Die Paradoxie des Himmelfahrtsgedankens
Eine Meditation von Bruder Norabus
Christi Himmelfahrt ist ein Beispiel für die paradoxale Struktur des Göttlichen: Gerade im Akt des Verlassens offenbart es seine irdische Präsenz. – Eine Meditation von Bruder Norabus.
Eine strenge Religionslehrerin
In meiner Schulzeit hatte ich eine Zeit lang eine recht strenge Religionslehrerin. Eine von der Sorte, die stolz darauf ist, auch in Religion Fünfen zu verteilen. Mit anderen Worten: Es war nicht gerade eine Lehrerin, die Kinder dazu motiviert, ins Kloster einzutreten.
Dass ich trotzdem später diesen Weg eingeschlagen habe, liegt vielleicht an dem Material, auf das diese Lehrerin sich in ihrem Unterricht gestützt hat. Natürlich gehörte es auch zu ihrem Repertoire, uns immer wieder Bibeltexte abschreiben zu lassen, die niemand von uns wirklich verstand. Daneben setzte sie aber auch ein Heft ein, in das wir zu den jeweils thematisierten Ereignissen Bildchen einkleben mussten.
Wie alle Kinder liebte ich Klebebildchen. Also hat mich das Heft bis zu einem gewissen Grad mit dem ansonsten wenig kindgerechten Religionsunterricht versöhnt.
Besonders beeindruckt hat mich das Bild zu Christi Himmelfahrt: Majestätisch auf einer Wolke thronend, den Blick in das göttliche Licht gerichtet, entschwebte Jesus von der Erde. Dies alles war verbunden mit einer elektrisierenden Verheißung aus der Apostelgeschichte: Auch diejenigen, die Jesus nachfolgen, würden die „Kraft des Heiligen Geistes empfangen“, der solche Himmelsreisen auf Wolkenfähren ermöglichte.
Was konnte das anderes bedeuten, als dass Jesus mich, wenn ich nur fest genug an ihn glaubte, dereinst von der gestrengen Religionslehrerin befreien würde? Dass das schulische Jammertal ein Ende nehmen würde, sobald ein Platz auf der Wolkenfähre für mich frei wäre?
Ein kosmisches U-Boot
Als ich später einsehen musste, dass die Himmelfahrt des Heilands nur wieder irgend so ein kryptisches Gleichnis war, war das für mich schlimmer als die Erkenntnis, dass der Weihnachtsmann in Wahrheit Onkel Anton war, ein im wirklichen Leben nicht eben umgänglicher und schon gar nicht freigiebiger Zeitgenosse. Glücklicherweise hatten wir da längst eine andere Religionslehrerin bekommen, die weniger Wert darauf legte, den Religionsunterricht in der Art eines Höllenhundes gegen mögliche Geringschätzung zu verteidigen.
Dennoch war mir Christi Himmelfahrt seitdem verleidet – um nicht zu sagen: Das Fest war mir suspekt. Es erschien mir wie die Party eines Hochstaplers, der Tickets in den Kosmos verkauft, obwohl er noch nicht einmal ein funktionstüchtiges Raumschiff besitzt.
Versöhnt habe ich mich mit dem Festtag erst wieder, als ich die Himmelfahrtswolke in einem neuen Licht sah; als ich erkannte, dass es sich dabei in Wahrheit weniger um eine Fähre als um eine Art kosmisches U-Boot handelte. Denn in der Apostelgeschichte ist ja keineswegs die Rede davon, dass Jesus die Wolke besteigt und auf ihr in den Himmel entschwebt. Vielmehr heißt es dort, dass er von der Wolke „aufgenommen“ wird, dass er also in und mit ihr in ein anderes Reich entgleitet, das sich den Blicken der Normalsterblichen entzieht.
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Bild: William Brassey Hole (1846 – 1917): Die Himmelfahrt Jesu; Wikioo.org