Der kolumbianische Dichter José Asunción Silva/4
Die Gedichte von José Asunción Silva weisen oft einen melancholischen Grundton auf. Dies hat persönliche Gründe, hängt aber auch mit der Fin-de-siècle-Stimmung seiner Zeit zusammen.
Das Verwelkte
Wenn über die moosigen Füße der Bäume
der Herbst seine feuchtkalten Netze wirft,
wenn sich der Totentanz der blutenden Blätter
im Nebelgewand des Novembers verliert,
wenn der entschwundene Sommer das Land
mit einem Leichentuch überzieht,
schwebt in der verschwimmenden Landschaft
die Erinnerung an das, was war und nicht mehr ist.
Wenn zwischen Spinnweben vergessener Regale
verblasste Briefe aus dem Dunkel leuchten,
wenn Blumenleichen dir von Leidenschaft erzählen
und von verwelkten Traumgespinsten,
wenn wehmütig aus dunklen Schubladen
dich die Ahnung einer alten Sehnsucht anhaucht,
schwebt in dem staubigen Dunst des Zimmers
die Erinnerung an das, was war und nicht mehr ist.
Wenn in den umflorten Blicken
Liebender der Mai verblasst,
wenn aus dem Verlies der Einsamkeit
kein Duft mehr künftige Tage bestäubt,
wenn lähmend sich die Trauer
um die wunden Träumerherzen legt,
welkt in der dunklen Seelenkammer
die Erinnerung an das, was war und nicht mehr ist.
José Asunción Silva: Muertos Erstveröffentlichung 1897 in El Rayo X, Bogotá. Aus: El libro de versos In der 1990 erschienenen textkritischen Gesamtausgabe der Werke Silvas (Obra completa, 2. Aufl. 1996) findet sich das Gedicht auf S. 56.
Romantischer Weltschmerz und Fin-de-siècle-Melancholie
Keine Frage: Das Gedicht Muertos von José Asunción Silva zeugt nicht gerade von einer positiven Lebenseinstellung. Die Nebeldecke des Novembers frisst sich in das Leben hinein und überzieht alles mit dem bitteren Geruch der Melancholie. Daraus ergibt sich der Eindruck eines verwelkten Lebens, in dem das Glück nur noch als blasse Erinnerung fortlebt.
Dieser Gefühlskomplex lässt zunächst an die Zeit der Romantik denken, in deren Lyrik das Glück ja bekanntlich ebenfalls mit Vorliebe dort verortet wurde, wo man selbst nicht war [1]. Allerdings befinden wir uns mit Silvas Gedicht in einer anderen Zeit – dem „Fin de siècle“. „Jahrhundertende“ und Endzeitstimmungen hängen dabei eng miteinander zusammen.
Die österreichische Schriftstellerin und Essayistin Marie Herzfeld (1855 – 1890) hat die spezielle Fin-de-siècle-Stimmung einmal auf eine Art psychische Erschöpfung zurückgeführt, die durch den Veränderungsstrudel des 19. Jahrhunderts bewirkt worden sei. Das Resultat sei eine existenzielle Verunsicherung – die Haltung eines Menschen, der sich in seinem Leben nicht mehr zurechtfinde:
„Denn mit der Wirklichkeit wird er nicht fertig. Seinen Gott hat er zertrümmert, die Natur entseelt, jeden Enthusiasmus weggezweifelt, alle Illusionen durchlöchert. Er hat die Sargdeckel des Vergangenen gehoben, der Zukunft alle Schleier weggerissen und doch nichts gefunden; – aus dem Dunkel kommt er, ins Dunkel geht er. Er ist in die Uferlosigkeit der Gegenwart gesetzt – einsam und herzenswund in eine Welt der Tatsachen und der starren Notwendigkeit und weiß nicht, was mit sich beginnen.“ [2]
Existenzielles Unbehaustsein
An die Stelle des unbestimmten Weltschmerzes der Romantik tritt demnach in der Zeit des Fin de siècle ein Gefühl des existenziellen Unbehaustseins: das Gefühl, im eigenen Leben nicht mehr zu Hause zu sein. Was bislang vertraut und selbstverständlich war, erscheint auf einmal fremd und unheimlich. So wird das ganz normale Leben zu einem Horrorfilm.
Die Gefühlslage, die sich daraus ergibt, hat José Asunción Silva in seinem Roman De sobremesa eindrücklich beschrieben. Darin berichtet der Protagonist von dem Grauen („terror“), das er zuweilen „vor allem“ empfinde:
„Vor der Dunkelheit des Zimmers, in dem ich schlaflos die Nacht verbringe und eine Prozession unheilvoller Erscheinungen vorbeiziehen sehe; Grauen vor den Menschenmengen, die von nichts als ihrer Sucht nach Gold und Vergnügen angetrieben werden; Grauen vor den heiteren und hellen Landschaften, die den guten Seelen zulächeln; Grauen vor der Kunst, die die vielfältigen Facetten des Lebens wie durch einen finsteren Zauber in ätherische Posen bannt; Grauen vor der finsteren Nacht, in der uns die Unendlichkeit aus Millionen von flackernden Augen anstarrt; Grauen davor, dass ich sterben könnte, während ich mich lebendig fühle – und in all diesen Stunden des Grauens ertönen immer wieder lächerliche Sätze in meinem Kopf, die mir einen Schauer über den Rücken jagen, Sätze wie: „Was wäre, wenn es doch einen Gott gäbe? Sind wir armen Menschen wirklich allein auf der Welt?“ [3]
Rehabilitierung der Décadence-Literatur
Das Gefühl, in seinem alten Leben nicht mehr zu Hause zu sein, muss nun allerdings nicht notwendigerweise negativ konnotiert sein. Man kann in einem solchen Fall, bildlich gesprochen, auch in das Haus eines neuen Lebens umziehen – oder man kann das Alte, das man bislang stets als selbstverständlich hingenommen hat, auf eine neue Weise wahrnehmen und sich so wieder neu in dem alten Leben beheimaten.
Eben diese verfeinerte Sensibilität gegenüber der Welt und der eigenen Existenz ist denn auch eines der zentralen Kennzeichen der Décadence-Literatur, die in der Epoche des Fin de siècle aufblühte. Der anfangs negativ gemeinte, mit der Verfallsperiode des Römischen Reichs verbundene Begriff der „Décadence“ erfuhr denn auch schon früh eine positive Umdeutung.
Bereits Charles Baudelaire assoziierte mit Zeiten der „décadence“, in denen das Alte verfällt und dem Neuen Platz machen muss, eine verfeinerte Geisteskultur, die Gedichte oder Romane „mit überraschendem Aufbau (…), mit einem herrlich ausgeschmückten Stil und einer meisterhaften Handhabung von Sprache und Prosodie“ hervorbringen könne [4].
Décadence-Literatur und das Ideal des „l’art pour l’art“
Auch der französische Schriftsteller Paul Bourget (1852 – 1935), den José Asunción Silva bei seinem Parisaufenthalt Mitte der 1880er Jahre kennengelernt hat, stellte 1883 in seiner Theorie der Décadence die abwertende Betrachtung der Spätphase des Römischen Reichs in Frage. Er sieht in ihr eher den Ausdruck einer Konzentration der damaligen römischen Gesellschaft auf geistige Werte. Ihre als Verfallsmerkmal bewertete Unfähigkeit, sich gegen die anstürmenden Barbarenheere zu verteidigen, deutet er gerade als Nachweis einer höheren Entwicklungsstufe, indem er fragt:
„Ist es nicht stets das unumgängliche Schicksal alles Edlen und Seltenen, der Rohheit weichen zu müssen?“ [5]
Auch das Ideal des „l’art pour l’art“ leitet Bourget unmittelbar aus der verfeinerten Kultur ab, wie sie seiner Auffassung nach für Zeiten der „décadence“ charakteristisch ist. Die Emanzipation der Kunst von unmittelbaren Nützlichkeitserwägungen ist für ihn gerade ein Zeichen für eine besonders ausgereifte Kunst, die ihre Ziele aus sich selbst ableitet, anstatt sich von äußeren Interessen leiten zu lassen.
Die Verweigerung gegenüber einer Orientierung an Markt und Massengeschmack verteidigt Bourget darüber hinaus auch mit dem Argument, dass in den Zeiten einer inflationären Buchproduktion das „überlastete Gedächtnis der Menschen“ ohnehin bald „seine Zahlungsunfähigkeit“ erklären müsse. Für den Schriftsteller ergebe sich hieraus eine zusätzliche Rechtfertigung für die ausschließliche Orientierung an „seinem intellektuellen Vergnügen“:
„Warum sollten wir uns nicht an unseren Sonderbarkeiten des Ideals und der Form erfreuen, wenn es keine weiteren Folgen hat, als dass wir mit ihnen in einer selbstgewählten Einsamkeit, ohne Besucher, leben? Diejenigen, welche dennoch den Weg zu uns finden, sind doch unsere wahren Brüder – und warum sollte man Fremden das opfern, was wir als unser Eigenstes, Persönlichstes in uns hegen?“ [6]
Radikaler Rückzug aus der Gesellschaft
Beide oben genannten Aspekte des Fin-de-siècle-Gefühls können nun allerdings in einem Punkt dieselbe Konsequenz zeitigen: Sie können jeweils zu einem radikalen Rückzug aus der Gesellschaft führen. Für das von Silva beschriebene umfassende „Grauen“ vor einem Leben, in dem man sich nicht mehr zu Hause fühlt, gilt dies ebenso wie für die von Bourget beschriebene elitäre Pflege einer Kunst, die sich nicht mehr um ihre Wirkung auf die breite Masse schert.
Das extremste Beispiel für diesen Rückzug aus der Gesellschaft beschreibt der französische Schriftsteller Joris-Karl Huysmans in seinem Roman À rebours (1884), der in der deutschen Übersetzung unter dem Titel „Gegen den Strich“ erschienen ist. Darin pflegt der Protagonist als letzter Spross eines alten Adelsgeschlechts ein exquisites Leben in einem abgelegenen, ganz nach seinen extravaganten Wünschen ausgestatteten Haus.
Die Natur duldet er nur dort, wo er sie in Sammlungen exotischer Pflanzen unter Kontrolle halten kann. Ansonsten bewegt er sich in einer Welt der Kunst, die er mit seltenen Werken berühmter Maler und speziell für ihn gestalteten Schmuckausgaben einzelner Bücher ausstaffiert. Am Ende verkümmert er in seiner künstlichen Welt wie eine Pflanze ohne Wasser und muss von seinem Arzt gezwungen werden, sich wieder in die wirkliche Welt hinauszubegeben, um sein Leben zu retten.
Das lebensgefährliche Lebensideal von Décadence-Protagonisten
Die Grundkonstellation von Silvas Roman De sobremesa weist – wie u.a. Klaus Meyer-Minnemann in einer ausführlichen Analyse des Romans herausgearbeitet hat [7] – einige Gemeinsamkeiten mit der von Huysmans‘ Werk auf. Auch Silvas Protagonist lebt zurückgezogen „zwischen den Kunstschätzen und dem luxuriösen Komfort seines Hauses“ [8] und duldet nur wenige ausgewählte Freunde um sich. Ausdrücklich grenzt er sich damit vom „bürgerlichen Leben“ ab, dem er „Emotionen und Neugier“ abspricht.
Was andere als „das wirkliche Leben“ ansehen, ist für ihn gleichbedeutend mit einer Sicht auf die Welt, bei der man lebe „wie in einem Gefängnis, das nur ein einziges Fenster hat, das immer auf denselben Horizont hinausgeht“. Deshalb würden „die meisten Menschen sterben, ohne gelebt zu haben, ohne mehr als einen vagen Eindruck von Müdigkeit mitzunehmen“ [9].
Seinen Wunsch, wirklich „das Leben zu leben, alles zu fühlen, was man fühlen kann, alles zu wissen, was man wissen kann, alles zu können, was man können kann“ [10], versucht Silvas Protagonist sich nun allerdings paradoxerweise gerade durch eine radikale Abgeschiedenheit, eine Abspaltung von der äußeren Welt, zu erfüllen. Das „wirkliche Leben“ nur in sich selbst zu suchen, kann jedoch ebenso in eine Sackgasse führen wie das selbstvergessene Versinken in den Fluten des äußeren Lebens.
Vor allem kann der Widerspruch, das Leben in seiner ganzen Fülle erfahren zu wollen, ohne am äußeren Leben teilzuhaben, ebenfalls vom Leben wegführen. Er kann – was in dem Roman auch angedeutet wird [11] – die Neigung zum Drogenrausch begünstigen, als Surrogat für den äußeren Rausch, und er kann am Ende zu einer inneren Spannung führen, die auf Dauer kaum auszuhalten ist.
Vor diesem Hintergrund hat der französische Autor Barbey d’Aurevilly (1808 – 1889) in einer Besprechung des Romans von Huysmans 1884 auch festgestellt, diesem bleibe danach „nur noch die Wahl zwischen der Mündung einer Pistole und den Füßen des Kreuzes“ [12].
Huysmans hat das Kreuz gewählt: Er ist später als Laienbruder in ein Kloster eingetreten. Silva dagegen hat sich für die Pistole entschieden.
Nachweise
[1] So der abschließende Vers in Franz Schuberts – auf dem Gedicht Des Fremdlings Abendlied von Georg Philipp Schmidt von Lübeck basierendem – Lied Der Wanderer: „Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück!“ Die verschiedenen Fassungen von Gedicht- und Liedtext finden sich mit Angaben zur Entstehungs- und Editionsgeschichte sowie einer Liedfassung von Peter Schöne (Gesang) und Boris Cepeda (Klavier) in: Schöne, Peter: Der Wanderer – Dritte Fassung. D 489 – Opus 4 / 1; schubertlied.de.
[3] José Asunción Silva: De sobremesa (1925), S. 147 f. Bogotá 2020: Instituto distrital des las artes (IDARTES), Libro al viento (PDF).
[4] Baudelaire, Charles: Notes nouvelles sur Edgar [Allan] Poe (Neue Anmerkungen zu Edgar Allan Poe; 1857), Abschnitt 1. Vorwort zu Poe, Edgar [Allan]: Nouvelles histoires extraordinaires [19 Seiten in vier Abschnitten]. Paris 1884: Quantin.
[5] Bourget, Paul: Theorie der Dekadenz (1883; Teil 3 eines Essays über Charles Baudelaire, in Buchform zuerst im Rahmen von Bourgets Essais de psychologie contemporaine veröffentlicht). In: Asholt, Wolfgang / Fähnders, Wolfgang: Fin de siècle. Erzählungen, Gedichte, Essays, S. 170 – 174 (hier S. 173). Stuttgart 1993: Reclam; Original mit deutscher Übersetzung von Rudolf Brandmeyer: Théorie de la décadence / Theorie der Dekadenz.
[6] Ebd., S. 174.
[7] Meyer-Minnemann, Klaus: „De sobremesa“ de José Asunción Silva.La llegada de la novela del „fin de siècle“ a la literatura hispanoamericana [Die Ankunft des Fin-d-siècle-Romans in der hispanoamerikanischen Literatur]; Biblioteca Virtual de Cervantes (cervantesvirtual.com), 2010.
[8] Silva: De sobremesa (s. Anm. 3), S. 24.
[9] Ebd., S. 25.
[10] Ebd.
[11] Vgl. ebd., S. 148.
[12] Huysmans zitiert die Diagnose von Barbey d’Aurevilly selbst in einem späteren, rückblickenden Vorwort zu seinem Roman; vgl. Huysmans, Joris-Karl: Gegen den Strich (1884). Mit einer Einführung von Robert Baldick und einem Essay von Paul Valéry; ins Deutsche übersetzt von Hans Jacob, S. 52. Zürich 2007: Diogenes.
Bild: Nándor Katona (1864 – 1932): Früher Abend (1900); Bratislawa, Slowakische Nationalgalerie (Wikimedia commons)