Der brasilianische Dichter Raul Bopp/3
Raul Bopps Gedichtzyklus Cobra Norato endet mit der Ankunft des Wanderers im „Land des Unendlichen“. Dieses steht in mehrfacher Hinsicht für die Utopie eines mit sich selbst versöhnten Lebens.
Cobra Norato/XXXII
Und jetzt, mein Kamerad,
kehre ich heim
in das Land des Unendlichen.
Ich steige hinauf ins Gebirge,
zu der Perlenkette der Bergrücken,
zu den kristallklaren Bächen,
die sich durch Molungu-Wälder* schlängeln.
Dort oben werde ich leben mit meiner Braut
in einem Haus mit einer himmelblauen Tür.
Mit bunten Stiften werden wir
den Dschungel spiegeln auf dem Holz.
Für immer werden unsere Körper
ihre Wärme miteinander teilen.
Unsere Liebe wird die Nabelschnur sein,
die uns mit kosmischem Nektar nährt.
Im Schatten des Waldes sitzend,
werden wir dem Jurucutu** lauschen
und dem Gesang des Wassers
auf unseren ausgestreckten Körpern.
Und vor dem Zaubertor der Nacht
werde ich Geschichten weben
aus einem purpurroten Nichts
und Wörter ritzen in den Sand
als Spielzeug für den Wind.
Raul Bopp: vorletztes Gedicht aus dem Zyklus Cobra Norato (1931). In:Poesia completa de Raul Bopp, herausgegeben von Augusto Massi (1998), S. 132 – 181 (hier S. 178). Rio de Janeiro 2. Aufl. 2014: Olympio (PDF)
* Molungu (Mulungu; wegen der orangenen Farbe der Blätter auch als „Korallenbaum“ bezeichnet): in Brasilien und Bolivien vorkommender Baum, der sowohl als Zierpflanze als auch wegen der beruhigenden, schlaffördernden Wirkung seiner Blätter geschätzt wird (wobei die Samen allerdings giftig sind)
** Jurucutu (auch: Jacurutu): Virginia-Uhu; aufgrund seiner früheren Bezeichnung als „Tiger der Lüfte“ auch „Tigerkauz“ genannt; auf dem amerikanischen Kontinent heimischer, bis zu 64 cm großer Raubvogel mit gelben Augen, großen Ohren und federbesetzten Krallen
Die Ankunft am Ziel der Reise als Rückkehr ins Paradies
Im vorletzten Gedicht von Raul Bopps Cobra-Norato-Zyklus gelangt der Wanderer an sein Ziel: Er findet die Tochter der Königin Luzia und beginnt mit ihr ein Leben im „Land des Unendlichen“.
Da die Ankunft in diesem mythischen Reich zugleich als Heimkehr gekennzeichnet wird, handelt es sich bei dem „Land des Unendlichen“ offenbar um eine Art Paradies, also etwas, das vor oder außerhalb der Zeit existiert. Es ist damit eine wörtliche Umschreibung für den „ou topos“, die Utopie, im Sinne eines Ortes, der in der realen Welt nicht existiert – und der eben deshalb ein Gegenstand der Träume, also ein Sehnsuchtsort ist.
Anhaltspunkte dafür, was mit dieser Utopie konkret gemeint ist, sind in Bopps Gedichtzyklus und speziell in dem oben wiedergegebenen Gedicht durchaus vorhanden. Um sie besser zu verstehen, ist es aber hilfreich, zunächst auf einen Vortrag einzugehen, den Bopp 1944 in seiner Zeit als brasilianischer Konsul in Los Angeles gehalten hat.
Ein anderes Verhältnis zur Natur
In dem Vortrag betont Bopp die Distanz der indigenen Lebensweise zu den Gewohnheiten der Menschen „auf der anderen Seite des Atlantiks“. Dies führt er nicht zuletzt auf ein völlig anderes Verhältnis zur Natur zurück. In Europa, so Bopp, seien die Wälder „geometrisch angelegt“. Es sei, als würden die Bäume
„Addieren spielen: zwei + zwei, einer neben dem anderen. Alles ist genau abgemessen. Durchkalkuliert. Das Wasser wird gefügig gemacht. Die Pflanzen müssen in einer vertraglich festgelegten Frist liefern: So viel Phosphat und Nitrat muss so viel Ertrag bringen. Ängstlich stehen die Pflanzen in Gewächshäusern und zittern vor dem Frost.“
In Brasilien sei all das unmöglich. Hier würden sich die Naturgewalten nicht so leicht in Ketten legen lassen. Die alles versengende Kraft der Sonne und die „anschwellenden und alles mit sich reißenden“ Flüsse würden die Menschen zu einer gewissen Demut erziehen und ihnen einen „Respekt vor den kosmischen Kräften“ vermitteln.
Das Ziel einer kulturellen und künstlerischen Erneuerung
Nicht nur in Bezug auf die Natur und das Verhältnis zu ihr ist Brasilien laut Bopp „radikal anders“. Die Andersartigkeit des Landes ergibt sich ihm zufolge vielmehr auch aus seiner „ethnischen Zusammensetzung“. Die Schlussfolgerung daraus lautet für ihn, dass „auch seine kulturellen Ausdrucksformen anders sein müssen“.
Vor diesem Hintergrund wendet sich Raul Bopp gegen die formstrenge parnassische Dichtung nach französischem Vorbild, die in Portugal lange vorgeherrscht hatte. Indem sie „eifersüchtig darauf bedacht war, die ‚heiligen Öle‘ der Sprache zu bewahren“, also auf dem Gedanken einer olympischen „Reinheit“ der Dichtung beruhte, habe sie der sozialen Realität nicht gerecht werden können. Um die brasilianische Wirklichkeit in der Dichtung widerzuspiegeln, habe es daher „einer neuen Bewegung“ bedurft, mit einer urtümlicheren, naturnahen Sprache:
„Es musste Schluss sein mit dem umfangreichen akademischen Wortschatz und den importierten Gottheiten. Es galt, ein neues Brasilien zu zeigen, ohne Nachahmung, unbeschwert und frei, das seine Landschaften in seinen eigenen Farben malt.“
Eine „wie mit Buntstiften“ gemalte Sprache
Für die neuen Ausdrucksformen, die der brasilianischen Realität seiner Ansicht nach angemessener sind, kommt für Bopp der Kultur der Indigenen eine zentrale Bedeutung zu. Denn das „bunte und facettenreiche Material“ ihrer Mythen und Geschichten hat ihm zufolge auch „tiefgreifende Auswirkungen auf die Sprache“.
Indem Bopp diese Sprache als „wie mit Buntstiften gemalt“ charakterisiert, betont er die Lebendigkeit und die Bildhaftigkeit, mit der sie sich auf die Umgebung bezieht. Hierin sieht er die Vorform eines „brasilianischen Surrealismus“, an dem sich die Dichtung orientieren könne.
Den durch das Bild der Buntstifte angedeuteten spielerischen Charakter der Sprache greift das Gedicht auch in der Schluss-Strophe auf, wo das bereitwillig hingenommene Verwehen der in den Sand geschriebenen Worte auf die ständige Erneuerung und Wandelbarkeit der Sprache hindeutet.
Dies lässt sich zugleich als Einspruch gegen das von Bopp kritisierte Streben der klassischen europäischen Dichtung nach sprachlicher Reinheit ansehen (s.o.). Während Bopps dichterisches Ideal von einer beständigen Neuschöpfung der Sprache geprägt ist, birgt das Bemühen, „die ‚heiligen Öle‘ der Sprache zu bewahren“, demnach in seinen Augen die Gefahr einer allmählichen Erstarrung in sich.
Das „Land des Unendlichen“ – eine Utopie mit vielen Gesichtern
Die Utopie, für die das „Land des Unendlichen“ in dem Gedicht steht, umfasst damit drei Aspekte:
- Sie steht für ein harmonisches Ich-Umwelt-Verhältnis und insbesondere für ein Leben im Einklang mit der Natur.
- Sie repräsentiert einen erfolgreichen Individuationsprozess, also die Ankunft des Ichs bei sich selbst.
- Indem dieser Prozess der Selbstfindung vor der Kulisse der Amazonasregion stattfindet, verweist er zugleich auf den größeren Maßstab der Suche nach einer spezifisch brasilianischen Identität, die zur Zeit von Bopps Arbeit an dem Gedichtzyklus gerade in vollem Gange war.
Utopie und brasilianische Realität
Insgesamt steht das „Land des Unendlichen“ demnach für die Utopie eines mit sich selbst versöhnten Lebens. Als Voraussetzung für eine Annäherung an diese Utopie erscheint in Bopps Dichtung die Bereitschaft der brasilianischen Mehrheitsgesellschaft, von der Kultur der Indigenen zu lernen.
In der Praxis ist aber leider das genaue Gegenteil eingetreten. Eben jene technokratische Einstellung zur Natur in den europäischen Ländern, für die Bopp noch 1944 nur Sarkasmus übrig hatte, ist heute auch in Brasilien bestimmend für den Umgang mit der Natur. Auch in Brasilien müssen die Bäume heute auf den Holzplantagen in Reih und Glied stehen, auch hier ist heute alles „abgemessen“ und „durchkalkuliert“ (s.o.).
Anstatt von den indigenen Kulturen zu lernen, sind diese von den kolonialen Denk- und Verhaltensmustern überwölbt und teilweise zerstört worden. Dabei wäre es gerade im Fall des brasilianischen Regenwaldes überlebenswichtig für den Planeten, von dem dialogischeren Umgang mit der Natur, wie ihn die indigenen Völker vorgelebt haben und teils noch immer vorleben, zu lernen.
Zitate übernommen und übersetzt aus: Bopp, Raul: Coisas de idioma e folclore (Aspekte der Sprache und Volkskultur); Vortrag, gehalten auf einer Konferenz des Portugiesischen Clubs an der Southern California University während Raul Bopps Zeit als brasilianischer Konsul in Los Angeles; In: Sopro. Panfleto politico-cultural, Nr. 74, August 2012; Erstveröffentlichung in Lanterna Verde, Nr. 8 (1944). S. 243 – 247.
Bilder: Martin Johnson Heade (1819 – 1904): Passionsblumen mit drei Kolibris (um 1875); San Antonio Museum of Arts (Texas); Wikimedia Commons; João Batista Shimoto: Mulungú (Wikimedia commons); Greg Hume: Great Horned Owl (Virginia-Uhu); Wikimedia commons

