Ein dichterischer Spiegel der Sklaverei

Der brasilianische Dichter Raul Bopp/4

Während Raul Bopps Gedichtzyklus Cobra Norato von den indigenen Kulturen Brasiliens inspiriert ist, wendet der Gedichtband Urucungo (1932) sich der aus Afrika stammenden Bevölkerung zu. Er thematisiert sowohl die unmittelbaren wie die langfristigen Folgen der Sklaverei.

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Schwarz [Negro]

Stimmen von fernen Gestaden
raunen geisterhaft in deinem Blut,
ein Echo dunkler Dschungelschatten,
die stumm von deinen Ahnen murmeln.

Du bist ein Kind der Nacht:
Ausgebrütet im düsteren Bauch eines Schiffes,
beweint von den Klageweibern der Wellen,
kamst du durch tausend Finsternisse zu uns.

Ein Fußtritt warf dich in den Bauch,
ein Fußtritt trieb dich in unsere Welt:
in die Welt der Lager und der Ketten,
der Tränen und der Heimatlosigkeit.

Mit einer Peitsche ritzten sie in deinen Rücken
deinen neuen Namen: NIEMAND!
Dies ist der Anfang
und das Ende deiner Geschichte.

Nur dein Urucungo-Bogen*
zittert in den wehmütigen Weisen
deiner Wälder, deiner Seen
und der ungebor'nen Enkel.

Bopp, Raul: Negro; aus: Urucungo. Poemas negros (1932).

In: Poesia completa de Raul Bopp, hg. von Augusto Massi (1998), S. 182 – 209 (Anm. S. 210 – 229), hier S. 196.  Rio de Janeiro 2. Aufl. 2014: Olympio (PDF)

*    Urucungo (auch: Berimbau): Musikinstrument, bei dem an einem Bogen eine Saite aus Draht oder auch Hanf befestigt ist. Deren Schwingungen werden über einen mit der offenen Seite am Körper der Musizierenden anliegenden hohlen Kürbis in Tonfolgen übertragen (Genaueres dazu weiter unten).

Raul Bopps Gedichtband Urucungo

Außer zu dem Gedichtzyklus Cobra Norato ist Raul Bopp durch die Amazonasreisen, die er Anfang der 1920er Jahre unternommen hat, auch zu dem Gedichtband Urucungo inspiriert worden. Beide unterscheiden sich allerdings sowohl inhaltlich als auch formal deutlich voneinander.

Während Cobra Norato Elemente der indigenen Kulturen Brasiliens aufgreift, bezieht sich Urucungo auf Geschichte und Alltag der aus Schwarzafrika nach Brasilien im Zuge des Sklavenhandels zwangsverschleppten Menschen. Dies zeigt sich bereits in seinem Untertitel (Poemas negros – „Schwarze Gedichte“).

Der Band thematisiert sowohl den Akt der Versklavung selbst als auch ihre unmittelbaren und mittelbaren Folgen. Die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse auf den Plantagen werden ebenso mit dichterischen Mitteln beschrieben wie die gesellschaftliche Marginalisierung und Diskriminierung, denen die Nachfahren der ehemaligen Sklaven ausgesetzt waren.

Eine Horrorvision als Spiegel der Realität

Das Gedicht Negro fasst Anfang und Folgen der Versklavung in einem gemeinsamen Bildkomplex zusammen. Dieser lässt sich sowohl auf der äußeren als auch auf der innerpsychischen Ebene deuten.

Auf der äußeren Ebene greift das Gedicht die Umstände der Versklavung auf: den Menschenraub, das Zusammenpferchen der Opfer in den engen, stickigen Laderäumen der Schiffe und schließlich ihre Ankunft im Land der Ausbeuter, wo sie als menschliche Arbeitstiere auf den Plantagen missbraucht wurden.

Die Geschichte der Versklavung erscheint in dem Gedicht dabei unmittelbar eingeschrieben in die Erinnerung der Versklavten und ihrer Nachkommen. Als traumatische Erfahrung färbt sie deren Denken und Empfinden auch in Kontexten, die nicht unmittelbar die Sklaverei betreffen.

Der Grund dafür ist die extreme Erniedrigung, die mit der Versklavung einhergegangen ist. Sie hat nicht nur zu einem Gefühl völliger Entwurzelung geführt, einem Verlust der alten Heimat bei gleichzeitiger Unmöglichkeit, sich im Land der Sklavenhalter heimisch zu fühlen. Sie ging darüber hinaus auch mit einer Negierung der Würde der Opfer einher, die nur noch als Lasttiere und nicht mehr als Menschen mit einer eigenständigen Persönlichkeit wahrgenommen wurden.

Der Urucungo: ein Musikinstrument als Widerstandssymbol

Die Gedichte in Urucungo thematisieren allerdings nicht nur die diversen Formen der Ausbeutung und Marginalisierung. Immer wieder wird auch auf Elemente aus den Lebenswelten und tradierten Narrativen der Versklavten und Ausgegrenzten hingewiesen, mit denen diese sich auf der Ebene der Alltagskultur ihrer Unterdrückung widersetzen. Dies macht deutlich, dass die äußere Entwürdigung nicht mit einem Verlust der inneren, geistigen Würde der Betroffenen einhergeht.

Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Urucungo zu, der dem Gedichtband den Namen gegeben hat. Dabei handelt es sich, wie oben bereits ausgeführt, um ein Musikinstrument, bei dem an einem Bogen eine Saite aus Draht oder auch Hanf befestigt ist. Deren Schwingungen werden über einen mit der offenen Seite am Körper der Musizierenden anliegenden hohlen Kürbis in Tonfolgen übertragen (siehe Abbildung).

Der Urucungo findet zum einen für die musikalische Untermalung des Capoeira-Tanzes Verwendung. Dabei handelt es sich um einen Kampftanz, der in der Sklavenzeit ein Mittel war, die Wehrhaftigkeit gegen die Kolonialherren zu stärken – und deshalb zeitweilig auch verboten war. Daneben wird der Urucungo aber auch von den traditionellen afrikanischen Geschichtenerzählern, den Griots, als Begleitinstrument genutzt.

Melancholische Selbstbehauptung

Dies macht es verständlich, dass der Urucungo Raul Bopp als Charakterisierung seines Gedichtbandes dient. Denn das Instrument verknüpft – wie der Gedichtband – den Gedanken des Widerstands gegen soziale Ungerechtigkeit mit dem Aspekt der geistigen Selbstbehauptung durch eine eigene Erzähltradition.

Dies schließt allerdings eine melancholische Färbung der Musik nicht aus. So steht der Urucungo sowohl in dem gleichnamigen ersten Gedicht des Bandes als auch in dem oben wiedergegebenen Gedicht Negro für das Eintauchen in die Erinnerung an eine untergegangene Zeit und die verlorene Heimat. Indem er aber – wie es in dem Gedicht Urucungo heißt – die „Stimmen“ der Vergangenheit zum Schwingen bringt, lässt er diese doch im Geist der Verschleppten und ihrer Nachkommen weiterleben.

Bertin23: Afrikanischer Mann, eine Pfeife rauchend (Pixabay)Abbildung aus Hough, Walter: Synoptic series of objects in the United States National Museum illustrating the history of inventions. In: Proceedings of the United States National Museum 60 (1922), S. 1 – 47 (Wikimedia commons)

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