Der kolumbianische Dichter José Asunción Silva/3
In einem Gedicht über Lazarus, das von einem ähnlichen Werk von Léon Dierx angeregt ist, charakterisiert José Asunción Silva den Wiederauferstandenen als lebenden Toten, der sich nicht mehr in der Welt zurechtfindet. Darin spiegelt sich auch Silvas eigene tragische Existenz wider.
Lazarus
"Steh auf, Lazarus", rief ihm der Erlöser zu,
und in dem finsteren Grab
hüllte sich der Tote aus dem Leichentuch,
versuchte mit zitternden Schritten zu gehen,
roch, tastete, schaute, spürte erzitternd die Luft,
stieß einen Schrei aus
und weinte vor Freude.
Vier Monde danach, in den Schatten
der finsteren Dämmerung, in der Stille
einer dunklen Stunde an einem dunklen Ort,
zwischen den Gräbern eines alten Friedhofs,
weinte Lazarus vor Einsamkeit
und beneidete die Toten.
José Asunción Silva: Lázaro (1894). Aus: El libro de versos. In der 1990 erschienenen textkritischen Gesamtausgabe der Werke Silvas (Obra completa, 2. Aufl. 1996) findet sich das Gedicht auf S. 52.
Das Gedicht Lazare von Léon Dierx als Bezugspunkt für Silvas Lázaro
Als José Asunción Silva das Gedicht Lázaro 1894 veröffentlichte, brachte ihm dies teils heftige Kritik ein. In literarischen Kreisen warf man ihm vor, dass es sich bei dem Werk um ein Plagiat handle, das auf dem gleichnamigen Gedicht (Lazare) des französischen Dichters Léon Dierx beruhte.
Dieser Vorwurf lag auch deshalb nahe, weil Silva selbst sich 1888 in seinem Essay Crítica Ligera mit dem Werk des französischen Dichterkollegen auseinandergesetzt hatte. Um genauer beurteilen zu können, ob und in welcher Weise Silvas Lázaro sich auf Dierx‘ Lazare bezieht, erscheint es indessen sinnvoll, zunächst einen Blick auf das entsprechende Gedicht von Dierx zu werfen:
Lazarus
Von der Stimme des Erlösers geweckt,
erhob Lazarus sich bleich aus tiefer Nacht.
In den finsteren Fesseln seines Leichentuchs
taumelte er ernst und einsam in die Welt.
Das sklavische Gewimmel in der großen Stadt
brandete um seine bangen Schritte,
um seine wunden Blicke auf der Suche
nach dem Einen, den er nicht mehr fand.
Von der Ewigkeit geblendet, fand sein Auge
keinen Anker in dem Labyrinth der Welt.
Umkränzt von der blassen Krone der Toten,
blieb er in seiner Dunkelheit gefangen.
Schwankend wie ein Neugebor'nes, trostlos
wie eine Beute des Wahnsinns, teilte sich vor ihm
das Meer der Menge, wo er ziellos trieb
wie einer, der in ungesunder Luft erstickt.
Versunken in seinem unaussprechlichen Traum,
blieb fremd ihm das schändliche Summen der Welt.
Eingehüllt in sein erschütterndes Geheimnis,
kam und ging er, schweigend, heimatlos.
Zuweilen, zitternd wie im Fieberwahn,
formten seine Hände stumme Worte.
Doch fest verschloss ein unsichtbarer Finger
hinter seinem Lippentor das unsagbare Morgenwort.
Mit welcher Ehrfurcht sahen einst in seiner Heimat
Jung und Alt auf diesen ernsten Schweiger!
Wie mieden selbst die Tapfersten den Blick
in den dunklen Abgrund dieser Augen!
Keine Worte gibt es, Lazarus! für deine Einsamkeit,
für das Verlassen deiner Liebsten in den Gräbern,
dein ruheloses Wandeln durch die fremde Welt,
das Leichentuch um deine Hüften wie ein Bußgewand.
Blasser Auferstandener! Das Nagen der Würmer im Ohr:
Wie sollst du versinken im Sorgenmeer der Zeit,
Traumwandelnder du, der das geheimste Wissen
mit sich trägt durch die nach Wundern gierende Welt?
Wenn auch der Tag dem Tod seine Beute entriss:
Du wandelst doch weiter durch die Nacht.
Als Schattenwesen schleichst du still
und unberührt durch den Tollwutrausch der Völker.
Keine Spuren hinterlässt in anderen
wie in dir dein nachtgeborenes Leben.
Nur die erneute Umarmung der Nacht
kann deine Seele wieder öffnen für den Himmel.
Wie oft schon sah man, wenn die Schatten steigen
aus der Dämmerung, dich mit flehentlichen Armen,
weit entfernt von allen Lebenden, Engel anrufen
im leuchtenden Blut des Horizonts!
Wie oft schon sah man dich im Schoß des Grases
streifen um die steinernen Betten der Toten,
dich, den Einsamsten, der kummervoll beneidet
diese Ruhe, die kein Ruf eines Erlösers stört.
Léon Dierx (1838 – 1912): Lazare aus: Les lèvres closes (Geschlossene Lippen), S. 25 – 28. Paris 1867: Lemerre.
Vergleich der Lazarus-Gedichte von Silva und Dierx
Bei einem Vergleich der beiden Lazarus-Gedichte fällt zunächst auf, dass das Werk von Silva deutlich kürzer ist als das von Dierx. Von einem reinen Plagiat kann demnach nicht gesprochen werden.
Unverkennbar ist allerdings, dass Silva sich sowohl inhaltlich als auch in Bezug auf die Motivik eng an das Gedicht von Dierx anlehnt. Dies gilt insbesondere für die Entwurzelung des Lazarus und dessen daraus abgeleiteten „Neid“ auf die ungestörte Ruhe der Toten.
Der größte Unterschied zwischen den beiden Gedichten besteht darin, dass Silva eingangs die spontane Freude des Lazarus über seine Wiederauferstehung thematisiert – der er dann in einem harten Schnitt in der zweiten Strophe die spätere Ernüchterung gegenüberstellt. Indem so die Emotionen stärker in den Vordergrund gestellt werden, grenzt sich Silva auch von der formalen Strenge des Gedichts von Dierx ab, das hiermit – ebenso wie mit dem biblischen Stoff – ganz auf der Linie des parnassischen Ideals einer „poésie objective“ bleibt. Dierx hat sein Gedicht denn auch dem Dichterkollegen Leconte de Lisle gewidmet, der diese Formel geprägt hat.
Gerade die Kürze seines Gedichts ermöglicht es Silva zudem, den inneren Konflikt des Wiederauferstandenen in pointierter Form zum Ausdruck zu bringen – einen Konflikt, der sich letztlich unmittelbar aus der Logik des Christentums selbst ergibt. Denn das irdische Leben mag zwar ein Geschenk Gottes sein. Es kann jedoch nur so lange als solches empfunden werden, wie die Seele nicht zu ihrem Schöpfer heimgefunden hat. Ruht sie erst einmal im himmlischen Hafen Gottes, so kann ihr das irdische Leben mit seiner Unruhe und seinem ewigen Unfrieden nur als Jammertal erscheinen.
Lazarus als Spiegelbild der Künstlerexistenz
Nun war Silva sicher kein leidenschaftlicher Katholik. Es muss deshalb etwas anderes sein, was ihn an der Lazarus-Thematik – und ihrer Bearbeitung durch Léon Dierx – angezogen hat. Offenbar hat er in dem Topos des lebenden Toten auch einen Spiegel seiner eigenen Existenz gesehen.
Grundsätzlich sind Fremdheitsgefühle, wie die Gedichte von Silva und Dierx sie anhand der Lazarus-Gestalt thematisieren, allgemein ein konstitutives Element der Künstlerexistenz. Dies gilt selbst dann, wenn die entsprechenden Persönlichkeiten gut in die Gesellschaft integriert sind oder sogar eine bedeutende Rolle im öffentlichen Leben spielen – nachzulesen etwa bei Thomas Mann, der sich stets aktiv in das gesellschaftliche und politische Geschehen eingemischt hat.
Silva allerdings, der bei seinem Tod noch kein einziges Buch veröffentlicht hatte und als Geschäftsmann gescheitert war, dürfte die Fremdheitsgefühle deutlich stärker empfunden haben. Sowohl im bürgerlichen als auch im literarischen Leben ist er ein Außenseiter geblieben.
Es mag sein, dass sich dies mit der Zeit geändert hätte. Immerhin standen Silva bei den Redaktionsstuben der Zeitschriften Bogotás die Türen offen, er verkehrte in den literarischen Salons der Hauptstadt, und er hatte Aussicht auf eine vielversprechende Karriere als Diplomat.
Dass er selbst den Faden dieser Entwicklung durchtrennte und sich das Leben nahm, hatte deshalb nicht nur biographische Ursachen. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch die Fin-de-siècle-Melancholie, die Silva ausführlich in seinem Roman De sobremesa beschrieben hat. Darauf wird im folgenden Beitrag dieser Reihe noch näher einzugehen sein.
Bild: Mauricio García Vega (Mexiko, geb. 1944): Die Auferstehung des Lazarus (Wikimedia commons)