Die brasilianische Dichterin Patrícia Galvão (Pagu)/2
Bei ihrem Kampf für eine gerechtere Gesellschaft stieß Patrícia Galvão immer wieder an unüberwindbare Grenzen. Dies stürzte sie mehrmals in schwere existenzielle Krisen. Davon zeugt u.a. ihr Gedicht Natureza morta (Stillleben).
Stillleben (Tote Natur)
Die Bücher kehren mir den Rücken zu
auf fernen, umgeworfenen Regalen.
Ich, ein stummes Bild,
ein ausgestopfter, aufgespießter Vogel,
hänge regungslos an einer Wand.
Einen Nagel haben sie getrieben
mitten durch mein Herz.
Ich kann sehen, doch
ich fühle nicht mehr, was ich sehe.
Erstarrt ist mein Blick,
erstarrt wie meine Finger,
erfroren mitten im Satz.
Die Buchstaben zerfließen
zu blauen Blutgerinnseln
in der Leere dieses papierenen Meeres.
Meine Füße tragen mich nicht mehr,
das Blut weint in meinen Adern.
Kinder schreien,
Männer fallen,
Stunden zerrinnen,
Kerzen verglühen.
Häuser wachsen empor und stürzen ein,
Dinge entstehen und nähren den Müll,
das Geld vermehrt sich und verfällt.
Liebende schlendern lustwandelnd vorbei,
Bäuche schwellen an und platzen auf
in der Leere des Menschenmeeres.
Verschwimmende Fragen im Tanz
des schwindenden Zigarettenrauchs:
Warum stirbt der Dichter nicht?
Warum wird schwerer das Herz
mit jedem Jahr?
Warum wachsen noch Kinder heran?
Wohin führen all die Straßen?
Worüber reden all die Zeitungen?
Wen erreichen all die Briefe?
Wovor schützen all die Dächer?
Weshalb verschonen die Fluten sie?
Wieso nimmt das Meer sie nicht auf
in der Leere seines Schoßes?
Ich, eine verfaulende Frucht,
versinke in einem weißen Nichts.
Könnte ich doch meine Fingernägel graben
aufbrechend in diese gläserne Wand!
Doch die Leere meines Kerkermeeres
bleibt undurchdringlich für mich.
Es pulsiert nicht an meiner Haut,
es ist stumm und unempfänglich
für den salzigen Rauch meiner Tränen.
In der Leere dieses eisigen Meeres
gefriert selbst das Echo menschlichen Trostes.
Noch nicht einmal die Raben erbarmen sich
meiner verrottenden Seele.
Patrícia Galvão: Natureza morta (Erstveröffentlichung August 1948 unter dem Pseudonym Solange Sohl in der Literaturbeilage der Zeitung Diário de São Paulo)
Politische Reisen
Nachdem sie anfangs zunächst als eine Art „femme fatale“ der brasilianischen Literaturszene wahrgenommen worden war, erarbeitete Patrícia Galvão (Pagu) sich rasch einen Ruf als politisch engagierte Schriftstellerin. Spätestens mit ihrem 1933 erschienenen Roman Parque Industrial (Industriegebiet), der sich mit den Arbeitsbedingungen von Frauen in der Textilindustrie auseinandersetzt, etablierte sie sich als ernst zu nehmende Autorin.
Parallel dazu beteiligte Galvão sich auch verstärkt am politischen Kampf gegen die Diktatur unter Getúlio Vargas und für eine sozial gerechtere Gesellschaft. Dafür trat sie auch in die Kommunistische Partei Brasiliens (PCB) ein. In enger Abstimmung mit dieser nahm sie in den 1930er Jahren eine ausgedehnte Reisetätigkeit auf.
So reiste sie eigens in die uruguayische Hauptstadt Montevideo, um dort den nach der Errichtung der Diktatur ins Exil geflohenen Generalsekretär der PCB zu treffen. In Argentinien tauchte sie in die Kunstszene des Landes ein und traf u.a. auf die feministische Autorin Victoria Ocampo Aguirre, die Schriftsteller Eduardo Mallea und Jorge Luis Borges sowie auf dessen Schwester, die Malerin Norah Borges.
Im August 1933 brach sie in Absprache mit der PCB zu einer Reise rund um die Welt auf, um im Ausland Kontakte zu knüpfen und von sozialen Bewegungen in anderen Ländern zu berichten. Nach Stationen in Kalifornien, Japan, China, Russland, Polen und Deutschland endete ihre Reise 1934 in Frankreich.
Mehrfache Verhaftungen
In Paris war sie als Journalistin und Übersetzerin für den Film tätig und traf mit zentralen Vertretern des französischen Surrealismus – wie André Breton, Benjamin Péret, Louis Aragon und Paul Éluard – zusammen. Obwohl sie mit gefälschten Papieren eingereist war, versteckte sie sich nicht, sondern trat der Kommunistischen Partei Frankreichs bei und beteiligte sich an Straßenprotesten. Nachdem sie mehrmals verhaftet worden war, wurde sie schließlich ausgewiesen und reiste nach Brasilien zurück.
In São Paulo nahm Galvão ihre Tätigkeit als kritische Journalistin wieder auf. Nach einer Teilnahme an einem kommunistischen Aufstand wurde sie 1936 zu zwei Jahren Haft verurteilt, floh ein Jahr später aus der Krankenstation und wurde daraufhin als Staatsfeindin ersten Ranges polizeilich gesucht. Sie wurde gefasst und zu weiteren zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Erst 1940 kam sie aus der Haft frei.
Im Gefängnis arbeitete sie an Ergänzungen zu einem Roman, den sie vor ihrer Inhaftierung geschrieben und an einem geheimen Ort vergraben hatte. Als sie aus der Haft entlassen wurde, musste sie jedoch feststellen, dass an der Stelle ein Gebäude errichtet worden und ihre Arbeit verloren war.
Bruch mit der Kommunistischen Partei
Bereits während ihres Aufenthalts in Russland waren in Galvão Zweifel an einem doktrinären Kommunismus und insbesondere an der führenden Rolle der Sowjetunion auf dem Weg zu einer idealen kommunistischen Gesellschaft aufgekommen. So schreibt sie rückblickend in ihrer 1950 erschienenen autobiographischen Schrift Verdade e Liberdade (Wahrheit und Freiheit):
„Das Ideal zerbrach in Russland angesichts des elenden Lebens der Kinder in den Gassen, der barfüßigen Kinder und ihrer vor Hunger vorquellenden Augen. In Moskau gab es ein großes Luxushotel für hochrangige Bürokraten, für Kommunismus-Touristen, für reiche Ausländer. Auf der Straße hungernde Kinder: Das war das kommunistische Regime.“
Die Konsequenz aus diesen Beobachtungen war für Galvão keineswegs ein Bruch mit ihrem Ideal einer gerechteren Gesellschaft. Was für sie in Russland zerbrach, war lediglich der Glaube an einen orthodoxen Marxismus, dessen Lehren unzureichend an die realen Gegebenheiten angepasst werden. Die logische Folge daraus war für sie, dass die kommunistischen Lehren überprüft und im Lichte ihrer konkreten Auswirkungen neu diskutiert werden müssten.
Nach ihrer Haftentlassung musste Galvão jedoch feststellen, dass der Partei an eben solchen Diskussionen nicht gelegen war. Diese wollte stattdessen, wie die Autorin rückblickend schreibt, „Menschen ohne Skrupel“ haben, Personen „ohne Persönlichkeit, die nicht diskutierten“.
Das Erschrecken darüber, dieser Linie „von meinem zwanzigsten bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr“ gefolgt zu sein, ist Galvãos Erinnerungen deutlich anzumerken. Sie scheint selbst nicht mehr zu verstehen, wie sie blind „den Befehlen der Partei“ gehorchen und vorformulierte Erklärungen unterschreiben konnte, „ohne sie zu lesen“.
Als sie dieses Verhalten nach ihrer Haftentlassung in Frage stellte, wandte die Partei sich von ihr ab. Sie musste ein Papier unterschreiben, „in dem die Partei sich von jeglicher Verantwortung freisprach“. Darin wurde sie als „Provokateurin“ und „unerfahrene Einzelkämpferin“ hingestellt, die durch ihr Verhalten selbst die Schuld für all das Leid trage, das sie – wie sie geglaubt hatte – im Kampf an der Seite der Genossen auf sich genommen hatte.
Neuanfang in den 1940er Jahren
Im Anschluss an ihre Haftzeit bemühte Galvão sich in vielerlei Hinsicht, ein neues Leben anzufangen. Nachdem ihre Ehe mit Oswald de Andrade zerbrochen war, ging sie mit dem Journalisten und Schriftsteller Geraldo Ferraz eine neue Verbindung ein. Aus der Ehe mit ihm ging 1941 ihr zweiter Sohn hervor, den sie nun gemeinsam mit dem Sohn aus ihrer ersten Ehe aufzog.
Mit Ferraz verband sie zudem eine intensive schriftstellerische und journalistische Arbeit. So schrieb sie zusammen mit ihm den 1945 erschienenen Roman A Famosa Revista (Die berühmte Zeitschrift), der sich vor dem Hintergrund einer Liebesgeschichte zwischen zwei Intellektuellen mit dem Dogmatismus und Autoritarismus der Kommunistischen Partei auseinandersetzt.
Auch bei ihrer journalistischen Tätigkeit arbeitete Galvão eng mit Ferraz zusammen. Dies gilt sowohl für ihre politischen als auch für ihre literaturkritischen Arbeiten. Unter anderem war sie mit ihm für den Literaturteil der Zeitung Diário de São Paulo verantwortlich. Dafür übersetzte sie auch immer wieder zentrale Autoren der literarischen Moderne, die sie so dem brasilianischen Publikum zugänglich machte.
Eine weitere Facette ihres Schaffens dieser Jahre sind die erst in den 1990er Jahren wiederentdeckten Kriminalgeschichten, die sie unter dem Pseudonym „King Shelter“ in der Zeitschrift Detective veröffentlichte.
Natureza morta: ein Gedicht als Ausdruck erlittener Traumata
Dies alles klingt nach einem erfüllten Leben und einem gelungenen Neuanfang. Offenbar konnte Galvão aber das doppelte Trauma, das sie in den 1930er Jahren erlitten hatte, trotz allem nicht überwinden.
Die Haftbedingungen, denen sie ausgesetzt war, hätten als traumatische Erfahrung sicher schon ausgereicht. Schließlich waren in den damaligen brasilianischen Gefängnissen Folter und systematische Erniedrigung der Gefangenen an der Tagesordnung. Hinzu kam aber noch der Verrat durch jene, die sie für ihre Vertrauten gehalten hatte und mit denen sie für das gemeinsame Ideal einer besseren Welt gekämpft zu haben glaubte. Beides zusammen scheint in Galvão ein Gefühl der Ohnmacht und Erniedrigung ausgelöst zu haben, das trotz ihres ausgefüllten Lebens als Grundstimmung in ihr präsent blieb.
Eben hiervon handelt das eingangs wiedergegebene Gedicht. Es erzählt von der Stimmungslage eines Menschen, dessen Geist von der Welt abgeschnitten ist: Die Bücher sprechen nicht mehr zu ihm, die eigenen Gedanken verweigern sich der Schrift. Die Flügel des Geistes sind nicht nur gestutzt – er ist so leblos wie ein ausgestopfter Vogel, aufgespießt wie eine Trophäe von Jägern, die ihm seine Fähigkeit zum freien Flug missgönnen.
Hieraus ergibt sich das Gefühl einer umfassenden Sinnlosigkeit. Der gesamte Alltag, all das, was das Leben ausmacht, erscheint auf einmal fragwürdig. Nichts ist mehr selbstverständlich, wenn man aus dem Strom des Alltags aussteigt.
Dabei muss man sich vor Augen halten, dass für Galvão Kunst und Leben immer eng miteinander verbunden waren. Ihre künstlerischen Aktivitäten haben ihre politischen Überzeugungen widergespiegelt, wie umgekehrt ihr politisches Handeln stets von ihren schriftstellerischen Reflexionen beeinflusst war und auf diese zurückgewirkt hat. Das Gefühl, wie durch eine unsichtbare Wand vom wirklichen Leben abgeschnitten zu sein, musste für sie folglich besonders schmerzhaft sein.
Wie ernst es ihr mit den im Gedicht zum Ausdruck gebrachten Gefühlen war, zeigte sich im Jahr nach dem Erscheinen des Gedichts, als Galvão einen Selbstmordversuch unternahm. Aus der Einheit von Kunst und Leben war eine Brücke in den Tod geworden. „Natureza morta“ ist insofern hier nicht nur im Sinne von „Stillleben“, sondern auch im Sinne von „tote Natur“ zu verstehen.
Zitate entnommen aus: Galvão, Patrícia: Verdade e Liberade (Wahrheit und Freiheit; 1950).
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Bild: Magnus Enckell (1870 – 1925): Verzweiflung (1919); Wikimedia commons