Die göttliche Kraft der Liebe

Die uruguayische Dichterin Delmira Agustini/2

Die uruguayische Dichterin Delmira Agustini ist insbesondere für ihre Liebeslyrik berühmt. Diese feiert die Liebe als einen Weg zum Göttlichen – und weist damit einen mystischen Kern auf.

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Unser Tag

Errötend reißt der Vorhang des Abends auf.
Das wundersame Leuchten deines Geistes
fließt in den Garten meiner Seele
und lässt die Feuerfrüchte reifen.

Flammenumsprüht lockt deine Liebe
mich in eine moosbedeckte Grotte,
an einen Bach aus reinem Honig,
der unsere Lippen mit Träumen benetzt.

Der Abendengel läutet seine Glocke.
Mein Geist, ein Fliederzweig, neigt sich
in deiner Hände Flügelgeflüster,
mein Leib hüllt dich in seinen Schleier.

Unter der Krone der Nacht
lässt der Zauber deiner Hände
Schatten tanzen und Sterne regnen
auf meines Körpers Himmelsgewölbe.

Delmira Agustini: Día nuestro aus: Los Cálices Vacíos (Die leeren Kelche; 1913)

Frühe Popularität durch Liebesgedichte

Delmira Agustini hat mit ihren Gedichten rasch literarische Berühmtheit erlangt. Dies lag natürlich zunächst an der frischen, innovativen Kraft ihrer dichterischen Ausdrucksweise.

Allerdings hat es der Dichterin sicher nicht geschadet, dass Liebesgedichte einen Schwerpunkt in ihrer Lyrik bildeten. Offenbar hat es die Phantasie der Zeitgenossen angeregt, dass hier eine junge Frau über ihre ganz persönlichen Liebesempfindungen gesprochen hat. Schließlich war dies zu jener Zeit noch keineswegs an der Tagesordnung – schon gar nicht im von Männern dominierten Literaturbetrieb.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Gedichte in irgendeiner Weise schlüpfrig gewesen wären. Will man das Wesen dieser Liebeslyrik erfassen, so empfiehlt es sich am ehesten, an einem Vorwort anzusetzen, dass der als Begründer des lateinamerikanischen Modernismo geltende nicaraguanische Autor Rubén Dario zu Agustinis Gedichtband Los Cálices Vacíos (Die leeren Kelche) geschrieben hat. Darin vergleicht er die Lyrik Agustinis mit der von Teresa von Ávila, jener später in den Heiligenstand erhobenen Nonne vom Orden der Karmeliterinnen, die im 16. Jahrhundert ihren religiösen Empfindungen auch in Gedichten Ausdruck verliehen hat.

Delmira Agustini und Teresa von Ávila

Dario bezieht sich mit seinem Vergleich zwar in erster Linie auf die spezifische Färbung, die „eine weibliche Seele mit dem Stolz der Wahrheit ihrer Unschuld und ihrer Liebe“ der Dichtung verleihen kann [1]. Dennoch scheint er dabei intuitiv auch eine andere, tiefer gehende geistige Verwandtschaft zwischen den beiden Dichterinnen erfasst zu haben – nämlich die geistige Dimension ihrer Liebeslyrik.

Um dies zu verdeutlichen, sei hier zunächst ein Ausschnitt aus einem Gedicht Teresas von Ávila zitiert. Darin meditiert sie darüber, was es für sie bedeutet, ihr Leben als Nonne Gott gewidmet zu haben. In einer Strophe des Gedichts drückt sie dies mit folgenden Worten aus:

„Seht hier mein Herz,
ich lege es in Eure Hand,
meinen Körper, meine Seele und mein Leben,
mein Innerstes und meine Hingabe,
süßer Bräutigam und Erlöser,
denn ich habe mich Euch dargeboten:
Was gebietet Ihr mir zu tun?“ [2]

Der Schlussvers kehrt leitmotivartig in jeder Strophe des Gedichts wieder. Damit wird die vollständige Überantwortung des eigenen Lebens in die Hand Gottes vor Augen geführt, wie sie für eine Nonne und einen Mönch durch das Ordensgelübde, die so genannte „Profess“, vollzogen wird.

Die hier zitierte Strophe macht deutlich, dass die Profess einer Art geistiger Hochzeit gleichkommt. Indem Gott bzw. Christus als „süßer Bräutigam“ angesprochen werden, erhält die geistige Hingabe jedoch auch eine körperliche Komponente. Dementsprechend wird die „Darbietung“ des eigenen Lebens ausdrücklich auch auf den Körper bezogen.

Mystischer Kern von Agustinis Liebeslyrik

In dem eingangs wiedergegebenen Liebesgedicht Delmira Agustinis nimmt der körperliche Aspekt der Liebe zwar einen größeren Raum ein als bei Teresa von Ávila. Dennoch ist auch hier die geistige Dimension der Liebe von zentraler Bedeutung.

So wird gleich in der ersten Strophe eine Art von Berührung im Geiste beschworen: Der „leuchtende Geist“ des Geliebten ist die Sonne, von welcher die Seele des lyrischen Ichs befruchtet wird.

Die geistige Vereinigung ist demnach bei beiden Dichterinnen das eigentliche Ziel der Liebe. Nur der Prozess zu ihrer Erlangung ist bei beiden verschieden. Bei Teresa von Ávila manifestiert die geistige Vereinigung sich auch in einer körperlich empfundenen Hingabe. Das Körperliche ergibt sich also aus dem Geistigen. Bei Delmira Agustini ist es dagegen genau umgekehrt: Die körperliche Berührung ist eine Art Katalysator für eine vertiefte Begegnung im Geiste.

Dies zeigt sich auch in anderen Liebesgedichten Agustinis. So findet etwa in Íntima die Liebe darin ihren Ausdruck, dass das lyrische Ich seine „nackte Seele“ den Händen des Geliebten überantwortet. Das „Mysterium“ der Liebe wird darin gesehen, dass die Seele des einen in die des anderen überfließen und das „Kreuz“ des einen von den Schultern des anderen getragen werden kann [3].

Die Gedichte Teresas von Ávila und von Delmira Agustini weisen damit gleichermaßen einen mystischen Kern auf. Beiden geht es um eine Auflösung des Ichs in der einen, allumfassenden Liebe, durch die eine Erlösung vom irdischen Leid erlangt werden soll. Der Unterschied ist nur, dass die Liebe bei der frühneuzeitlichen Dichterin ihren Ausgang bei der göttlichen Liebe nimmt, während Delmira Agustini das Göttliche in der irdischen Liebe sucht bzw. von dieser zum Göttlichen findet.

Nachweise

[1]    Dario, Rubén: Pórtico (hier: Geleitwort). In: Agustini, Delmira: Los Cálices Vacíos (1913), S. 3. Montevideo: Bertani; auch in El Rosario de Eros (1924), darin unter dem Titel „Elogio“ (Eloge/Lobrede), S. 7. Montevideo: García.

[2]    Teresa von Ávila (1515 – 1582): Vuestra soy, para Vos nací (Euer bin ich, durch bin ich geboren); teresavila.com.

[3]    Agustini, Delmira: Íntima. In: Los Cálices Vacíos(1913), S. 124 – 126. Montevideo: Bertani.

Bild: Jean Delville (1867 – 1953): L’amour des âmes (Seelen-Liebe; 1900); Wikimedia commons

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