Der Betriebsausflug / The Company Outing

Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 4 / Diary of a Shadowless Man, Part 4

English Version

Montag, 10. Juli

Anstatt mir Notizen zu machen, habe ich das Wochenende mit lauter Nichtigkeiten verbracht. Dinge von A nach B geräumt, Staub gewischt, den ich zuvor gar nicht wahrgenommen hatte, alte Zeitungen sortiert …
Ich fliehe vor mir selbst. Ich habe Angst, denselben Ekel vor mir zu empfinden, der auch alle anderen aus meiner Nähe vertreibt. Es ist die Angst vor dem Schuss, den man auf eine elastische Wand abgibt, von wo er zurückprallt auf ei­nen selbst, mitten ins Herz.
Aber ich habe keine Wahl mehr. Ich bin allein mit mir und muss mich vor mir selbst in Acht nehmen. Entweder löse ich den Schuss ganz bewusst aus, oder er löst sich ohne mein Zutun in mir und zerstört mich von innen heraus.
Also fange ich an.

Geschichte eines Schattenverlusts:

1. Der Betriebsausflug

Alles begann in der Nacht vom 18. auf den 19. November vergangenen Jah­res. Ein Betriebsausflug hatte uns in das benachbarte Hadderstetten geführt, wo wir – wie bei solchen Anlässen üblich – am Abend in einer Gaststätte einkehrten, um den Tag in feucht-fröhlicher Stimmung zu beschließen. Wir hatten hierfür das Lamm aus­gewählt, weil ein Kollege mit einem Bruder des Wirts verwandt war und wir so erwarten durften, mit einer gewissen Zuvorkommenheit bedient zu werden.
Tat­sächlich verlief der Abend dann auch zu unser aller Zufriedenheit. Strahlte der gewölbeartige Raum an sich schon eine gemütliche Atmosphäre aus, so waren unsere Tische auch noch so postiert, dass wir ihn von unserer Ecke aus gut überschauen konnten, ohne uns dabei ins Abseits gedrängt zu fühlen. Auch das Essen war hervorragend, ganz zu schweigen von dem sorgsam zusammengestellten Weinangebot. Wir durften die Weine sogar erst probieren, ehe wir uns für eine bestimmte Sorte entschieden.
Objektiv betrachtet, hatte der Abend nichts Außergewöhnliches an sich. Der übliche Abschluss eines Betriebsausflugs eben, mit der etwas gezwungenen Fröhlichkeit am Anfang, die sich dann mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auf im­mer anzüglichere Witze und immer grelleres Gelächter zubewegt. Dennoch wird mir der Abend in besonderer Erinnerung bleiben. Schließlich waren das die letzten Stunden, die ich noch wie früher verbrin­gen konnte, als Teil des Ganzen, ein Element unter vielen anderen in einer großen Menge.
Ich will nicht behaupten, dass ich mich damals besonders wohl gefühlt hätte in meiner Haut, aber auch diese Empfindung habe ich wohl mit den meisten anderen geteilt. Im Grunde sind einem diejenigen, mit denen man bei solchen Anlässen feiert, ja völlig fremd. Trotzdem bemühen sich alle, der betrieblichen Zwangsgemeinschaft bei dieser Gelegenheit einen Anschein von Freiwilligkeit zu geben. Natürlich ist die Harmonie nur eine vordergründige, das Ganze ist nichts weiter als ein Ritual – aber es dient eben doch der Sicherung des Betriebsfriedens und erleichtert so die all­täglichen Arbeitsprozesse ungemein.
Hinzu kommt, dass ich an jenem Abend endlich mit Lina – die damals noch relativ neu in unserer Firma war – näher ins Gespräch gekommen war. Sie arbeitete zu dem Zeitpunkt schon seit einigen Wochen in meinem Team mit, doch war es mir bis dahin nie gelungen, im Umgang mit ihr über die üblichen Freundlichkeitsfloskeln und Mittagspausenwitzchen hinauszukommen. Der von Kerzen und indirekter Beleuchtung nur schwach erhellte Raum begünstigte nun aber eine gewisse Vertraulichkeit untereinander.
Gleich bei ih­rem Eintritt in den Betrieb hatte ich mich zu Lina hingezogen gefühlt. Natürlich hat dabei auch ihr Aussehen eine Rolle gespielt – ihr seidiges schwarzes Haar und ihre zarten, verletzlich wirkenden Gesichtszüge. Für mich jedoch beruhte ihre Anziehungskraft in erster Linie auf ihrer offenen, anderen zugewandten Art, die sowohl Lebenslust als auch eine gewisse geistige Neugier aus­strahlte.
Unsere Unterhaltung beim Betriebsausflug bestärkte mich noch in diesem Eindruck. Was mir besonders gefiel, waren die Leichtigkeit, mit der man mit Lina von einem Thema zum anderen überwechseln konnte, und die Unbefangenheit, mit der sie sich noch den entlegensten Fragen näherte. Bei alledem hatten wir viel zu lachen. Immer mehr trat das Geschehen um uns her in den Hintergrund. Durch eine unsichtbare Wand von den anderen getrennt, versanken wir in unserer eigenen Welt.
Im Rückblick scheint es mir fast, als hätte das Gespräch mit Lina die fol­genden Ereignisse zumindest mit beeinflusst. Aber wahrschein­lich hat doch das eine mit dem anderen nichts zu tun, und es ist purer Zufall, dass ich mich später in das Hafenviertel verirrt habe. Ich weiß auch nicht, woher dieses Bedürfnis kommt, hinter allem besondere Ursachen und Beweggründe zu vermuten. Leichter zu ertragen ist mein Schicksal dadurch ja auch nicht.

English Version

The Company Outing

Story of a Shadow Loss

Monday, July 10

Instead of taking notes, I have spent the whole weekend with all sorts of trivialities – moving things from one place to another, wiping dust that I hadn’t even noticed before, sorting old newspapers …
I flee from myself. I am afraid of feeling the same disgust for myself that drives everyone else away from me. It is the fear of the shot fired at an elastic wall, from where it bounces back at yourself, right into your heart.
But I no longer have the choice. I am alone with myself and have to beware of myself. Either I trigger the shot quite consciously or it will be released without my doing and destroy me from the inside out.
So I better get started.

Story of a Shadow Loss: 1. The Company Outing

It all began in the night from November 18 to 19 last year. As part of a company outing, we had visited the neighboring town of Hadderstetten, where – as is customary on such occasions – we stopped off at a pub in the evening to end the day in a cheerful atmosphere. The pub was chosen because one of our colleagues was related to a brother of the landlord. So we could expect to be served with a certain courtesy.
In fact, the evening proceeded to our complete satisfaction. Not only did the vaulted room itself radiate a cozy atmosphere. Additionally, our tables were arranged in such a way that we could easily overlook everything from our corner without feeling pushed to the sidelines. The food was excellent as well, not to mention the carefully selected wine list. We were even allowed to taste the wines before deciding on a particular one.
From an objective point of view, there was nothing extraordinary about the evening. It was the usual end of a company outing, with the somewhat forced cheerfulness at the beginning, which then moves with a certain inevitability towards increasingly lewd jokes and shrill laughter. Nevertheless, for me the evening was something very special. After all, it was the last time I could spend as I was used to, as part of the whole, as one element among many others in a large crowd.
I won’t claim that I felt particularly comfortable in my own skin, but even this feeling I probably shared with most of the others. Basically, those with whom we celebrate on such occasions are complete strangers to us. Despite this, everyone makes an effort to give a semblance of voluntariness to the forced company community. Of course, the harmony is only superficial, the whole thing is nothing more than a ritual – but after all, it serves to ensure peace in the workplace and thus facilitates everyday work processes immensely.
Another special thing about the evening was that I finally succeeded in talking to Lina – who was still relatively new to our company at the time. She had already been working in my team for a few weeks, but until then I had never managed to get beyond the usual friendly phrases and lunch break jokes in my conversations with her. The room, only dimly lit by candles and indirect lighting, now fostered a certain confidentiality among each other.
I had felt attracted to Lina as soon as she joined the company. Of course, her physical appearance also played a role in this – her silky black hair and her delicate, vulnerable-looking facial features. For me, however, her attraction was primarily based on her open, outgoing nature, which radiated both a love of life and a certain intellectual curiosity.
Our conversation at the company outing reinforced this impression. What particularly appealed to me was the ease with which we switched from one topic to another, and the open-mindedness with which Lina approached even the most remote questions. With all this, we had a lot to laugh. More and more, the events around us faded into the background. Separated from the others by an invisible wall, we sank into our own world.
In retrospect, it almost seems to me as if the conversation with Lina had somehow influenced the following events. But probably one thing has nothing to do with the other, and it is pure coincidence that I later got lost in the harbour district.
I wonder where this need to presume special causes and motives behind everything comes from. After all, it doesn’t make my fate any easier to bear.

Bild: Public Domain Pictures: Stadt (Pixabay); Thorsten Frenzel: Drink (Pixabay)

3 Antworten auf „Der Betriebsausflug / The Company Outing

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