Die schlangenhafte Dynamik des Lebens

Gedichte Delmira Agustinis/5

In ihrem Gedicht Serpentina (Die Schlange) vergleicht Delmira Agustini die innere und äußere Dynamik des Lebens mit den Windungen einer Schlange. Das Gedicht verweist so auf urtümliche Bilder von der sich selbst erneuernden Kraft des Lebens.

Die Schlange

Als Schlange gleite ich in meinen Liebesträumen
mit gebirgsbachhaften Schwüngen um dein Herz.
Meine Zunge ist mein Zauberstab, willenlos
versinkt dein Blick im Abgrund meiner Augen.

Das süße Gift meiner Liebkosungen
windet fest und fester sich um deinen Leib.
Ich bin das Tor zu einem dunklen Meer,
das dich mit Tränenwellen unter sich begräbt.

Doch auch in meinen hassgebor’nen Träumen
bin ich eine Schlange. Ein Brunnen aus reinem Gift
ist dann meine Zunge, ein luziferisches Leuchten
umstrahlt als finstere Gloriole mein Haupt.

Die Abendsonnenblicke meiner Augen
hüllen die Welt in Untergangsgedanken.
Und das brillant’ne Funkeln meines Leibes
ist nur die Maske eines tödlichen Gewitters.

Üppig wie mein Körper wuchert mein Geist.
Meine schlangenhaften Träume
durchpulsen verwandelnd die Welt
als wetterleuchtendes Bacchanal.

Delmira Agustini: Serpentina aus: El Rosario de Eros (Der Rosenkranz des Eros; 1924)

Die Liebe – Anfang und Ende des Paradieses

Delmira Agustinis Gedicht El vampiro (Der Vampir), auf das im vorigen Beitrag näher eingegangen wurde, thematisiert die dunkle Seite der Liebe – den Schmerz, den sie dem anderen durch Tod, Trennung oder Untreue zufügen kann. Vor diesem Hintergrund fragt das lyrische Ich sich zum Schluss, ob es „estirpe de una especie obscura“ (Nachkomme einer dunklen Art) sei.

Als weibliches Ich lässt es dabei an die Schlange aus dem Paradies denken, die  Adam und Eva zur körperlichen Liebe verführt hat. Damit hat sie deren Eintritt in die Welt des Werdens und Vergehens bewirkt, was gleichbedeutend ist mit der Vertreibung aus der ewigen, ungetrübten Sorglosigkeit des Paradieses.

Vor diesem Hintergrund muss auch das Gedicht Serpentina (die Schlange) gesehen werden. Denn darin vergleicht das lyrische Ich sich explizit mit einer Schlange.

Ambivalentes Schlangenbild

Das Schlangenbild bezieht sich in dem Gedicht zum einen auf körperliche Aspekte. So werden die Liebkosungen mit den wellenförmigen Bewegungen einer Schlange verglichen. Die Augen des (weiblichen) lyrischen Ichs haben hypnotische Kräfte, wie sie Schlangen zuweilen zugeschrieben werden, und die Zunge verfügt wie das Schlangengift über einen betäubend-betörenden Zauber.

Wie in El vampiro ist auch in Serpentina diese Form der Liebe unmittelbar bedrohlich für den Geliebten, der dadurch jederzeit in einen dunklen Abgrund hinabgezogen werden kann. Darüber hinaus bekennt sich das Ich in dem Gedicht aber auch ausdrücklich zu seiner ambivalenten Natur: Sein schlangenhaftes Wesen bezieht es nicht nur auf seine Liebes-, sondern auch auf seine Hassträume.

Die Schlangennatur wird dabei unmittelbar als „luziferisch“ (luzbélico) charakterisiert. Dementsprechend geht auch von dem Schlangengift – anders als es das Gedicht El vampiro nahelegt – keine geheime Süße mehr aus. Stattdessen wird es mit einer Urangst der Menschen assoziiert, nämlich der eines vergifteten Brunnens. Und das Glitzern des Schlangenleibes verhüllt lediglich seine todbringende Kraft.

Das Besondere an dem Gedicht ist allerdings, dass beides – die leidenschaftlich-hingebungsvolle wie die zerstörerisch-hassende Kraft der Liebe – bejaht wird. Die Gefühlskomplexe erscheinen so als die zwei Seiten der einen, die Dynamik des Lebens vorantreibenden Bewegung, die aus der Vernichtung des Alten immer wieder Neues entstehen lässt.

So erinnert das Schlangenbild hier auch an das urtümliche Symbol des Uroboros (Ouroboros), der sich selbst in den Schwanz beißenden Schlange, als Bild für das sich selbst immer wieder neu verschlingende und wiedergebärende Leben.

Bild: Franz von Stuck (1863 – 1928): Die Sünde (zwischen 1893 und 1912); Wikimedia commons

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