Verwandlungen / Metamorphoses

Tagebuch eines Schattenlosen/2: Der Blackout/1 / Diary of a Shadowless Man/2: The Blackout/1

Heute beginnt der dritte Teil von Theos Tagebuch bei den Dunkelmännern: Der Blackout. Im Mittelpunkt wird eine waghalsige Aktion außerhalb der Klostermauern stehen.

Today begins the third part of Theo’s diary written during his stay with the Disciples of Darkness: The Blackout. The focus will be on a daring action outside the monastery walls.

Sonntag, 1. Oktober

Seit der Messe ist nichts mehr so, wie es war.
Am Tag danach hatte der Rausch zunächst noch angehalten. Da fühlte ich mich wie nach einer durchzechten Nacht, wenn der Schlafentzug eine trügerische Euphorie entfacht. Nicht nur die, mit denen ich hier lebe, waren mir auf einmal so nahe wie mein eigenes Hemd. Auch die gesamte Umgebung, die kleinsten Käfer, die entferntesten Sterne – alles war mir unendlich vertraut, als hätte ich seit Anbeginn der Zeiten Umgang damit.
Schon zwei Tage später stellte sich jedoch ein heftiger Kater ein. Plötzlich war es mir peinlich, jenen zu begegnen, denen ich mich während der Messe in einer Weise gezeigt hatte, in der weder andere noch ich selbst mich je zuvor gesehen hatten. Jeder Blick, der mich traf, ließ mich nun daran denken, dass der oder die Betreffende vielleicht unter jenen gewesen sein könnte, mit denen ich am Tag der Messe „kommuniziert“ hatte.
An den Reaktionen der anderen merkte ich, dass es nicht wenigen genauso ging wie mir. Einige erröteten, wenn ich ihnen in die Augen sah, andere blickten unter sich oder versuchten ihre Unsicherheit durch hektisches Reden zu überspielen.
Manche freilich schienen sich durch die neue Qualität, die unsere Beziehungen durch die Messe erhalten hatten, in keiner Weise beeinträchtigt zu fühlen. Ganz im Gegenteil machten sie sich sogar einen Spaß daraus, darauf durch einen koketten Augenaufschlag oder – wie Schorsch, für den alles nur ein Spiel zu sein schien – durch ein vielsagendes Lächeln anzuspielen. Wieder andere begrüßten einen nun auch betont herzlich, indem sie ihre Mitbrüder und -schwestern umarmten oder ihnen beim Händegeben mit Mittel- und Zeigefinger über die Innenfläche der Hand strichen.
Insgesamt habe freilich auch ich den Eindruck, dass diese ganz spezielle Nacht mich den anderen nähergebracht hat. Es ist, als wären wir uns wenigstens eine Zeit lang ohne die Maske des Selbstentwurfs begegnet, die ansonsten das wahre Wesen eines jeden verdeckt.
Zu meinem eigenen Erstaunen hat die Messe sogar meiner Beziehung zu Lina in keiner Weise geschadet. Anstatt so etwas wie Eifersucht zu empfinden, begegnen wir einander nun mit einer nie gekannten Offenheit. Unsere Liebe ist jetzt völlig frei von Befriedigungsgier, ein rein körpersprachlicher Dialog, der die Wörtersprache ergänzt und weiterführt.
Auch meine Stellung in der Gruppe hat sich durch die Messe deutlich verändert. Für Novizen scheint sie in der Tat so eine Art Aufnahmeritus zu sein. Erst wer einmal daran teilgenommen hat, wird zu einem echten Teil der Gemeinschaft.
Heute hat mich sogar George mal wieder zu einer Privataudienz gebeten. Sie wolle etwas mit mir besprechen, hat sie mir zugeraunt, natürlich ohne ins Detail zu gehen.
Typisch George! Sie liebt es einfach, sich in den Schleier des Geheimnisvollen zu hüllen. Und tatsächlich kann ich das Treffen nun vor Neugier kaum erwarten!

English Version

Metamorphoses

Sunday, October 1

Since the worship service, nothing has been the same.
The day after, the exhilaration had still persisted. I felt like after a night of drinking, when sleep deprivation ignites a deceptive euphoria. Not only those I live with here were suddenly as close to me as my own shirt. Even the entire environment, the smallest bugs, the most distant stars – everything was infinitely familiar to me, as if I had been dealing with it since the beginning of time.
Only two days later, however, a severe hangover set in. Suddenly it embarrassed me to meet those I had revealed myself to during the Mass in a way that neither others nor myself had ever seen me before. Every look I met now made me think that the person in question might have been among those with whom I had „communicated“ on the day of the worship service.
The reactions of the others showed me that quite a few felt the same way. Some blushed when I caught their eyes, others looked down or tried to cover up their insecurity by talking frantically.
But there were also those who were not at all bothered by the new quality that the Mass had given to our relations. On the contrary, they even made fun of alluding to it with a flirtatious glance or – like Shorsh, for whom everything seemed to be just a game – with a meaningful smile. Still others greeted their „brothers and sisters“ in an emphatically cordial manner by hugging them or stroking the inside of their hands with their index and middle fingers while shaking hands.
All in all, however, I too have the impression that this very special night has brought me closer to the others. It feels as if we had met each other at least for a short while without the mask of the self-image that otherwise obscures the true nature of everyone.
To my own astonishment, the Mass has not even harmed my relationship with Lina in any way. Instead of feeling something like jealousy, we deal with each other with an openness never known before. Our love is now completely free of greed for satisfaction, a purely body-language dialogue that complements and continues the language of words.
My position in the group has also changed significantly as a result of the Mass. For novices, it seems indeed to be something like a rite of admission. Only those who have participated in it once become a real part of the community.
Today, George even invited me to a private audience. She would like to discuss something with me, she whispered in my ear, without going into details.
That’s typical George! She just loves to wrap herself in the veil of mystery. And in fact, I am so curious now that I can hardly wait for the meeting!

Bilder /Images: Stefan Keller: Maske; Augen (Pixabay)

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