Der Geliebte als Erlöser

Gedichte Delmira Agustinis/3

In Delmira Agustinis Gedicht Oh, Tú erscheint der Geliebte als Wunder wirkender Erlöser, der die Liebende aus der Nacht der Melancholie befreit. Die religiösen Bezüge ihrer Liebeslyrik treten hier besonders deutlich zutage.

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Du

Gefangen war ich
im schiefen Turm der Melancholie.
Die Spinne der Trägheit hatte schon ganz
mich in ihr aschgraues Netz verwoben.

Verstört wie eine gefangene Eule
flatterte meine verwundete Seele
durch die feuchte Nacht des Turmes,
umschwirrt von grellen Traumgebilden.

Das uralte Schweigen des Turmes
ließ mir die Worte im Munde gefrieren.
Sein alles verschlingender Schatten
legte als Trauermantel sich um mein Herz.

Unfruchtbar ist alles, was der Turm gebiert.
Umnebelt vom bitteren Brot der Einsamkeit,
verliert sich der Blick in dem Trägheitsgespinst,
das immer dichter die Seele umschließt.

So drohte ich zu ertrinken
im Abgrund meiner eigenen Seele.
Taub war ich für das Flüstern
der uralten Eulenschwingen.

Zurückgeworfen auf mich selbst,
erfasste mich, die Schiffbrüchige des Lichts,
ein Schaudern vor der feuchten Tiefe
meines nachtschwarzen Seelenturmes.


Du aber hast mich dem Bann
des dunklen Turmes entrissen!
Den Schleier seines alles umwölkenden Schattens
hast du sanft von meinen Augen gehoben.

Rosen lässt du erblühen
im Eis meiner Seele,
Flammen hast du entzündet
im Steinbruch meines Körpers.

Du, der du Schwäne schweben lässt
auf meinem Tränenmeer,
du Allverwandler, Göttlicher,
der mir den Himmel erschlossen hat:

Lass, Herr, der funkelnde Kelch mich sein,
in den dein Wollen sich ergießt!
Nimm meine Hand, um Böses mit Gutem
und Gutes mit Bösem zu bewirken!

Eine gebrochene Lilie war ich,
aufrecht stehe ich nun vor dir,
von deiner Hand umfangen,
in deinem Atem geborgen.

Vergib mir, wenn, mein Gott!
ich jemals sündig träume,
wie ich auf deinen rauschenden Flügeln,
eins mit dir, durch das Sonnenlicht tanze.

Delmira Agustini: ¡Oh, Tú! Aus: Los Cálices Vacíos (Die leeren Kelche; 1913)

Die irdische als Brücke zur göttlichen Liebe

Im vorigen Beitrag dieser Reihe über Delmira Agustini wurde der mystische Kern in der Liebeslyrik dieser Dichterin herausgearbeitet. Wie der später heiliggesprochenen Teresa von Ávila, die ihrem Glauben auch dichterisch Ausdruck verliehen hat, geht es ihr letztlich um eine Auflösung des Ichs im Göttlichen. Die irdische ist damit eine Brücke zur göttlichen Liebe.

Noch deutlicher als in dem Gedicht Día nuestro, das im letzten Beitrag als Beispieltext diente, wird das in dem Gedicht Oh, Tú. Nicht nur wird der Geliebte hier im zweiten Teil des Gedichts explizit als „mein Gott“ angesprochen. Auch die Metaphorik verweist auf die Dichtung der Mystik.

Wie Teresa von Ávila davon spricht, ihr Leben ganz in Gottes Hand gelegt zu haben und von ihm in ihrem Tun gelenkt zu werden, vergleicht sich auch in Agustinis Gedicht das lyrische Ich mit einem Kelch, der erst durch Gottes Geist mit einem bewussten Wollen gefüllt werde. Indem aus diesem Bild auch der Titel des betreffenden Gedichtbandes abgeleitet ist, bezeugt die Dichterin zugleich die Bedeutung dieses Empfindungskomplexes für ihre Lyrik.

Und ob ich auch wanderte im finsteren Tal …

Hinzu kommt, dass der gesamte Aufbau des Gedichtes religiöse Implikationen aufweist. Indem er einen Weg vom Dunkel zum Licht nachzeichnet, greift er den Topos des finsteren Tals auf, aus dem Gott die in ihrer irdischen Verzweiflung gefangene Seele erlöst. Eben hierauf verweist der berühmte Psalm 23 der Bibel:

„So viel ich auch wand’re im finsteren Tal –
Ich fürchte doch kein Unglück,
denn du bist bei mir.
Der Herr ist mein Licht und mein Heil.“

Die Erlösungskraft des Geliebten stellt das Gedicht zusätzlich dadurch heraus, dass es dessen Wunder wirkende Kraft beschwört. So wird der Geliebte dafür gerühmt, Rosen im „Eis der Seele“ erblühen zu lassen und das Tränenmeer in Freudentränen zu verwandeln.

Die vergeistigte, göttliche Kraft der Liebe wird am Schluss des Gedichts noch einmal besonders hervorgehoben: Sie ist so stark, dass eine körperliche Annäherung an den Geliebten fast schon als „Sünde“ erscheint, weil sie den göttlichen Kern der Liebe beschmutzen könnte.

Bild: Jean Delville (1867 – 1953): L’oubli des passions (Jenseits der Leidenschaften; 1913); Wikimedia commons

Eine Antwort auf „Der Geliebte als Erlöser

  1. Avatar von Gamma Hans

    Gamma Hans

    Dem göttlichen Kern ist kein menschliches Auge gewachsen. Die Seele verspricht dem Mensch im Traum, ihm der Wegweiser für alle Tage des Lebens zu sein. Das Numinosem der Geschlechter, dem dazwischen die Menschen, zur Wiedergabe und dem Erhalt des Lebens eingespannt sind.

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