Die brasilianische Dichterin Patrícia Galvão (Pagu)
Patrícia Galvão (Pagu; 1910 – 1962) ist heute eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Brasiliens. Als sie Ende der 1920er Jahre die literarische Bühne São Paulos betrat, rühmten die Männer – wie ein Gedicht von Raul Bopp zeigt – sie aber vor allem für ihre Schönheit.
Süße Pagú
Pagú hat samtweiche Augen,
Augen, die – ich weiß nicht, warum –
einen süßen Schmerz in der Seele entzünden,
wenn man ihnen nahe kommt.
Hey, Pagú, hey,
wie gut tut dieser Schmerz!
Ach, Pagú, Pagú,
ich weiß nicht, wie du es machst,
doch die Leute, ob sie wollen oder nicht,
müssen dich ganz einfach lieben.
Dein schlangenhafter Körper
windet sich geschmeidig und verführerisch,
und er verströmt ein süßes Gift,
das herrlich auf den Lippen brennt.
Ich folge dir, wohin du willst,
auch wenn ich nicht weiß, ob du mich willst.
Lass mich dein sein, Pagú,
lass mich dir auf allen Wegen folgen!
Lass mich in deiner Nähe sein,
ganz nahe bei dir sein,
komm zu mir, Pagú,
lass mich immer bei dir sein!
Raul Bopp (1898 – 1984) / Laura Suarez (1909 – 1990):
Coco de Pagú, 1930 [1]
Vertonung von Laura Suarez:
Ein prägendes dichterisches Porträt
Ende der 1920er Jahre fand eine junge, noch nicht 18-jährige Frau Aufnahme in die Kreise der künstlerischen Avantgarde São Paulos. Ihr Eintrittsticket bestand außer einigen gesellschaftskritischen Artikeln, die sie unter dem Pseudonym „Patsy“ veröffentlicht hatte, in ihrem geistreichen Charme und in ihrer außergewöhnlichen Schönheit.
Welche Wirkung sie damit auf die überwiegend männlichen Mitglieder der avantgardistischen Zirkel ausübte, bezeugt das eingangs wiedergegebenen Gedichts von Raul Bopp. Es prägte nachhaltig das Bild der Angebeteten in der Öffentlichkeit – zumal es kurz nach seiner Entstehung auch vertont wurde und so ein breiteres Publikum erreichte. Dies betrifft nicht nur die Beschreibung ihrer unwiderstehlichen Schönheit, sondern auch den Namen, der ihr über den Tod hinaus anhängen sollte.
Dabei beruht der Name auf einem Missverständnis. Raul Bopp glaubte ihn aus den Anfangsbuchstaben des Vor- und Nachnamens der jungen Frau zu formen. Diese hieß jedoch nicht, wie er annahm, Patrícia Goulart, sondern Patrícia Rehder Galvão. Ihr erster Nachname verweist auf ihre teilweise deutschstämmige Mutter, ihr zweiter Nachname auf ihren Vater, einen Journalisten mit portugiesischen Wurzeln. Sie war bis 1925 im dörflichen Umland der brasilianischen Hauptstadt aufgewachsen, ehe die sechsköpfige Familie 1925 nach São Paulo umzog.
Muse mit eigenem Mund
Patrícia Galvão war sich ihrer Wirkung auf Männer durchaus bewusst. Mit 17 Jahren nahm sie an einem Schönheitswettbewerb teil, und das schwärmerische Gedicht von Raul Bopp hat sie selbst vorgetragen.
Die Fotos aus jenen Jahren vermitteln jedoch alles andere als jenes Bild, das die männlich dominierte Künstlerwelt mit der Schönheit der jungen Frau verband. Während die männlichen Künstler in ihr eine Muse sahen, die sie in ihrer Arbeit motivieren und inspirieren sollte, inszenierte Galvão sich als eine Art Vamp, als Frau, die ihre Schönheit gezielt zur Durchsetzung eigener Interessen einsetzte.
Diese Interessen waren zum einen künstlerischer, zum anderen politischer Natur. Auf der künstlerischen Ebene ging es Galvão darum, sich einen eigenen Platz als Künstlerin in der Gesellschaft zu erarbeiten. Davon zeugt insbesondere ihr zwischen 1928 und 1930 entstandenes Álbum de Pagu (Pagus Album), dessen Untertitel sich in ironischer Weise an die Passionsgeschichte anlehnt: Nascimento, vida, paixão e morte (Geburt, Leben, Passion und Tod) [2].
Selbstbewusst bedient sie sich in dem Buch des Namens, unter dem Raul Bopp sie bekanntgemacht hatte. Das Buch verwebt aphoristische Texte und Gedichte mit spontaneistischen Zeichnungen zu einem künstlerischen Feuerwerk, mit dem die Autorin an die modernistische Bewegung ihrer Zeit anknüpft. Das Buch wurde allerdings erst 1975, 13 Jahre nach dem Tod der Künstlerin, veröffentlicht. Zur damaligen Zeit konnte sie nur einzelne Texte und Zeichnungen veröffentlichen.
Eine politisch engagierte Künstlerin
Der Nonkonformismus beschränkte sich bei Galvão indessen nicht auf den Bereich der Kunst. Er war bei ihr vielmehr eine allgemeine Lebenseinstellung, die sie auch im Alltag und in ihrer Haltung gegenüber der Gesellschaft zum Ausdruck brachte.
Dies spiegelte sich zum einen in ihrem Widerstand gegen bürgerliche Konventionen wider. So ging sie nicht nur eine Beziehung mit dem verheirateten Dichter Oswald de Andrade ein, sondern zelebrierte ihre Hochzeit mit ihm am Grab von dessen Eltern – einen Monat vor der eigentlichen Trauung.
Zum anderen engagierte Galvão sich aber auch ganz konkret für eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dieses Engagement verstärkte sich, als es im Oktober 1930 nach einem Militärputsch zur Errichtung einer Diktatur unter Getúlio Vargas kam.
Die Künstlerin trat nun der Kommunistischen Partei Brasiliens (PCB) bei und nahm auch aktiv an Protestkundgebungen teil. Eine davon führte sie im August 1931 nach Santos, wo Hafenarbeiter für mehr Rechte demonstrierten. Als dabei ein Arbeiter durch Schüsse der Polizei tödlich verwundet wurde und Galvão sich um den Schwerverletzten kümmerte, sah sie sich zum ersten Mal unmittelbar mit der Macht des Staates konfrontiert und wurde verhaftet [3].
Proletarischer Feminismus
Weit davon entfernt, sich durch die Inhaftierung einschüchtern zu lassen, verfasste Galvão ihren 1933 veröffentlichten Roman Parque Industrial (Industriegebiet). Das Werk, das als erster im proletarischen Milieu spielender Roman Brasiliens gilt, setzt sich mit den sozialen Folgen der brasilianischen Industrialisierung auseinander.
Im Mittelpunkt des Romans steht das Schicksal der Textilarbeiterinnen von São Paulo. Für die Arbeit an dem Roman war die Autorin eigens in einen Arbeiterviertel umgesiedelt und hatte eine Zeit lang selbst als Weberin gearbeitet.
Dass sie den Roman nicht unter dem Pseudonym „Pagu“ veröffentlichte, sondern dafür den Namen „Mara Lobo“ wählte, ist zum einen sicher dem Bemühen geschuldet, ihre Identität zu verschleiern. Zum anderen markiert dies jedoch auch einen Bruch mit ihrem früheren, auf ihrer weiblichen Schönheit beruhenden Ruf.
Ihre Schönheit nämlich empfand Galvão zunehmend als lästig. Es störte sie – wie sie rückblickend schreibt – mehr und mehr, dass die männlichen Platzhirsche sich weit weniger für ihr Denken und Handeln als für ihr Äußeres interessierten:
„Es gab Momente, in denen ich meine Situation als Frau angesichts all der lüsternen Blicke verfluchte. Als Mann hätte ich wohl ruhiger durch die Straßen gehen können.“ [4]
So lehnte sie, als sie später auf einer Reise nach Kalifornien in Hollywood Station machte, auch ein Angebot für eine Karriere als Filmschauspielerin ab. Sie wollte nicht als Projektionsfläche für Träume dienen, sondern die Träume handelnd der Wirklichkeit annähern. Außerdem wusste sie – lange vor der Me-Too-Bewegung – um die unausgesprochenen Gegenleistungen, die dafür von ihr erwartet worden wären.
Die Beschäftigung mit den unzumutbaren Arbeitsbedingungen von Frauen in der damaligen Textilindustrie ist auch bezeichnend für Galvãos Feminismusverständnis. So kritisierte sie die bürgerlichen Feministinnen für ihre Fokussierung auf „sexuelle Freiheit, bewusste Mutterschaft und das Wahlrecht für ‚gebildete Frauen'“. Bevor die soziale Frage nicht gelöst sei, würden die „Elitefeministinnen“ faktisch den arbeitenden Frauen „das Wahlrecht vorenthalten“, weil diesen „neben der Zwangsarbeit, der sie zur Versorgung ihrer Kinder nachgehen müssen“, keine Zeit bleibe, es wahrzunehmen [5].
Nachweise
[1] Raul Bopp: Coco de Pagú. „Coco“ leitet sich ab von „côco“ (Kokosnuss) und bezeichnet im Portugiesischen und Spanischen umgangssprachlich den menschlichen Kopf. Im gegebenen Zusammenhang erscheint jedoch die Etymologie des französischen Namens „Coco“ passender, der auf die Kakaobohne verweist und mit Süße und einem besonderen Liebreiz assoziiert wird. Die Nachdichtung folgt dem Liedtext, der vom Original in einigen Punkten abweicht.
[2] Álbum de Pagu: Nascimento, Vida, Paixão e Morte [Pagus Album: Geburt, Leben, Passion und Tod]. Revista Código, Salvador, Nr. 2, 1975. Auszüge aus dem Album finden sich auf antoniomiranda.com: Pagú (1910 – 1962).
[3] Vgl. hierzu Jackson, Kenneth David: A Denunciada Denuncia [She who was Denounced Denounces]. Pagu and Politics, 1931 – 1954. An Introduction to the Journalism of Patrícia Galvão. In: Literature and Arts of the Americas 39 (2006), Nr. 2, S. 228 – 235.
[4] Galvão, Patrícia: Paixão Pagu (Pagus Passion; autobiographische Schrift, die auf einem 1940 von der Autorin an ihren späteren Ehemann Geraldo Ferraz geschriebenen, tagebuchartigen Brief basiert), S. 139. São Paulo 2005: Agir.
[5] Galvão, Patrícia: Beitrag in der Rubrik A mulher do povo (Die Frau des Volkes). In: O homem do povo (Der Mann des Volkes), März 1931.
Bild: Unbekannter Fotograf: Patrícia Galvão, um 1928 (Wikimedia commons)