I had the feeling that the president was not declaring war on some foreign people, but on myself. „This,“ I heard him exclaim, „is not just a war against a single country, but a war against all enemies of peace, freedom and democracy – and we will continue it until the last enemy of our culture is defeated!“
Bilder / Images: Willgard Krause: Mysteriöses Schloss / Mysterious castle (Pixabay; slightly modified); Stefan Keller: Mystisches Auge / Mystic eye (Pixabay)