Ein neuer Tag / A New Day

Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 12 / Diary of a Shadowless Man, Part 12

Sonntag/Montag, 16./17. Juli

Diese schrecklichen Alpträume … Ich dachte, ich hätte sie hinter mir gelassen. Aber ganz werde ich sie wahrscheinlich nie loswerden.
Kurz nach dem Verlust meines Schattens hatten sie mich fast jede Nacht heimgesucht. Immer war ich darin umringt von lauter Augenpaaren. Augenpaaren, die einen Kreis um mich bildeten, der immer enger wurde, bis sie sich zu einem einzigen überdimensionalen Auge vereinigten, das mich zu verschlingen drohte.
Wenn ich dann mit Herzrasen aus dem Traum hochgeschreckt bin, hatte ich noch immer den Eindruck, überall im Zimmer von fremden Augen belauert zu werden. Es war mir, als würden sie sich von außen durch die Wände brennen, um mich mit ihren Flammenblicken zu durchbohren. Den Rest der Nacht habe ich danach meistens in der Küche gesessen und stumpfsinnig die Straßenlampen angestarrt, in deren grellem Schein die Feueraugen sich in Luft auflösten.
So fühlt es sich also an, wenn der Wahnsinn einen streift, dachte ich dann, während ich mich in den frühen Morgenstunden, bei den ersten Anzeichen der Dämmerung, noch einmal zurück ins Schlafzimmer wagte.

Geschichte eines Schattenverlusts: 8. Ein neuer Tag

Ich muss gehetzt ausgesehen haben, als ich am Morgen nach meiner Nacht in Hadderstetten das Büro betrat. Es hatte mich ungeheure Überwindung gekostet, quer durch die Stadt zum Bahnhof zu ei­len und mich in den nächsten Zug nach Lumenberg zu setzen. Obwohl die Rushhour schon vorbei war, war er noch sehr gut besetzt, was mein Unwohlsein beträchtlich verstärkte. Ständig hatte ich das Gefühl, irgendetwas falsch zu machen. Mehrmals vergewisserte ich mich, die richti­ge Fahrkarte gekauft zu haben, sie im Falle einer Kontrolle rasch vorzeigen zu können und in der richtigen Wagenklasse zu sitzen.
Aber alle Eventualitäten wa­ren ja unmöglich auszuschließen. Am unangenehmsten war mir der Gedanke, jemand könnte mich in ein Gespräch verwickeln. Die Sprache erschien mir auf einmal wie ein Inselgewirr auf einem unüberschaubaren Meer. Jedes Wort war ein Fragment, das unverbunden neben all den anderen Wortsplittern lag. Es war mir unvorstellbar, die Puzzleteilchen richtig zusammensetzen zu können.
So war ich zugleich erleichtert und beunruhigt, als ich endlich unser Bü­rohaus erreichte: erleichtert, weil ich nun immerhin in eine vertraute Umgebung eintauchen konnte, und beunruhigt, weil ich mir nicht sicher war, ob das alte Vertrautheitsgefühl sich noch einstellen würde. Wie ich bald feststellen musste, war eher Letzteres der Fall. Schon vor der Stechuhr, die ungerührt meine – trotz Gleitzeit – übermäßige Verspätung dokumentierte, fühlte ich mich bloßgestellt. Auch im Lift, in der Halle, im Flur wurde ich das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden.
Ganz schlimm wurde es dann, als ich unser Großraumbüro betrat. Um zu meinem Arbeitsplatz zu gelangen, musste ich es in seiner ganzen Länge durchqueren. Obwohl ich mich so unauffällig wie möglich zu bewegen versuchte, kam ich mir doch vor wie ein Obdachloser, der quer durch einen von Kronleuchtern erhellten Saal schlurft, um mitten im Raum seinen Schlafsack auszubreiten. In Wahrheit hat mich wahrscheinlich niemand weiter beachtet. In einem Großraumbüro geht ja ständig jemand an einem vorbei.
Hinter meiner Stellwand angelangt, fuhr ich zunächst gewohnheitsmäßig den Computer hoch. In der Mailbox fand ich eine Nachricht von unserer Produktmanagerin. Sie lud für 10.30 Uhr zu einer Teambesprechung ein. Ich blickte auf die Digitaluhr am unteren Bildschirmrand: Es war schon 10.26 Uhr! Erst jetzt fiel mir auf, dass niemand aus meinem Team an seinem Platz war. Offenbar wa­ren die Kollegen alle schon unterwegs zu der Besprechung. Ich hastete sofort los. Es waren ja nur zwei Etagen bis zu den Teamräumen. Notfalls war das auch in vier Minuten zu schaffen. Auf keinen Fall wollte ich mitten in die Besprechung hineinplatzen!
War es wirklich so, dass sich an dem Tag alle vier Fahrstühle mit einer fast schon heimtückischen Langsamkeit meiner Etage näherten? Oder kam mir das nur so vor? Heute frage ich mich natür­lich, warum ich nicht die Treppe genommen habe, über die ich wahrscheinlich schneller nach oben gelangt wäre. Vielleicht habe ich es einfach deshalb nicht getan, weil das unüblich war und mich erhöhter Aufmerksamkeit ausgesetzt hätte – und ich hatte ja ohnehin schon das Gefühl, zu sehr aufzufallen.
Als ich endlich aus dem Lift ausstieg, zeigte die Digitaluhr über der Etagenanzeige bereits 10.33 Uhr an. Seit der Übernahme des Managerpostens durch Frau Zimmermann begannen die Be­sprechungen stets überpünktlich. Also hatte ich den Wettlauf gegen die Zeit doch verloren!
Meine einzige Hoffnung war jetzt, die Produktmanagerin könnte vielleicht durch einen Anruf aufgehalten worden sein. Freilich hätte die Tür dann noch offen stehen müssen. Angespannt blickte ich auf den Raum am Ende des Gangs, wo die Besprechung stattfinden sollte: Die Tür war geschlossen!
Meine Hand zitterte, als ich sie auf die Türklinke legte – was mir, der Peinlichkeit der Situation zum Trotz, dann doch als Überreaktion erschien. Eben das war es aber gerade, was mich beunruhigte.

English Version

Sunday/Monday, July 16/17

These terrible nightmares … I thought I had left them behind. But I will probably never get rid of them completely.
Shortly after the loss of my shadow, they had haunted me almost every night. I was always surrounded by pairs of eyes in them – pairs of eyes forming a circle around me that grew ever tighter, until they merged into a single oversized eye that threatened to devour me.
Every time I woke up from the nightmares with my heart racing, I still had the impression that flickering eyes were lying in wait for me all around the room. I felt as if they were burning their way through the walls from the outside to pierce me with their flaming gazes. For the rest of the night, I mostly sat in the kitchen and stared dully at the streetlights, in whose glare the eyes of fire vanished into thin air.
So this is what it feels like when madness creeps up on you, I thought then, as I ventured back into the bedroom in the early morning, at the first signs of dawn.

Story of a Shadow Loss: 8. A New Day

I must have looked rushed when I entered the office the morning after my night in Hadderstetten. It had taken me an enormous effort to hurry across town to the station and get on the next train to Lumenberg. Although rush hour was already over, it was still very crowded, which increased my discomfort considerably. I constantly had the feeling that I was doing something wrong. Several times I made sure that I had bought the right ticket, that I could show it quickly in case of an inspection and that I was in the right class.
But it was impossible to rule out all eventualities. The most unpleasant thing was the thought that someone might engage me in conversation. Language suddenly seemed to me like a jumble of islands on an immeasurable sea. Each word was a fragment lying disconnected next to all the other word splinters. It was inconceivable to me that I could put the pieces of the puzzle together correctly.
So I was both relieved and worried when I finally reached our office building: relieved because I could now move into familiar surroundings, and worried because I wasn’t sure whether the old feeling of familiarity would return. Unfortunately, I soon found out that the latter was the case. Already in front of the time clock, which impassively documented my – despite flexitime –excessive lateness, I felt exposed. In the lift, in the hall, in the corridor – everywhere I had the feeling of being watched.
It became even worse when I entered our open-plan office. To get to my workplace, I had to cross it completely. Although I tried to move as inconspicuously as possible, I felt like a homeless person who shuffles across a hall lit by chandeliers to unfold his sleeping bag in the middle of the room. In reality, probably no one paid attention to me. After all, someone is always walking past you in an open-plan office.
Once behind my partition wall, I habitually booted up the computer. In the mailbox I found a message from Ms. Zimmerman, our product manager. She invited me to a team meeting at 10.30 am. I glanced at the digital clock at the bottom of the screen: it was already 10.26! Only now did I notice that no one from my team was at their place. Obviously, all my colleagues were already on their way to the meeting. I hurried off immediately. It was only two floors to the team rooms. If necessary, it could be done in four minutes. On no account did I want to burst into the meeting after it had begun!
Was it really the case that all four lifts approached my floor that day with an almost insidious slowness? Or did it just seem so to me? Today, of course, I wonder why I didn’t take the stairs, by which I probably would have reached the team rooms more quickly. Perhaps I simply didn’t do it because it was unusual and would have exposed me to increased attention – and I had the feeling of standing out too much anyway.
When I finally got out of the lift, the digital clock above the floor display already showed 10.33 am. Since Ms. Zimmerman had taken over the manager’s post, the meetings always started on time. So I had lost the race against time after all!
Now my only hope was that the product manager might have been delayed by a phone call. In that case, however, the door would still have been open. Tensely, I looked at the room at the end of the corridor where the meeting was supposed to take place: The door was closed!
My hand trembled as I placed it on the door handle – something that, despite the embarrassment of the situation, I considered an overreaction. But that was precisely what worried me.

Bild: Pexels: Architektur (Pixabay); Free-Photos: Einfahrender Zug am Bahnhof / Train (Pixabay)

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