Äußere und innere Labyrinthe

Der brasilianische Dichter Raul BoppI/2

Ein wesentliches Kennzeichen von Raul Bopps Gedichtband Cobra Norato besteht in der engen Verbindung von innerer und äußerer Realität. So entsteht der Eindruck einer Traumwelt, deren poetische Beschwörung Bopp als „brasilianischen Surrealismus“ charakterisiert.

Cobra Norato/II

Träumend erwache ich im Wald
der Chiffren. Die Bäume sind verborgen
unter der Schattendecke der Nacht.
Fiebrig leuchten die Augen der Frösche.

Verirrte Büsche und verwaiste Bäume
ducken sich ins Unterholz.
Ein schlangenhaftes Rinnsal leckt
sich durch den aufgeweichten Grund.

Ich aber suche den Weg zur Prinzessin,
zur Tochter von Luzia,
zur Königin der lichten Wege
durch das Lianenlabyrinth.

Die Flüsse ertrinken in ihrem Bett
und ertränken meinen Weg.
Weinend sinkt das Wasser tiefer,
immer tiefer in den Schoß des Waldes.

Der Sand aber hat die Erinn’rung bewahrt
an die Tochter von Luzia.
Seine Spuren weisen mir den Weg
in das traumbestickte Königsreich.

Doch ich weiß: Zuerst muss ich
durch sieben Rätseltore schreiten
und sieben weiße Frauen mit verwaisten Bäuchen,
bewacht von einem siebenäugigen Reptil, passieren.

Bei Neumond muss ich Zauberworte sprechen,
drei Tropfen Blut* in meine Kehle gießen
und dem Drachen auf dem Grund des Flusses
todesmutig meinen Schatten schenken.

Ach, wäre ich nur schon bei ihr,
der dunkelleuchtenden Prinzessin,
der Tochter der Königin Luzia!

Weiter, immer weiter führt mich mein Weg
durch diesen Wald, der niemals schläft.
Schlaflos gähnen die schläfrigen Bäume.
Gurgelnd versiegen im Morast die Flüsse.

Tiefer, immer tiefer führt mich mein Weg
in das Labyrinth der Nacht.
Schwangere Bäume preisen schwärmerisch
drei junge Baumprinzessinnen mir an.

Ich aber höre nicht auf sie.
Denn ich weiß: Noch heute Nacht
wird traumreich mich umarmen
die Tochter der Königin Luzia.

Raul Bopp: zweites Gedicht aus dem Zyklus Cobra Norato (1931). In:Poesia completa de Raul Bopp, herausgegeben von Augusto Massi (1998), S. 132 – 181 (hier S. 134 f.).  Rio de Janeiro 2. Aufl. 2014: Olympio (PDF)

*    drei Tropfen Blut: bezieht sich auf die als Grundlage für den Gedichtzyklus dienende mythische Erzählung von Cobra Norato. Darin wird die finale Metamorphose des tagsüber in Schlangengestalt lebenden Norato in den Menschen Honorato durch das Abschlagen des Schlangenkopfes bewirkt. Dabei müssen drei aus dem Schlangenkopf fließende Blutstropfen durch drei in das Schlangenmaul gegebene Tropfen Muttermilch ersetzt werden.

Das Äußere als Spiegel des Inneren

Auch das zweite Gedicht aus Bopps Cobra-Norato-Zyklus vermittelt einen Eindruck von der speziellen Atmosphäre in der fruchtbaren Nacht des Dschungels. Es erzählt von fremden Geräuschen und im Dunkeln leuchtenden Augen, die auf einen unerfahrenen Wanderer naturgemäß unheimlich wirken müssen.

Gleichzeitig sind alle äußeren Erscheinungen, die in dem Gedicht beschrieben werden, aber auch „Chiffren“, die auf eine andere, innere bzw. mythische Wirklichkeit verweisen. In dieser Welt können die Bäume Prinzessinnen gebären, und es kann, wie man es aus Träumen kennt, ganz selbstverständlich die Erfüllung scheinbar unsinniger Aufgaben verlangt werden.

Durch die Verbindung der Dschungelwelt  mit der Erzählung von Cobra Norato und Motiven aus anderen indigenen Mythen entsteht so der Eindruck einer Traumwelt, in der Elemente der äußeren und der inneren Welt nahtlos ineinander übergehen.

Brasilianischer Surrealismus

Damit setzt Bopp in dem Gedichtband das um, was er als Quintessenz seiner Beschäftigung mit den indigenen Kulturen bezeichnet hat: einen spezifisch „brasilianischen Surrealismus“, der – „frei und ungebändigt“ – aus dem Füllhorn der indigenen Mythologie schöpft [1].

Bopp selbst hat denn den Gedichtband auch als Ertrag der „Tausendundeine-Nacht-Geschichten“ beschrieben, die er bei seinen Amazonasreisen von den Einheimischen erzählt bekommen habe, während „der Dschungel und die Sterne leise miteinander sprachen“. Das Buch sei daher für ihn so etwas wie ein geistiger Drogen-Trip gewesen, eine Art „Amazonas-Kokain“. In diesem Sinne sei seine Amazonasreise auch „die größte Weltreise“ gewesen, die er je unternommen habe [2].

Der Wanderer befindet sich in Cobra Norato demnach in Wahrheit auf einer Reise durch sein eigenes Inneres. Der Urwald ist ein Bild für das Labyrinth seines Seelendschungels, den er durchwandert, um zu sich selbst zu finden. So hebt denn auch Raul Bopp den „quasi mystischen Charakter“ des Gedichtzyklus hervor [3].

Nachweise

[1]    Bopp, Raul: Coisas de idioma e folclore (Aspekte der Sprache und Volkskultur); Vortrag, gehalten auf einer Konferenz des Portugiesischen Clubs an der Southern California University während Raul Bopps Zeit als brasilianischer Konsul in Los Angeles; In: Sopro. Panfleto politico-cultural, Nr. 74, August 2012; Erstveröffentlichung in Lanterna Verde, Nr. 8 (1944). S. 243 – 247.

[2]    Bopp, Raul:Brief an seine Freunde Jorge Amado und Carlos Echenique, Juli 1932. In: Poesia completa de Raul Bopp (1998), herausgegeben von Augusto Massi, S. 183. Rio de Janeiro 2. Aufl. 2014: Olympio (PDF).

[3]    Bopp, Raul: Coisas de idioma e folclore (s. Anm. 1).

Bild: Henri Rousseau (1844 – 1910): Der äquatoriale Dschungel (1909); Washington, National Gallery of Art (Wikimedia commons)

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