Der brasilianische Dichter Mário de Andrade/2
Mário de Andrade bemühte sich wie andere brasilianische Dichter seiner Zeit um eine stärkere Eigenständigkeit der eigenen Kultur. Angesichts der Prägung durch die europäische Kultur ging die Hinwendung zu indigenen Kulturen jedoch auch mit einem Gefühl geistigen Zerrissenheit einher.
Der Troubadour
In mir brodeln die rauen Gefühle
der Menschen aus frühester Zeit.
Der Frühling des Sarkasmus blüht
und welkt in meinem Harlekinherzen.
Meine vernarbte Seele,
eine Kerze im Todeskampf,
hallt wider von Verwundungen
mit einem dumpfen Glockenklang:
Cantabona! Cantabona!
Dlorom …
Ich bin ein Tupi-Troubadour:
ein Tupi, der an einer Laute zupft.
Mário de Andrade: O Trovador; aus: Paulicéia Desvairada (1922). In: Ders.: Poesias Completas (PDF), S. 83. Belo Horizonte 1987: Itatiaia (zugleich: Editora da Universidade de São Paulo).
Brasilianische Identitätssuche und Hinwendung zu indigener Kultur
Als Mário de Andrade 1928 seinen Roman Macunaíma veröffentlichte, hatte sich die anthropophagische Bewegung gerade als feste Gruppe konstituiert. So lud man den Autor ein, sich an den regelmäßigen Treffen der Bewegung zu beteiligen – was dieser allerdings ablehnte.
Dass Mário de Andrade die Einladung ausschlug, dürfte allerdings eher mit persönlichen Gründen zu tun haben – etwa mit seiner Abneigung gegen die Festlegung auf bestimmte Etikettierungen für seine Kunst oder auch mit gewissen Vorbehalten gegenüber dem „Alphatier“ Oswald de Andrade (mit dem er übrigens nicht verwandt war).
Was die inhaltliche Ebene anbelangt, so ist es nur allzu verständlich, dass die Mitglieder der anthropophagischen Bewegung in Macunaíma das Produkt einer geistesverwandten Seele erblickten. Denn das Werk ist durch eben jene Verknüpfung von brasilianischer Identitätssuche und Hinwendung zu indigener Kultur gekennzeichnet, die auch für die anthropophagische Bewegung zentral war.
Ansätze hierfür waren bei Mário de Andrade schon vor seiner Arbeit an Macunaíma zu erkennen. Hierfür steht exemplarisch O Trovador, eines der bekanntesten Gedichte aus Paulicéa desvairada. Es thematisiert das Gefühl einer geistigen Zerrissenheit, das sich bei einer Hinwendung zur indigenen Kultur durch die fortbestehende Prägung durch die europäische Geistesgeschichte ergeben kann.
Ein poetischer Ausdruck innerer Zerrissenheit
In dem Gedicht stellt das lyrische Ich sich durch den Verweis auf die mittelalterlichen Troubadoure zunächst in die Tradition der europäischen Dichtungs- und Gesangsgeschichte. Gleichzeitig werden die Überlegenheitsgefühle, die eng mit der europäischen Geistesgeschichte zusammenhängen, problematisiert.
Dieser „Frühling des Sarkasmus“, der andere Kulturen nach den eigenen Vorstellungen zu beurteilen und zu kategorisieren beansprucht, ist zwar auch in dem lyrischen Ich noch präsent – allerdings nicht mehr in so dominanter Weise wie bei jenen, deren Denken und Fühlen fest in der europäischen Geistesgeschichte verankert ist.
Wie schon in dem Gedicht Paisagem No. 1 (vgl. vorigen Post) benutzt de Andrade dabei auch in diesem Fall das Adjektiv „arlequinal“, um den Zustand des lyrischen Ichs zu beschreiben: Dessen „Harlekinherz“ ist – wie das Gewand der entsprechenden Figur aus der Commedia dell’arte – von einem Flickenteppich aus unterschiedlichsten Einflüssen bestimmt.
Angesichts der intensiven Beschäftigung der Intellektuellenkreise von São Paulo mit der Malerei der Moderne mag de Andrade bei der Formulierung „coração arlequinal“ auch an die Harlekingestalten Pablo Picassos gedacht haben. Diese hatten gerade in der frühen, blauen und rosa Periode Picassos eine melancholische Prägung, die auf die geistige Heimatlosigkeit des Künstlers hindeutet.
Geistige Heimatlosigkeit
In dem Gedicht lässt sich diese Heimatlosigkeit auf das Hin- und Hergerissensein des lyrischen Ichs zwischen europäischer und indigener Kultur beziehen. Zusammengefasst wird dies in der Formel vom die Laute spielenden Tupi, also dem Angehörigen eines indigenen Volkes, der sich an einem klassischen Troubadour-Instrument versucht – wobei es im Falle de Andrades allerdings eher der Troubadour wäre, der Elemente der Tupi-Musik und -Kultur aufgreift.
Das diesem Bild vorangestellte „Dlorom“ greift dessen Aussage gleich im doppelten Sinn auf: Es ahmt lautmalerisch den Klang der Laute nach, verweist gleichzeitig aber auch auf die Dissonanz, die sich aus der Vermengung zweier so unterschiedlicher Musiktraditionen ergibt. Denn „Dlorom“ lässt sich auch als Anagramm zu dem spanischen „dolor“ (Schmerz) und damit als Ausdruck des Leidens an dem Leben zwischen zwei Kulturen lesen.
Die Forderung nach „gutem Gesang“ („Cantabona“) erscheint vor diesem Hintergrund kaum zu erfüllen. Angesichts der Situation einer kulturellen Ambiguität, wie sie für das lyrische Ich prägend ist, wirkt sie aber auch anachronistisch.
Eine Kunst, die dieser Situation gerecht werden will, darf nicht in erster Linie – entsprechend dem Klischee der „schöngeistigen Literatur“ – nach dem „Guten“ und „Schönen“ streben. Stattdessen muss sie sich darum bemühen, die kulturelle Realität, in der sie verwurzelt ist, adäquat abzubilden.
De Andrade wendet sich vor diesem Hintergrund ausdrücklich gegen eine Kunst, die das „Hässliche, Schreckliche“ zu einem Gegenstand der „schönen Kunst“ zu machen beansprucht. Dies ist für ihn lediglich eine Ausrede, um die vermeintliche Sündhaftigkeit einer Beschäftigung mit der dunklen Seite des Lebens zu rechtfertigen.
Laut de Andrade verfälscht eine solche Herangehensweise sowohl das Wesen des Schönen als auch den Charakter des Dunklen, Abseitigen. Die Künstler sollten sich deshalb seiner Ansicht nach offen zu der Anziehungskraft, die Letzteres ausüben könne, bekennen, es dann aber auch seinem Wesen gemäß darstellen.
Mit anderen Worten: Die Kunst ist nicht nur für das Schöne, Erbauliche da. Sie dient auch dazu, die Fallstricke und Abgründe des Lebens zu thematisieren.
Zitate entnommen aus:
Mário de Andrade: Vorwort; aus: Paulicéia Desvairada (1922). In: Ders.: Poesias Completas (PDF), S. 59 – 77 (hier S. 64). Belo Horizonte 1987: Itatiaia (zugleich: Editora da Universidade de São Paulo).
Bild: Pablo Picasso (1881 – 1973): Mädchen mit Mandoline (um 1910); New York, Museum of Modern Art (Wikimedia commons); farblich verändert
Eva
Die Gedichte der Anthropohagischen Bewegung sind sehr interessant.
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