Sehnsucht nach dem ganz Anderen

Der brasilianische Dichter Raul Bopp/6

Im abschließenden Gedicht des Bandes Urucungo entwirft Raul Bopp die Utopie eines Lebens, das mit sich selbst, der Natur und anderen im Einklang ist. Dafür knüpft er an das paradiesische Happy End seines Gedichtzyklus Cobra Norato an.

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 Tapuia

Geborgen im Lianenhaar des Waldes,
öffnet sich die Knospe deines Körpers.
Der Blütenflor deiner Brüste
schält sich glänzend aus der Dschungelnacht.

Die lauen Amazonasnächte
glitzern geheimnisvoll in deinem Blick.
Das Himmelskreuz* wirft einen Schattenmantel
um deinen palmengleichen Leib.

Ziellos irrst du, Sternenkind, umher,
du Tochter unvertäuter Träume,
Zuflucht heimatloser Geister,
Erbin ungeschöpften Wissens.

Stimmenreich umwirbt dich der Wald,
der Fluss flüstert alte Geschichten dir zu.
Der Wind webt dir ein Lockenkleid
für deinen Wildblumenleib.

In einem traumwandlerischen Tanz
ergibst du dich dem Wellenwerben.
Im Fluss versinkend, sinkst du hinauf
in die Arme deiner Sternenammen.

Bopp, Raul: Tapuia; aus: Urucungo. Poemas negros (1932).

In: Poesia completa de Raul Bopp, hg. von Augusto Massi (1998), S. 182 – 209 (Anm. S. 210 – 229), hier S. 209.  Rio de Janeiro 2. Aufl. 2014: Olympio (PDF)

*    Himmelskreuz: Anspielung auf das „Kreuz des Südens“, ein von der Südhalbkugel zu sehendes Sternbild. Es besteht aus fünf Sternen, von denen die vier hellsten ein Kreuz bilden, und befindet sich im Band der Milchstraße.

Ein gescheiterter Lernprozess

Sowohl Raul Bopps Gedichtzyklus Cobra Norato als auch sein Gedichtband Urucungo waren von der Utopie einer gegenseitigen Befruchtung von Mehrheits- und Minderheitenkulturen geprägt. Aus der Perspektive der Mehrheitskultur betrachtet, laden beide Gedichtbände dazu ein, mit dem Eintauchen in die fremdartigen kulturellen Welten einen Lernprozess zu verbinden, der auch im Alltag zu einem anderen Denken und Handeln anregen kann.

Im Fall von Cobra Norato bezieht sich dieses Umdenken vor allem auf einen anderen Umgang mit der Natur, der weniger von einer Bändigung und Ausbeutung als von einem Leben im Rhythmus der Natur getragen ist. Urucungo ist dagegen stärker auf die soziale Ebene bezogen und lädt zu einem von Solidarität und Teilhabe statt von Diskriminierung und Ausgrenzung getragenen gesellschaftlichen Umgang miteinander ein.

In beiden Fällen kann keine Rede davon sein, dass das von Bopp beschriebene Lernpotenzial der Minderheitenkulturen von der Hegemonialkultur genutzt worden wäre. Die ausbeuterische Haltung gegenüber der Natur hat sich seit dem Erscheinen von Cobra Norato noch verstärkt. Und Indigene gehören ebenso wie Nachkommen der Sklavengenerationen in Brasilien auch heute noch zu den benachteiligten sozialen Gruppen.

Schmerzhafte Kluft zwischen Dichtung und Realität

Dieses Scheitern eines inter- bzw. binnenkulturellen Dialogs deutet sich bereits in Urucungo an. Denn während Bopp auf der formalen Ebene die Durchdringung der Mehrheitskultur mit Elementen der afrikastämmigen Minderheitenkultur vorführt, ist die inhaltliche Ebene vom Gegenteil gekennzeichnet. Sie erzählt von Menschen, die zwar ihre eigenständigen kulturellen Ausdrucksformen pflegen, diese jedoch nicht in die Mehrheitsgesellschaft einbringen können.

Dies schlägt sich auch in der melancholischen Grundstimmung nieder, von welcher der gesamte Gedichtband durchzogen ist. Sie verweist auf Gefühle der Ausgrenzung und der Entfremdung von der ehemaligen Heimat, die nur noch in der Form nostalgischer Erinnerungen in den Liedern und Tänzen der Zwangsversklavten und ihrer Nachkommen präsent ist. Dabei leiden auch Letztere unter einem Gefühl der Entwurzelung, da sie einerseits von ihrer ursprünglichen Heimat getrennt sind, andererseits aber auch in ihrer neuen Heimat ausgegrenzt werden.

Dies mag der Grund dafür sein, dass Bopp mit dem abschließenden Gedicht aus Urucungo wieder in die Traumwelt von Cobra Norato überwechselt. Denn anders als die eng auf die soziale Realität bezogenen Gedichte aus Urucungo erlauben die surrealen Dschungelbilder die Beschwörung einer über die triste Wirklichkeit hinausweisenden Utopie.

Tapuia: Utopisches Happy End in Urucungo wie in Cobra Norato

Der Titel des Gedichts – „Tapuia“ – verweist dabei gleich in doppelter Hinsicht auf die Kluft, durch welche die Mehrheitskultur von der in dem Gedicht evozierten Welt getrennt ist. Denn mit dem Begriff „Tapuia“ bzw. „Tapuya“ bezeichneten bereits die Tupi-Völker all jene ethnischen Gruppen, die nicht zu ihrem Kulturkreis gehörten. Er bedeutet folglich schlicht „fremd“ bzw. „die Fremden“.

In eben diesem Sinn wurde der Begriff später auch von den portugiesischen Kolonialherren übernommen, ebenfalls in Abgrenzung zu jenen ethnischen Gruppen, mit deren Sprache man etwas vertrauter war und zu denen man folglich in etwas engerem Kontakt stand. Dies verdankte sich auch der Tatsache, dass die als „Tapuias“ bezeichneten Gruppen weit weniger anpassungsbereit waren als andere Indigene. 

Der Begriff „Tapuia“ hebt damit das Fremde, ganz Andere, das die europäischen Eroberer in der indigenen Lebensweise sahen, in besonderer Weise hervor. Wie in Cobra Norato besteht dieses Fremde auch in dem abschließenden Gedicht in Urucungo in einem Leben, das vollständig eingepasst ist in den Rhythmus der Natur, ist hier also positiv konnotiert: Das ganz Andere ist das Gegenteil dessen, was Natur und Umwelt zerstört und den sozialen Frieden zersetzt.

Die Vision einer solidarischen, nachhaltigen Gesellschaft

Personifiziert wird dieses andere Leben von einer Tapuia-Frau, deren ganze Erscheinung ihr Eingewobensein in die Natur bezeugt: Das Glitzern der Sterne spiegelt sich in ihren Augen, der Wind spielt mit ihrem Haar, der Wald webt ihr ein Blättergewand, der Fluss umarmt sie wie eine Wassernixe, die in ihm zu Hause ist. Es versteht sich von selbst, dass dieses Wesen keine Kleider benötigt – die Natur ist ihm Kleid genug. 

Dieses Bild erinnert natürlich auch an das exotistische Klischee vom „edlen Wilden“, das von der Kolonialliteratur immer wieder auf Indigene projiziert worden ist. Es repräsentierte dort den unwiederbringlich verlorenen Urzustand, die Unschuld eines paradiesischen Lebens, das durch den zivilisatorischen Fortschritt verlorengegangen war.

Die nostalgische Rückbesinnung auf das Verlorene ging dabei allerdings stets auch mit einem Stolz auf das Erreichte einher. Der Topos des „edlen Wilden“ beinhaltete daher auch die Unterstellung einer kindlichen Naivität, die mit einem überheblichen Herabblicken auf die „primitiven“ Lebensweisen verbunden war.

Dies ist bei Raul Bopp anders. Seine intensive Beschäftigung mit indigenen Kulturen und seine engagierte Kritik an jeder Form von Rassismus und darauf basierender sozialer Benachteiligung verleihen seiner Utopie von einem mit sich selbst versöhnten Leben einen glaubwürdigeren, stärker auf die soziale Realität bezogenen Charakter.

So verweist Tapuia als abschließendes Gedicht von Urucungo auf die Utopie einer Gesellschaft, die nicht nur von einem nachhaltigeren Umgang mit der Natur, sondern auch von einem harmonischen Miteinander der einzelnen sozialen Gruppen geprägt ist.

Bild: Henri Rousseau (1844 – 1910): Eva im Garten Eden (nach 1905); Hakone/Japan, Pola Museum of Art (Wikimedia commons)

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