Gedichte von Delmira Agustini/7
In ihrem Gedicht Selene besingt Delmira Agustini die Mondgöttin. Das Gedicht eignet sich in besonderem Maße dazu, die Eigenart ihrer Lyrik zu charakterisieren.
Selene
Du, Medaillon der Nacht,
in dem das Bild des Tages sich verliert,
du, erster Traum der Welt,
verwundet von der Perle der Melancholie;
Du, Geistertempel und Seele der Nacht,
du traurige Braut in deinem Turtelturm,
du, unter deren Schleier Einsamkeit
und Geheimnis sich verschwistern.
Du, Paradiespilz und Himmelsblüte,
du weiße Lilie mit dem Nebelkelch,
du blasse Hexe, die mit ihrem Zauberlicht
verirrte Seelen durch die Nacht geleitet.
Du, kosmische Schlafwandlerin,
Talisman über der finsteren Schlucht,
Hostie und Hypnoseblick,
herrenloses Grab und weiße Wiege.
Delmira Agustini: Selene. Aus: El Rosario de Eros (Der Rosenkranz des Eros; 1924)
Selene als Göttin weiblicher Weisheit
Das Gedicht Selene erscheint in mehrfacher Hinsicht dazu geeignet, die Eigenart von Delmira Agustinis Lyrik zu charakterisieren. Dies gilt insbesondere für die spezifisch weiblichen Aspekte ihrer Dichtung.
Letztere werden natürlich zunächst durch die Mondgöttin betont – eine Gottheit, die durch den weiblichen Zyklus eine besondere Beziehung zum weiblichen Geschlecht hat. Als Schwester des Helios, des Sonnengottes, bezeugt Selene zudem die Assoziierung der Frau mit der Nacht. Darin spiegelt sich einerseits der männliche Anspruch wider, den Logos, also das Licht der Erkenntnis, zu repräsentieren, während die Frau für den Schoß der Erde, also das Instinkthaft-Dunkle, stehen soll.
Andererseits werden die Nacht und das Zwielicht des Mondes seit jeher auch mit dem Mysterium des Daseins in Verbindung gebracht, also mit all dem, was sich mit den Mitteln des Logos nicht restlos aufklären lässt. Dementsprechend war die Pythia, die als Seherin im berühmten Orakel von Delphi dem „hellen“ Gott Apollo als Medium diente, auch weiblicher Natur. Auch dass Eos, die Göttin der Morgenröte, als Schwester Selenes galt, bezeugt den weiblichen Anteil an der Entstehung des „Lichtes der Erkenntnis“.
Ein anti-logozentrisches Gedicht
Viele dieser mythologischen Elemente lassen sich in dem Gedicht von Agustini wiederfinden. So könnte man etwa die traumwandlerisch-hypnotische Kraft der Mondgöttin auf die Pythia beziehen. Ihre Charakterisierung als „blasse Hexe“ verweist auf die Verfolgungen, denen Frauen lange Zeit eben aufgrund ihrer Assoziierung mit dem anderen, „nächtlichen“ Wissen ausgesetzt waren.
Auch die Doppelbödigkeit der Nacht, die ebenso zu „Umnachtung“ führen wie als „Wiege“ neuer Sichtweisen auf das Dasein dienen kann, wird in dem Gedicht zum Ausdruck gebracht. Gleiches gilt für die Eigenart mondbeschienener Nächte, gleichermaßen Widerspiegelung von Einsamkeit und Melancholie wie eine Art rettender Hafen für verirrte Seelen und Geburtsort neuer Kreativität sein zu können. Als „weiße Lilie“ und „Turtelturm“ vereint die Mondgöttin in dem Gedicht zudem jungfräuliche Unschuld und Leidenschaft miteinander.
Auf der formalen Ebene manifestiert sich der weibliche, anti-logozentrische Charakter der Mondgöttin in einer Ausdrucksweise, welche die einzelnen Bilder assoziativ aneinanderreiht, anstatt sie logisch auseinander zu entwickeln. Dem entspricht ein elliptischer Satzbau, der die einzelnen Aspekte und Attribute der Mondgöttin jeweils nur schlaglichtartig benennt.
Das Gedicht ahmt damit die Bildersprache des Traumes nach, die sich ja ebenfalls durch plötzliche, überraschende und – aus der Perspektive unseres Alltagsdenkens – unlogische Wendungen auszeichnet. So wird das Wesen der Mondgöttin auch auf der formalen Ebene adäquat widergespiegelt.
Bild: Victor Florence Pollet (1811 – 1882): Selene und Endymion (zwischen 1850 und 1860; Ausschnitt); Wikimedia commons