Eine Einführung mit einem Gedicht von Oswald de Andrade
Eine Besonderheit des brasilianischen Modernismo ist die anthropophagische Bewegung. Sie benutzte Ende der 1920er Jahre in provokanter Weise das Menschenfresserbild, um dem „Aufgefressenwerden“ des Landes in der Kolonialzeit einen eigenständigen kulturellen „Appetit“ gegenüberzustellen.
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Auf der Suche nach einer eigenständigen brasilianischen Identität
1922 feierte Brasilien das 100. Jahr seiner Unabhängigkeit. In diesem Zusammenhang wurde auch verstärkt die Frage nach einer spezifisch brasilianischen Identität gestellt. Schließlich war das Land trotz formaler Unabhängigkeit bis 1889 von Vertretern des portugiesischen Königshauses regiert worden. Und auch danach waren Wirtschaft und Kultur maßgeblich von der eng mit dem portugiesischen Mutterland verbundenen Oberschicht geprägt geblieben.
Als Katalysator für den kulturellen Selbstfindungsprozess wurden zur 100-Jahr-Feier der Unabhängigkeit eine Reihe von Veranstaltungen organsiert, unter denen das Festival der „Semana de Arte Moderna“ (Woche der modernen Kunst) in São Paulo herausragte. Durch Diskussionsforen, Lesungen und Ausstellungen zu moderner Kunst sollte dort der Aufbruch der brasilianischen Kultur in die künstlerische Moderne vorangetrieben werden.
Besondere Bedeutung für die Vorbereitung dieses Festivals und die Vermittlung von dessen Anliegen in die brasilianische Kulturszene erlangte die so genannte „Grupo dos Cinco“ (Fünfergruppe). Sie bestand aus den Malerinnen Anita Malfatti und Tarsila do Amaral, den – nicht miteinander verwandten – Schriftstellern Oswald und Mário de Andrade sowie dem sowohl schriftstellerisch als auch in der bildenden Kunst aktiven Menotti del Picchia.
Eine produktive geistige Unruhe als Nährboden der Bewegung
Die anthropophagische Bewegung hat ihren Ursprung ebenfalls in der Grupo dos Cinco. Deren kreativ-kritischer Geist prägte auch die Diskurse, aus denen die Bewegung sich schließlich 1928 als eigenständige Erscheinungsform in der brasilianischen Kunstszene herausschälte.
Einen Eindruck von der speziellen Entwicklungsdynamik, aus der die Bewegung hervorgegangen ist, vermittelt ein rückblickender Bericht von Raul Bopp aus dem Jahr 1977. Er beschreibt darin die Bewegung in ihren Anfängen als Ausdruck einer geistigen „Unruhe“, die in der damaligen Intellektuellenszene geherrscht habe. Mit ihrem „jungen, unabhängigen, spöttischen und kritischen Geist“ und ihren „gewagten Satiren“ habe sie die bestehenden Machtverhältnisse erschüttert und einen „Umsturz“ der alten, leblosen Werte bewirkt [1].
Als geistiges Zentrum der Bewegung benennt Bopp São Paulo, wo in Intellektuellenkreisen die avantgardistische Kunst und modernistische Theorien intensiv diskutiert worden seien. Besondere Bedeutung sei dabei Oswald de Andrade zugekommen, der mit seiner „komplexen Persönlichkeit“ und seinem Ungenügen an den herrschenden Kunstformen gezielt provoziert und Kontroversen geschürt habe.
Der wichtigste Treffpunkt für die Intellektuellenkreise, aus denen sich die anthropophagische Bewegung herausbildete, war denn auch das Haus von Oswald de Andrade und seiner damaligen Gattin, der Malerin Tarsila do Amaral. Beide unterhielten dort eine Art Salon, wo zum einen frei debattiert werden konnte, zum anderen aber auch improvisierte Konzerte gegeben und Gedichte im neuen, ungezwungeneren Stil vorgetragen wurden [2].
Die Geburt der Bewegung beim Froschschenkelessen
Der Überschwang und die Leichtigkeit, die diese Treffen bestimmt haben, waren gemäß Bopps Erinnerungen auch prägend für die Entstehung des Labels der „anthropophagischen Bewegung“. Laut Bopp verdankt dieses sich einem gemeinsamen Essen in einem Restaurant, bei dem einige aus der Gruppe Froschschenkel probieren wollten.
Oswald de Andrade habe dies zu einem humoristischen Vortrag über die Evolution inspiriert, durch welche der Mensch auch mit dem Frosch verwandt sei – eben jenem Frosch, „den wir gerade zwischen Schlucken eines eiskalten Chablis genossen“. Tarsila do Amaral habe daraufhin eingeworfen, dass sie nach dieser Argumentation „jetzt quasi alle Menschenfresser“ seien.
Kurz darauf hat Oswald de Andrade laut Bopp sein „Manifesto antropófago“ verfasst (VMA 28 f.) und seine Gattin ihr berühmtes Bild Abaporu (Menschenfresser) gemalt. Die auf dem Gemälde zu sehende Figur erinnert mit ihren überlangen Beinen und der wie eine ausgestreckte Zunge aus dem Gesicht hängenden Nase in der Tat ein wenig an eine Mischung aus Frosch und Mensch. Mit dem Bild scheint die Künstlerin folglich den humoristischen Gedanken einer „Froschmenschenevolution“ mit ihrer eigenen Menschenfresserassoziation zu verbinden [3].
Unabhängig davon, ob die Anekdote der Wahrheit entspricht, gibt sie doch einen Eindruck von der Spontaneität und der intuitiv-assoziativen geistigen Dynamik der Bewegung, wie sie für viele kreative Prozesse charakteristisch sind. So ist es durchaus glaubhaft, dass auf diesem Boden der Wunsch gediehen ist, sich genauer über die Ziele der Bewegung Rechenschaft abzulegen. Als ihre Kernthese und ihr Hauptanliegen schälte sich dabei nach Bopp das Folgende heraus:
„Unter der äußeren Fassade Brasiliens verbarg sich ein anderes Brasilien mit vielfältigen, noch unentdeckten Verflechtungen. Die Bewegung würde also zu den ursprünglichen, noch unberührten Quellen zurückkehren, um die Keime der Erneuerung auszubilden. Es galt, dieses unter der Oberfläche liegende Brasilien mit seiner embryonalen Seele und seinen Geheimnissen zu entdecken und auf dieser Grundlage zu einer eigenständigen kulturellen Synthese mit einem gestärkten Bewusstsein unseres nationalen Charakters zu gelangen.“ [4]
Sigmund Freuds Totem-Theorie als theoretischer Referenzpunkt
Von zentraler Bedeutung für die Verbreitung der Ideen der Bewegung und ihrer künstlerischen Produkte war zunächst die Gründung einer eigenen Zeitschrift – der Revista de Antropofagia, von der bis Februar 1929 zehn Ausgaben erschienen. Weitere 15 Ausgaben wurden zwischen März und August 1929 als Literaturbeilage der Zeitung Diário de São Paulo herausgebracht.
Eine wichtige Rolle kam darüber hinaus auch dem bereits erwähnten „Manifesto antropófago“ von Oswald de Andrade zu. Es führte sowohl inhaltlich als auch auf der formalen Ebene – durch seinen bewusst fragmentarischen, antitraditionalistischen Stil – vor Augen, in welche Richtung die Bemühungen um eine künstlerische und gesellschaftliche Erneuerung wiesen.
Als inhaltlicher Referenzpunkt diente de Andrade dabei Sigmund Freuds 1913 erschienene Schrift Totem und Tabu, auf die er in seinem Manifest an mehreren Stellen Bezug nimmt. Darin stellt Freud die These auf, dass in der Urhorde der Vater von seinen Söhnen getötet und anschließend verspeist worden sei [5].
Grund für den Vatermord war laut Freud das Inzestverbot. Als eine Art Sühne für diese Ursünde sei nachfolgend in dem Totemtier der ermordete Ahne verehrt worden, was nachträglich zu einer umfassenden Durchsetzung des Inzestverbots geführt habe. Dieses habe sich danach auf alle dem Totem zugeordneten Personen, also nicht nur auf den Familienclan im engeren Sinn, bezogen.
De Andrade bezieht sich in seinem Anthropophagischen Manifest insbesondere auf die identitätsstiftende Bedeutung des urtümlichen kannibalistischen Aktes. Demnach ist die Einverleibung des Urvaters durch seine Söhne als symbolische Handlung zu verstehen. Diese stellt sicher, dass das geistige Erbe des Vaters in seinen Nachkommen weiterlebt, ohne dass es sie jedoch in ihrer kreativen Entfaltung hemmt.
Als Teil ihres eigenen geistigen Potenzials können die Nachkommen das geistige Erbe der Vorfahren frei verwenden und an ihre jeweiligen Bedürfnisse und die äußeren Gegebenheiten anpassen. In diesem Sinne spricht de Andrade von der Notwendigkeit einer „permanenten Verwandlung von Tabu in Totem“ [6].
Übertragen auf die Beziehung zum ehemaligen Mutterland Portugal und auf die europäische Geistesgeschichte im Allgemeinen bedeutet dies, dass die brasilianische Kultur diesen gegenüber mit einem größeren Selbstbewusstsein auftreten sollte: Sie soll sich lediglich das „einverleiben“, was ihr für ihre eigene Entfaltung von Nutzen ist, anstatt sich wie bisher sklavisch an Entwicklungen anzupassen, die auf ihre eigene Realität gar nicht oder nur bedingt zu übertragen sind.
Emanzipatorischer Kern der anthropophagischen Bewegung
Die anthropophagische Bewegung war demnach in erster Linie ein Ausdruck für geistige Emanzipationsbestrebungen innerhalb der brasilianischen Intellektuellenszene. Die Abgrenzung zur europäischen Leitkultur erfolgte dabei auf zwei Ebenen:
- Zum einen wurden Praktiken und Theoreme der modernen Kunst rezipiert, die als antitraditionalistisch und damit den eigenen Autonomiebestrebungen analog wahrgenommen wurden.
- Zum anderen wurde auf Elemente der indigenen Kulturen Brasiliens Bezug genommen, die als Antithese zur europäischen Kultur und Geistesgeschichte herausgestellt wurden.
Beide Aspekte ließen sich insofern gut miteinander verbinden, als die moderne Kunst in der Malerei maßgeblich von der Unterströmung des Primitivismus beeinflusst war. Gemeint war damit eine Rückkehr zu den als urtümlich empfundenen Lebens- und Kunstformen indigener Völker.
Einen unmittelbaren Ausdruck fand diese Haltung etwa im Werk Paul Gauguins. Indirekt ist hiervon aber auch der Kubismus beeinflusst, insbesondere im Werk Pablo Picassos.
Oswald de Andrades Gedicht A procissão (Die Prozession)
In seinem Manifesto antropófago veranschaulicht Oswald de Andrade sein dichterisches Ideal durch einen sprunghaft-elliptischen, aphoristischen Stil. Dieser vermittelt den Eindruck eines dynamisch vorwärtsdrängenden, netzartigen Denkens, das mehrere Aspekte gleichzeitig berührt und miteinander verknüpft.
Einen ähnlich assoziativen Ansatz verfolgt de Andrade auch in seiner Dichtung. Diese vermeidet komplexe lyrische Ausdrucksformen und ähnelt stattdessen eher einer Poesie des Alltags, wie sie später etwa auch von Jacques Prévert gepflegt worden ist. Ein Beispiel dafür ist sein Gedicht A procissão (Die Prozession):
Die Prozession
Die Autofahrer sind verärgert
weil sie halten müssen vor der kleinen Prozession
aber sie nehmen dennoch ihre Mützen ab und beten
vor der schönen kleinen Prozession
die sich verliert in einem dunklen Teil der Stadt
mit ihren Wimpeln
den lächerlichen grünen Fähnchen
von Kindern stolz dem Zug vorangetragen
als Auszeichnung für lächerliche Folgsamkeit
gehen sie im Gänsemarsch
mit ihren Wimpeln
den lächerlichen grünen Fähnchen
und einer Sänfte mit Unserer Lieben Frau
getragen von vier blütenweißen Töchtern
der Makellosen Unbefleckten
ein Wunder des Lebens und der Balance
umstrahlt von dem leuchtenden Thron
des Heiligen Geistes
mit seinen grüngelb schillernden Flügeln
über den Wimpeln
den lächerlichen grünen Fähnchen
und dem stolzen Priester an der Spitze
der den Verkehr zum Stillstand gebracht hat
mit dem Herrn in seinen Händen
und einem Dobrado* in seinem Rücken [7]
Das Gedicht als Beispiel für eine „anthropophagische“ kulturelle Praxis
Das Gedicht lässt, unterstützt durch die fehlende Interpunktion, die bei einer katholischen Prozession entstehenden Eindrücke unmittelbar ineinander überfließen. Es stellt damit ein sprachliches Äquivalent dar für das Kaleidoskop aus bunten Bildern, als das sich der vorüberziehende Prozessionszug dem Betrachter darbietet.
Auffallend ist zudem die ironische Distanz, aus der die Prozession beschrieben wird. Dies gilt bereits für den Beginn des Gedichts, wo die wegen des erzwungenen Stillstands verärgerten Autofahrer das Haupt nichtsdestotrotz artig zum Gebet senken.
Von Ironie ist aber auch die Beschreibung des Prozessionszugs selbst bestimmt. So wird an der Jungfrau Maria, die als Statue in dem Zug mitgeführt wird, nicht ihre Reinheit gerühmt, sondern die Balance, mit der sie auf ihrer Sänfte gehalten wird. Und der vermeintliche Stolz der Kinder, die als Lohn für ihr gehorsames Befolgen der Gebote dem Zug voranschreiten dürfen, wird durch die Lächerlichkeit der grünen Fähnchen in ihren Händen konterkariert.
Das Gedicht ist darüber hinaus auch ein Beispiel dafür, was „anthropophagische“ Kultur in der Praxis bedeuten kann. Denn der über der Prozession schwebende Heilige Geist erscheint hier nicht als Manifestation des katholischen Glaubens, sondern als Inspirationsquelle für die heimische Kultur. Er trägt den Sinn nicht allein in sich selbst, sondern ist auch und vor allem geistige Nahrung für einen anderen kulturellen Kontext.
In diesem Sinne spricht de Andrade in seinem anthropophagischen Manifest auch von einer geistigen Neugeburt Christi in seiner Heimat:
„Wir haben Christus in Bahia geboren. Oder in Belém do Pará.“ [8]
Folglich mag der Priester am Ende zwar „den Herrn in seinen Händen“ tragen. Der gesamte Prozessionszug wird jedoch von einer heimischen Musik getragen, die ihrerseits wieder auf der Einverleibung bzw. kreativen Anverwandlung eines anderen Musikstils beruht. „Anthropophagische Kultur“ erscheint damit hier als dynamischer Prozess, bei dem verschiedene geistige Inhalte und kulturelle Praktiken in einen Dialog miteinander eintreten und sich so gegenseitig befruchten.
Dahinter steht der übergeordnete Gedanke eines Empowerments von Sub- und Minderheitskulturen gegenüber der jeweiligen Mehrheitskultur. An die Stelle des Dominanzanspruchs einer einzelnen Kultur soll ein dialogisches Verhältnis treten, bei dem die Kulturen aufeinander zugehen und voneinander lernen. Dieser Gedanke ist gerade heute, wo die Berührung mit fremden Kulturen vielfach wie eine ansteckende Krankheit gefürchtet und entsprechend abgewehrt wird, besonders aktuell.
Nachweise
[1] Bopp, Raul: Vida e morte da Antropofagia (1977), hg. Von Réris Bonvicino, S. 26. Rio de Janeiro 2008: José Olympio (PDF). Der Band enthält neben einer Einführung von Réris Bonvicino auch weitere Aufsätze von Bopp zu anthropophagischer Bewegung und Modernismus, Oswald de Andrades Manifesto Antropófago sowie einen abschließenden Artikel von Maria Amélia Mello zur anthropophagischen Bewegung („Tupy or not Tupy, ainda a questão“ – Tupi oder nicht Tupi, das ist noch immer die Frage).
[2] Vgl. ebd., S. 27 f.
[3] Vgl. ebd., S. 28 f.
[4] Ebd., S. 29 (übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch).
[5] Vgl. Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker (1913). In: Ders.: Gesammelte Werke, Band IX, herausgegeben von Anna Freud, Edward Bibring und Ernst Kris. London 1944: Imago (PDF); freud-online.de.
[6] Andrade, Oswald de: Manifesto antropófago (PDF, S. 4). In: Teles, Gilberto Mendonça: Vanguarda européia e modernismo brasileiro: apresentação e crítica dos principais manifestos vanguardistas (Europäische Avantgarde und brasilianischer Modernismus: Vorstellung und kritische Betrachtung der wichtigsten avantgardistischen Manifeste). Kommentar und Verweise:
[7] Andrade, Oswald de: A procissão (Die Prozession; aus: Pau-Brasil, 1925). In: Obras Completas VII: Poesias Reunidas (1971), S. 121 f. Rio de Janeiro 4. Aufl. 1974: Civilização Brasileira (PDF).
[8] Andrade, Oswald de: Manifesto antropófago (s. Anm. 6), S. 4.
Bilder: Alexis Diaz / INTI (1982 geborene Street-Art-Künstler aus Puerto Rico bzw. Chile): La Madone de São Paulo (Die Madonna von São Paulo); Wandbild zum Dia dos Mortos bzw. Dia de Finados (Tag der Toten) am 2. November 2015, fotografiert im November 2016 von Wilfredor (Wikimedie Commons);; Oswald de Andrade (1890 – 1954); um 1920Wikimedia commons (Fotograf unbekannt); Erstveröffentlichung von Oswald de Andrades Manifesto antropófago in der Zeitschrift Revista de Antropofagia; in der Mitte eine Zeichnung mit den äußeren Konturen des Gemäldes Abaporu (Menschenfresser) von de Andrades damaliger Gattin Tarsila do Amaral (1886 – 1973); Wikimedia commons

