Der reinigende Kelch der Dichtung

Der kolumbianische Dichter José Asunción Silva/7

José Asunción Silvas Gedicht Ars (Kunst) knüpft an die Idee einer vom Alltag abgegrenzten „poésie pure“ (reinen Dichtung) an. Es lässt sich aber auch auf spätere kritische Äußerungen des Dichters über den Literaturbetrieb seiner Zeit beziehen.

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Die Kunst

Nur mit dem Nektar reiner Gedanken,
in deren Abgrund, goldenen Perlen gleich
in einem alten Wein, die Bilder schillern,
sollt ihr den geweihten Kelch des Verses füllen.

Tränkt mit dem Tau der Musenblüten
die Tuberosen der Erinnerung, den Duft
aus morgenroter, längst vergang'ner Zeit,
der verwelkt im Winter dieser Welt!

Entzündet mit dem Funkenflug des Pegasus
ein Feuer in den Seelenwüsten,
das mit nie gekannten Düften sie belebt
und läuternd sich auf ihre Wunden legt!

José Asunción Silva: Ars; ursprünglicher Titel: Estrófas (Strophen). Erstveröffentlichung in der von José María Rivas Groot 1886 herausgegebenen Anthologie La Lira nueva. Aus: El libro de versos.In der 1990 erschienenen textkritischen Gesamtausgabe der Werke Silvas (Obra completa, 2. Aufl. 1996) findet sich das Gedicht auf S. 38. Manuskript in der Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes

Das Ideal „reiner“ Dichtung und der „verunreinigte“ Literaturbetrieb

Das erstmals 1886 veröffentlichte Gedicht lässt deutlich den Einfluss der Europareise erkennen, die Silva von 1884 bis 1886 unternommen hatte und deren Schwerpunkt in Paris lag. Das Gedicht ist erkennbar von dem sowohl in der parnassischen als auch in der symbolistischen Lyrik vertretenen Ideal einer „poésie pure“ geprägt, also einer „reinen“, von den Schlacken des Alltags losgelösten Dichtung.

Allerdings passt das Gedicht auch gut zu späteren literarturkritischen Äußerungen Silvas. So beklagt er sich in einem Brief aus dem Jahr 1894 darüber, dass die literarische Produktion zu einem großen Teil „von der Nachahmung anderer geprägt“ sei und man darin „keine einzige Zeile, keine einzige Seite“ finde, „die gelebt, gefühlt oder gedacht ist“. Die Zeitschriften seien voll von Sätzen, „die man wie Socken umdrehen kann und die dann immer noch genauso tiefgründig sind“ [1].

Der Gedanke einer „poésie pure“ wird hier noch um eine andere Komponente erweitert. Unter „reinen“ Gedanken versteht Silva offenbar auch ein Denken, das von der eigenen Erkundung der Abgründe des Lebens zeugt, anstatt sich nur zum Echo der Gedankenreisen anderer zu machen. In diesem Sinne betont er:

„Ohne ein tiefgreifendes Studium, ein Studium der Gesetze des Lebens selbst, ein Studium der Geheimnisse der Kunst, ein unermüdliches Trainieren des Geistes, das Bemühen, mehr zu verstehen, Vorurteile abzubauen, das Tiefste zu analysieren, wird ein literarisches Werk nicht das notwendige Fundament haben, um der Zeit standzuhalten.“ [3]

An erster Stelle müssen dieser Sichtweise zufolge stets das literarische Werk und die darin ausgedrückten Gedanken und Gefühle stehen, nicht aber die Personen, die die Werke in die Welt setzen. Der Literaturbetrieb ist nach Silvas Beobachtung jedoch vom Gegenteil geprägt. Es wimmle darin nur so von „parfümierten Literaten“, die „mit äußerster Schamlosigkeit und kindlicher Naivität“ „ihre Egos zur Schau stellen“ [3].

Erdbeerfarbene Sinfonien: eine Parodie poetischer Epigonalität

Eine Gruppe epigonaler Autoren, gegen die Silva besonders heftig polemisiert, bezeichnet er als „Rubén Dariacos“ [4]. Damit bezieht er sich auf den nicaraguanischen Autor Rubén Darío, der bis heute an erster Stelle genannt wird, wenn es um die Anfänge des lateinamerikanischen Modernismo geht.

Silvas Wortschöpfung führt ex negativo den ebenso raschen wie nachhaltigen literarischen Erfolg vor Augen, der Darío mit seinem 1888 erschienenen Werk Azul, einer Sammlung von Gedichten und kurzen Prosatexten, beschieden war. Viele haben daraufhin offenbar den Stil des Autors kopiert – sei es, weil sie ihn tatsächlich bewunderten, sei es, weil sie hofften, auf diese Weise ebenfalls zu literarischem Ruhm zu gelangen.

Silva kritisiert den durch Daríos Gedichte in die Literatur eingebrachten Stil als „byzantinisch“ [5], also als opulent und überladen mit Metaphern, Synästhesien und Anspielungen auf die antike Mythologie. In einer im März 1894 unter einem Pseudonym veröffentlichten Parodie mit dem bezeichnenden Titel Sinfonía color de fresa con leche (Sinfonie in Erdbeerfarbe mit Milch) karikiert er diesen Stil in der einleitenden und abschließenden Strophe mit den Worten:

"Poesie, rhythmische Fürstin!
Lausche meinen von Sternen funkelnden,
nach Myrrhe duftenden Versen,
den venusianischen Gesängen
von Sonne und Rosen und feinem Firnis,
von vielfarbigen Figuren in vielfältigsten Farbtönen!
Lass mich dir diese Rubendariaca-Geschichte erzählen
von der grünen Prinzessin und dem Pagen Abril [April],
dem blonden, zarten Pagen Abril." [6]

Silva und Rubén Darío

Indem er seine Parodie den „dekadenten Kolibris“ widmet [7], macht Silva zwar deutlich, dass seine Kritik sich in erster Linie gegen die Nachahmer von Daríos Stil richtet.  Teilweise scheint sie sich aber auch auf diesen selbst zu beziehen.

So berichtet Silva nach seiner Ankunft in Venezuela, wo er eine Stelle an der kolumbianischen Botschaft angetreten hatte, in einem Brief nicht ohne Stolz davon, dass viele seine „Verse an Rubén Darío“ auswendig zitieren könnten. Die Anfangszeile – „Rítmica reina lírica“ („Lyrik, rhythmische Königin“) – sei geradezu „Teil der Begrüßung“. Nahezu jeder, der ihm vorgestellt werde, spreche ihn darauf an [8].

Vor diesem Hintergrund ist ein Blick darauf, wie Darío selbst mit den kontroversen Reaktionen auf sein Werk umgegangen ist, aufschlussreich.

Im Vorwort zu seinen 1896 erschienenen Prosas profanas geht Darío auch auf die Frage ein, warum es in seinen Werken so viele „Prinzessinnen, Könige, imperiale Dinge, Visionen ferner oder unmöglicher Länder“ gebe. Der Hauptgrund dafür sei, dass er „das Leben und die Zeit, in der ich geboren wurde“, verabscheue. Er strebe deshalb nach einer Sprache, die dem Ideal seiner Träume gerecht werde: dem Kaiser „Halagabal“ und dessen von „Gold, Seide und Marmor“ glänzendem Hof [9].

Der Bezug auf Halagabal (Elagabal), der im Jahr 204 geboren wurde und von 218 bis zu seiner Ermordung im Jahr 222 römischer Kaiser war, zeigt, dass Silvas Charakterisierung des literarischen Stils des frühen Darío als „byzantinisch“ nicht ganz ungerechtfertigt ist. Denn das zentrale Merkmal der Herrschaft Elagabals war ja in der Tat der Versuch, durch die Verehrung des Sonnengotts orientalische Religionspraktiken in Rom einzuführen und dafür auch entsprechende Kleiderordnungen, prunkvolle Ausstattungen der Gemächer und mit ausschweifenden Festen verbundene Riten zu übernehmen.

Die schon von den Zeitgenossen als extravagant wahrgenommene Herrschaft Elagabals wurde später als Inbegriff römischer Dekadenz angesehen. In der Zeit des Fin de siècle wurde sie dagegen in der Literatur der Décadence – in einer bewussten Umkehrung dieser negativen Sichtweise – zu einem Symbol für jene verfeinerte, von den  Niederungen des Alltags abgewandte Geisteskultur stilisiert, nach der man selbst strebte. So hat auch Stefan George diesen Kaiser zum Vorbild für seinen Gedichtzyklus Algabal (1892) erwählt.

Poetologische Grundüberzeugungen von Rubén Darío

Nun hat Darío den nach seinem literarischen Erfolg an ihn herangetragenen Bitten, er solle ein eigenes Manifest verfassen, eine klare Absage erteilt. Begründet hat er diese Ablehnung damit, dass dies seinem libertären Kunstverständnis – dem Ideal einer „estética acrática“ [10] – widersprechen würde. Wenn andere seinen Stil als Modell für ihr eigenes Schreiben verstanden und entsprechend nachgeahmt haben, so ist dies also nicht Daríos Schuld.

Noch nicht einmal die verfeinerte Adaption antiker Versmaße – insbesondere des Alexandriners – für die spanische Lyrik, für die er bis heute gerühmt wird, scheint Darío als vorbildlich für andere anzusehen. Entscheidend ist für ihn vielmehr die Übereinstimmung von Rhythmus und Melodie eines Gedichts mit der jeweils ausgedrückten Idee:

„Da jedes Wort eine Seele hat, gibt es in jedem Vers – neben der verbalen Harmonie – auch eine ideale Melodie. Die Musik leitet sich oft nur von der Idee ab.“ [11]

Indem Darío so die besondere Bedeutung der Musikalität für seine Lyrik betont, bezeugt er auch die Nähe zu seinem erklärten Vorbild Paul Verlaine [12]. Denn auch dieser hatte ja dem Klang der Gedichte in seinem programmatischen Gedicht „Art poétique“ (Die Kunst des Dichtens) einen größeren Stellenwert eingeräumt als dem Festhalten an normativen Regelwerken für Versmaß und Stropheneinteilung [13].

Daríos Gedicht Venus

Daríos dichterische Ideale sind damit der Lyrik Silvas näher, als es dessen Kritik an dem mit Darío assoziierten „byzantinischen“ Stil vermuten lässt. So ist die besondere Akzentuierung des musikalischen Elements der Dichtung auch ein zentraler Bestandteil von Silvas Lyrik.

Es erscheint deshalb sinnvoll, an dieser Stelle eines jener Gedichte zu zitieren, auf die Silva sich bei seiner Kritik an Darío und seinen Epigonen bezogen haben könnte. Es handelt sich dabei um das Gedicht Venus – eines der „Sonetos aúreos“ (goldenen Sonette), die in die 1890 erschienene erweiterte Ausgabe von Azul eingefügt worden waren:

Venus

Vom Stachel der Wehmut getrieben, suchte ich Trost
in der ruhigen Kühle des Gartens. In zitterndem Glanz,
ein golden blühender Jasmin, in Ebenholz gebettet,
empfing mich am finsteren Himmel die göttliche Venus.

Im Strahlenkranz ihrer Sänfte, von unsichtbaren Schultern
getragen durch ihr grenzenloses Reich, sah ich
die Göttliche als eine Prinzessin aus dem Orient
betörend schweben durch ihr himmlisches Gemach.

"Leuchtende Königin!" rief ich ihr zu. "Lass aus ihrem Kokon
entschwinden meine Seele zu dem Funkeln deiner Lippen
und in der Gloriole blassen Lichts, die dich umkränzt,

in ekstatischem Gebet um deine Seele kreisen!"
Doch kalt umfing die Nacht mein Herz. Aus dem Abgrund
ihres Flammenauges sah die Göttin stumm auf mich herab. [14]

Parallelen zwischen der Lyrik Daríos und Silvas

Daríos Sonett enthält einige jener Merkmale, die Silva in seinen oben erwähnten parodistischen Versen karikiert:

  • Die Venus wird zu einer orientalischen Königin stilisiert.
  • Der Himmel, in dem sie schwebt, wird als prunkvolles Gemach beschrieben, in dem die Angebetete wie eine Jasminblüte in Ebenholz eingefasst ist.
  • Die Kombination aus Jasmin und Ebenholz gibt der Szenerie einen exquisiten, über den gewöhnlichen Alltag erhabenen Anstrich.
  • Details wie die Sänfte, auf der die königliche Venus getragen wird, unterstreichen deren Weltentrücktheit.

Die gesamte „byzantinische“ Szenerie, die das Erscheinen der Venus umrahmt, dient in dem Gedicht indessen nur dazu, ihre Unerreichbarkeit für das lyrische Ich zu unterstreichen. Die Bezugnahme auf eine antike Gottheit bedeutet hier denn auch nicht, dass Darío sich in der Tradition der parnassischen „poésie objective“ bewegt. Vielmehr ist das lyrische Ich mit seinen Sehnsüchten und Ängsten in dem Gedicht durchgehend präsent. Auch in dieser Hinsicht folgt Darío ganz der Linie Paul Verlaines, der sich in analoger Weise von der parnassischen Poetologie abgegrenzt hatte.

So mag Daríos Gedicht zwar in seiner Bildsprache Parallelen zu der antikisierenden parnassischen Lyrik aufweisen. Die Tonlage erinnert jedoch eher an romantische Gedichte. Dem entspricht auch der von dem lyrischen Ich geäußerte Wunsch, die himmlische Königin möge seine Seele aus dem „Kokon“ ihrer irdischen Existenz befreien und zu ihr fliegen lassen. Dies ist eine deutliche Parallele zu den Schlussversen des berühmten Mondnacht-Gedichts von Joseph von Eichendorff.

Allerdings gibt es hier einen bedeutsamen Unterschied. Während bei Eichendorff die Seele am Ende tatsächlich „durch die stillen Lande“ fliegt, „als flöge sie nach Haus“ [15], wird dem lyrischen Ich in Daríos Gedicht diese Erlösung versagt. Hierin zeigt sich der Abgrund der Desillusionierung, der die Romantik von der Literatur des Fin de siècle trennt.

Daraus ergibt sich auch eine inhaltliche Nähe zu der Lyrik Silvas, die von einer ebensolchen Desillusionierung durchzogen ist. Das Gedicht La respuesta de la tierra (Die Antwort der Erde), in dem ein Dialog zwischen Dichter und Erde mit dem gleichgültigen Schweigen von Letzterer endet, weist sogar in seiner Grundstruktur eine Parallele zu Daríos Gedicht auf. Darauf wird in einem späteren Beitrag dieser Reihe noch näher eingegangen werden.

Nachweise

[1]    José Asunción Silva: Brief an Baldomero Sanin Cano vom 7. Oktober 1894. In: Silva, Obras completas (Sämtliche Werke, PDF), herausgegeben von Alberto Miramón und Camilo de Brigard Silva,  S. 376 – 385 (hier S. 378). Bogotá 1965: Banco de la República.

[2]    Silva, Brief an Pablo Emilio Coll vom 1. September 1895. In: Ebd., S. 385 – 387 (hier S. 386).

[3]    Silva, Brief an Baldomero Sanin Cano (s. Anm. 1), S. 377.

[4]    Vgl. u.a. ebd. S. 378.

[5]    Ebd.

[6]    José Asunción Silva: Sinfonía color de fresa con leche (Sinfonie in Erdbeerfarbe mit Milch); Erstveröffentlichung am 6. März 1894 in der Zeitschrift El Heraldo in Bogotá unter dem Pseudonym „Benjamín Bibelot Ramírez“. In: Obra completa (Das Gesamtwerk). Textkritische Ausgabe, herausgegeben von Héctor H. Orjuela (1990), S. 118 f. Madrid u.a. 2. Aufl. 1996: ALLCA XX / Universidad de Costa Rica (Colección Archivos de la Literatura).

[7]    Ebd.

[8]    Silva, Brief an seine Mutter und seine Schwester (Vicenta Gómez de Silva und Julia Silva) vom 21. August 1894. In: Obras completas (s. Anm. 1), S. 366 – 369 (hier S. 368).

[9]    Darío, Rubén: Palabras liminares (Einleitende Worte): In: Ders.: Prosas profanas y otros poemas (Profana Prosa/Prosagedichte und andere Gedichte; 1896). , S. 47 – 50 (hier S. 48 f.). Paris 1915: Bouret (PDF, abrufbar in der Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes, cervantesvirtual.com).

[10]  Ebd., S. 47.

[11]  Ebd., S. 49.

[12]  Der „Reihe berühmter Porträts“ spanischer Schriftsteller, die ihm „der spanische Großvater mit dem weißen Bart“ zeigt, stellt Darío Autoren der Weltliteratur wie Shakespeare, Dante und Victor Hugo gegenüber, um die Aufzählung dann mit jenem Dichter zu beenden, der seinem „Inneren“ besonders nahe ist: Paul Verlaine (vgl. ebd., S. 49).

[13]  Vgl.Verlaine, Paul: Art poétique (Die Kunst des Dichtens; 1874). In: Ders.: Oeuvres complètes (Sämtliche Werke), Bd. 1, S. 311 f. Paris 1902: Vanier Erstveröffentlichung in Paris Moderne (1882); in einer Gedichtsammlung Verlaines zuerst in Ja­dis et naguère, (1884).

[14]  Darío, Rubén: Venus. In: Ders.: Azul… (erweiterte Ausgabe 1890), S. 136. Providencia, Santiago de Chile 2013: Pequeño Dios Editores (PDF).

[15]  Eichendorff, Joseph von: Mondnacht (1835; Erstveröffentlichung 1837). In: Ders.: Sämtliche Werke, Band 1, S. 604. Leipzig 1864: Voigt & Günther.

Bild: Arthur Rackham: Jungfrau mit Heiligem Gral; Illustration zu Pollard, Alfred W.: The Romance of King Arthur and His Knights of the Round Table [Die Romanze von König Artus und seinen Rittern der Tafelrunde], 1917 (Wikimedia commons)

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