Der kolumbianische Dichter José Ascunción Silva/1
Das kurze Leben des kolumbianischen Dichters José Asunción Silva (1865 – 1896) war von zahlreichen Schicksalsschlägen geprägt. Dies bezeugt auch eines seiner „Nocturnos“ (Nachtstücke), in dem sich der frühe Tod seiner Schwester Elvira widerspiegelt.
Nocturno III
In einer Nacht, in der
geheime Düfte und die Melodien
unsichtbarer Flügel uns umflüsterten,
in einer Nacht, in der
im feuchten Hochzeitsschatten
Glühwürmchen ihre Sterne woben,
umgab dich eine Wolke dunkler Ahnungen.
Ein schweigendes Gespenst,
so ließest du an meiner Seite
deinen Herzschlag sich mit meinem einen.
In meinen Adern spürte ich pulsieren
den bittersüßen Nektar deiner Seele,
derweil mit seinen dürren Fingern
der Vollmond durch die Wolken griff
und auf die fahle, wegelose Ebene
das Menetekel uns'rer Schatten warf,
das Menetekel eines einzigen,
unendlich langen,
räuberischen Schattens:
des Schattens deines Todes.
Einsam nun,
in einer Nacht aus Hundegebell
und heiseren Froschkonzerten,
wandle ich auf unseren Wegen,
getrennt von dir durch denselben Schatten,
der einst uns einte in dunkler Ahnung:
den Schatten der ewigen Nacht,
der unüberbrückbaren Ferne,
des undurchdringlichen Schweigens.
Im kalten Mondlicht zittert meine Seele,
zittert wie in jener Nacht der finst'ren,
endgültigen Kälte, in jener Nacht,
in der zu bleichem Marmor erstarrten
deine Wangen, deine Hände, deine Schläfen,
eins mit dem fahlen Tuch auf deinem Leib.
Der eisige Hauch des Nichts
weht aus deinem Grab mich an,
während verlassen mein Schatten
über die mondfahle Ebene schwebt.
Auf einmal aber umflüstern mich wieder
geheime Düfte und die Melodien
unsichtbarer Flügel, wie in jener Nacht, in der
im feuchten Hochzeitsschatten
Glühwürmchen ihre Sterne woben.
Und dein Schatten schwebt heran,
schwebt heran, um meinem sich zu einen.
Wieder verwachsen wir zu einem Schatten
und wandeln auf den Flügeln der Erinnerung
durch das von Mondtränen betupfte Tal.
José Asunción Silva: Nocturno III (Una noche); Dezember 1892 Erstveröffentlichung 1894 in der Zeitschrift Lectura Para Todos. Manuskript in der Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes. In der 1990 erschienenen textkritischen Gesamtausgabe der Werke Silvas (Obra completa, 2. Aufl. 1996) findet sich das Gedicht auf S. 32 f.
Der Tod als ständiger Wegbegleiter des Dichters
Bei dem Nocturno handelt es sich um ein Gedicht aus der Reihe der „Nachtstücke“ des kolumbianischen Dichters José Asunción Silva, von denen drei zu einer Trilogie zusammengefasst sind. Als sein berühmtestes Gedicht fungiert es nicht nur als eine Art zeitübergreifende Visitenkarte des Autors, sondern wirft auch ein Schlaglicht auf sein Leben.
Silva, 1865 in Bogotà geboren, wurde schon früh mit dem Tod konfrontiert. Drei Geschwister von ihm sind bereits während der Kindheit gestorben. Auch einen seiner besten Freunde und einen seiner Lehrer hat Silva in jungen Jahren verloren. Am härtesten getroffen hat ihn allerdings der Tod seiner Schwester Elvira, die 1891 mit Anfang 20 an einer Bauchfellentzündung starb.
Der Tod der geliebten Schwester, die für Silva eine enge Vertraute und Seelenverwandte war, ist auf der biographischen Ebene wohl der wichtigste Hintergrund für das Nocturno. Allerdings ging dieses Unglück mit anderen Schicksalsschlägen für Silva einher, die sich etwa zur gleichen Zeit ereigneten.
Silvas Vater, der als Kaufmann auch selbst literarische Werke im Stil des Costumbrismo (von „costumbro“: Brauchtum) schrieb – am bekanntesten ist Tres visitas (Drei Besuche), eine Art Sittengemälde der damaligen kolumbianischen Gesellschaft –, hatte Silva bereits als 19-Jährigen zum Teilhaber seines Handelshauses gemacht. Als der Vater nur drei Jahre später starb, war Silva schon als junger Mann für die Leitung des Unternehmens verantwortlich.
Es war ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt für die Übernahme einer solchen Bürde. Denn die 1880er Jahre waren in Kolumbien eine Zeit heftiger politischer Unruhen, die zur Mitte des Jahrzehnts sogar in einen Bürgerkrieg mündeten. Um die Hintergründe dieser Auseinandersetzungen einordnen zu können, ist ein kurzer Blick in die Geschichte notwendig.
Ein Blick in die kolumbianische Geschichte
Unter der Führung von Simon Bolívar hatte die kolumbianische Unabhängigkeitsbewegung sich 1819 endgültig vom spanischen Königreich losgelöst. Im Ergebnis kam es zur Gründung der República de Colombia, die als „Großkolumbien“ neben den heutigen Staaten Venezuela, Ecuador und Panama auch Teile des heutigen Peru sowie von Guyana umfasste. Nach deren Auflösung entstand 1831 die Republik Neugranada, die im Kern aus dem heutigen Kolumbien und Panama bestand.
Die Republik Neugranada ging 1858 wiederum in die Granada-Konföderation über, aus der 1863 die Vereinigten Staaten von Kolumbien hervorgingen. Diese wurden erst 1886 in „Republik Kolumbien“ umbenannt, deren Territorium bis 1903 auch das heutige Panama umfasste.
Der kurze Überblick lässt die Konflikte erahnen, die im Zuge der Neustrukturierung der Territorien aufbrachen. Immer wieder kam es dabei zu Kriegen, blutigen Verteilungskämpfen und machtpolitischen Auseinandersetzungen. Dies galt auch innerhalb der „Vereinigten Staaten von Kolumbien“, wo einzelne Provinzen immer wieder mehr Autonomie oder sogar die Unabhängigkeit vom Zentralstaat zu erlangen versuchten.
Die Territorialfragen gingen dabei auch mit ideologischen Auseinandersetzungen einher. So bildeten sich die politischen Parteien Kolumbiens entlang der grundsätzlichen Frage, ob das Land eher föderal oder zentralistisch organisiert sein sollte. Die Liberale Partei trat für einen föderalen Staat mit größerer Unabhängigkeit der einzelnen Provinzen und einer strikten Trennung von Kirche und Staat ein. Die Konservativen plädierten dagegen für einen zentralistischen Staat katholischer Prägung.
Nachdem das Land zunächst eine stark föderal strukturierte Verfassung erhalten hatte, in der den Provinzen sogar das Recht auf die Bildung eigener Armeen zugebilligt wurde, setzten die Konservativen in mehreren Bürgerkriegen einen zentralistischen Staat durch. Dieser zeichnete sich durch eine große Machtfülle des Präsidenten, eine starke nationale Armee und eine ideelle Fundierung des Staatswesens im Katholizismus aus.
Rasche Abfolge von Schicksalsschlägen
Der Höhepunkt der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in Kolumbien fiel in die Jahre 1884/85, also in die Zeit unmittelbar vor der Übernahme der Leitung des Handelshauses der Familie durch José Asunción Silva. Sie waren eine schwere Hypothek für das Unternehmen. Denn die politischen Unruhen blieben nicht ohne Auswirkungen auf die Wirtschaft, zumal sich 1890 die gesamtwirtschaftliche Lage infolge der Baring-Krise – einer Kreditkrise rund um die New Yorker Baring-Bank, die ähnlich wie die Lehmann-Pleite zu Beginn des 21. Jahrhunderts weltweite Schockwellen auslöste – zusätzlich verschlechterte.
Silva versuchte zwar, das Handelshaus durch eine Neustrukturierung, die u.a. die Investition in Kaffeeplantagen, die Eröffnung einer neuen Filiale und neue Formen von Werbung umfasste, zu retten. Dennoch konnte er den Untergang des Familienunternehmens nicht verhindern. 1892 musste er Konkurs anmelden und zur Tilgung der Schulden einen Großteil seines Besitzes veräußern – darunter seine Bibliothek und das Familienanwesen.
Um über den doppelten Verlust – den persönlichen durch den Tod seiner Schwester und den finanziellen durch den Bankrott des Familienunternehmens – hinwegzukommen, stürzte Silva sich in eine intensive literarische Tätigkeit. Dafür entwickelte er den Costumbrismo weiter und unternahm den Versuch, in einem auf mehrere Bände angelegten Projekt den Alltag in Bogotà in psychologischen Romanen zu spiegeln. Hinzu kamen mehrere Übersetzungen von Weltliteratur aus anderen Sprachen sowie literaturkritische Essays.
1894 trat Silva eine Stelle an der kolumbianischen Botschaft in Venezuela an. Nach Meinungsverschiedenheiten mit seinem Vorgesetzten reiste er jedoch bereits im Januar 1895 wieder aus Caracas ab. Dabei geriet sein Schiff in Seenot und sank. Silva wurde zwar zusammen mit den anderen Passagieren gerettet, verlor jedoch sein gesamtes Gepäck – darunter auch den Großteil seiner Manuskripte.
Tödlicher Lebensüberdruss
Nach der Rückkehr nach Bogotà versuchte Silva zunächst, Teile der verlorenen Manuskripte zu rekonstruieren. Außerdem verfolgte er Pläne zur Gründung eines neuen Unternehmens, die sich jedoch schon bald als zu ambitioniert herausstellten. Auch die Wiederherstellung der bei dem Schiffsunglück untergegangenen Werke gelang ihm nur zu einem kleinen Teil. Vor allem das Romanprojekt über das Alltagsleben in Bogotà, das schon recht weit gediehen war, blieb durch den Schiffsuntergang für immer verloren.
So setzte sich in Silva endgültig der Eindruck einer unabwendbaren Vergeblichkeit alles menschlichen Strebens fest. Seine Ernennung zum Generalkonsul Kolumbiens in Guatemala konnte diese umfassende Desillusionierung nicht mehr wettmachen. Nachdem er sich von einem befreundeten Arzt unter einem Vorwand die genaue Stelle seines Herzens hatte auf die Brust zeichnen lassen, nahm er sich in der Nacht vom 23. auf den 24. Mai 1896 mit einem Schuss in die Brust das Leben.
Diese Tat war indessen nur der Kulminationspunkt eines Lebensüberdrusses, der sich schon seit Längerem in dem Dichter festgesetzt hatte. Ein Beleg dafür ist u.a. der Roman De sobremesa. Auch dieser war bei dem Schiffsunglück verloren gegangen, von Silva danach jedoch noch einmal neu geschrieben worden. Veröffentlicht wurde er allerdings erst 1925.
Der Protagonist des Romans äußert sich darin in einer Unterhaltung nach dem Essen –die Wendung“estar de sobremesa“ bezieht sich auf das gemütliche Beisammensein nach einer gemeinsamen Mahlzeit – gegenüber ein paar Freunden freimütig zu seiner Haltung gegenüber der Welt, der Gesellschaft und dem Leben im Allgemeinen und liest dafür auch Auszüge aus einem Tagebuch vor. An einer Stelle spricht er dabei von dem „unbeschreiblichen Hass“, den er zuweilen auf sich selbst und auf die gesamte Existenz empfinde – einem Hass, wie ihn noch niemand je erlebt habe. In solchen Situationen, bekennt er,
„fühle ich mich unfähig zur geringsten Anstrengung, brüte stundenlang stumpfsinnig vor mich hin, den Kopf in den Händen, und rufe den Tod herbei, da mir die Kraft fehlt, die stählerne Mündung [des Revolvers] an meine Schläfe zu setzen, die mich von dem schrecklichen, düsteren Übel des Lebens heilen könnte.“
Zitat entnommen aus:
José Asunción Silva: De sobremesa (1925), S. 148. Bogotà 2020: Instituto distrital des las artes (IDARTES), Libro al viento (PDF).
Eine chronologische Übersicht zu Leben und Werk von José Asunción Silva findet sich auf auf cervantesvirtual.com (Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes): Vida y obra de J. A. Silva. Ein nach Jahren geordneter Überblick ist auf casadepoesiasilva.com abrufbar: José Asunción Silva, 1865 – 1896.
Bilder: Adolf Emil Hering (1863 – 1932): Der Tod und das Mädchen (1900); Wikimedia commons; Porträt von José Asunción Silva (1865 – 1896) auf einer Visitenkarte (1892); Wikimedia commons
