Ein freiheitsliebender Antinationalist

Über zwei Gedichte des polnischen Lyrikers Jan Lechoń

Jan Lechoń teilte mit seinen Landsleuten die Sehnsucht nach Selbstbestimmung, die für sein Land erst nach dem Ersten Welt­krieg wieder Wirklichkeit werden sollte. Dabei warnte er aller­dings zugleich hellsichtig vor den Gefahren eines übersteigerten Nationalismus.

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Lass mich, Herr, in einem freien Polen leben

Furchen der Freiheit zieht mein Pflug
sehnsuchtsschwer durch das geschundene Land.
Lass golden seine Saat, o Herr, erblühen,
umbrandet vom Fanfarenrausch der Wälder.

Funken der Freiheit schlägt mein Hammer
seufzend aus dem unerbittlichen Gestein.
Lass flammend sie, o Herr, sich bündeln
zu einem leuchtenden Freudenfeuer.

Fesseln der Freiheit fühlt mein Blick
zwischen den klammen Gewändern des Nebels.
In meinem Herzen aber lebt, von dir, o Herr,
genährt, der Frühlingsduft der Freiheit.

Jan Lechoń: Da Bóg kiedyś zasiąść w Polsce wolnej (Gebe Gott, dass wir eines Tages in einem freien Polen leben werden; 1917)aus dem Zyklus Polonia Resurrecta (Wiederauferstandenes Polen)in: Karmazynowy poemat (Das karmesinrote Gedicht; 1920)

Vertonung von Zuzanna Irena Jurczak, genannt „Sanah“ (aus dem Album Sanah śpiewa poezyje / Sanah singt Gedichte; 2022):

Ein antinationalistischer Appell

„Entlasst mich aus dem königlichen Łazienki-Palast in Warschau!
Zertrümmert alle Statuen und Säulen,
schlagt auf sie ein, bis ihre Spuren ausgelöscht sind!“

Mit diesen Versen formulierte der damals 18-jährige Jan Lechoń (bürgerlicher Name Leszek Józef Serafinowicz) 1917 seine Absage an eine nationalistische Rückbesinnung auf die eigene Geschichte. Dies war zu dem Zeitpunkt durchaus erstaunlich. Denn Polen war seit 1795 als Staat inexistent. Die polnischen Teilungen hatten dazu geführt, dass das Land zwischen Preußen, Österreich-Ungarn und Russland aufgeteilt war. Erst im Zuge der Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg entstand wieder ein eigenständiger polnischer Staat.

Das polnische Volk hatte also allen Grund, sich auf die eigenen Wurzeln zu besinnen und die eigene Sprache und Kultur intensiv zu pflegen. Schließlich existierten insbesondere in Preußen und Russland starke Assimilierungsbestrebungen, in deren Folge die polnische Sprache massiv zurückgedrängt und die Ansiedlung von Angehörigen der Hegemonialmächte in polnischen Gebieten stark gefördert wurde.

Die Fesseln der eigenen Geschichte abschütteln

Dass er sich mit seiner Absage an einen übersteigerten Nationalismus ins Abseits begab, war Lechoń durchaus bewusst. Dies spiegelt sich auch im Titel des betreffenden Gedichts wider. Der Dichter nannte es Herostrates – nach Herostrat(-us/-os), dem Urbild aller Häretiker, der im vierten vorchristlichen Jahrhundert den Tempel der Artemis in Ephesos in Brand gesteckt hat. Weil man dem Täter Geltungssucht als Motiv unterstellte, wurde er mit einer über den Tod hinausreichenden Strafe bestraft – der condemnatio memoriae, einer Auslöschung der Erinnerung  an den Betreffenden.

Lechoń beharrte in dem Gedicht also im vollen Bewusstsein des Unmuts, den er sich damit zuziehen würde, darauf, nicht die ge­samte Welt durch die Brille nationaler Emotionen wahrzuneh­men. Im Sommer wolle er die Schmetterlinge in der Sonne glitzern sehen, im Herbst mit den Winden in den „halbnackten Büschen“ weinen, und „im Frühling (…) den Frühling sehen, nicht Polen“.

Was Lechoń an dem Nationalismus seiner Zeit vor allem störte, war dessen rückwärtsgewandte Tendenz. Polen sei gegenwärtig wie „ein armer Mann, der von der Erinnerung an seinen früheren Reichtum lebt“.

Lechoń sah dagegen deutlich, dass das Polen des 20. Jahrhunderts ein anderes sein musste als das, welches 1795 auseinandergebrochen war. Die Fixierung auf die Vergangenheit führte seiner Ansicht nach zu dem märtyrerhaften Bild eines Polens „mit einer Dornenkrone“.

Weltoffenheit vs. nationalistische Aggression

Lechońs Kritik an diesem Selbstbild, das ein Großteil seiner Landsleute damals pflegte, war durchaus hellsichtig. Denn die Orientierung an der ruhmreichen Vergangenheit war nach 1918 ein wesentlicher Grund für die kriegerische Haltung, mit welcher der neu entstandene polnische Staat unter Józef Piłsudski den Nachbarländern gegenübertrat. Insbesondere die Ukraine und Litauen hatten unter der polnischen Bereitschaft, die einstige nationale Größe notfalls auch  mit Gewalt wiederherzustellen, zu leiden.

Lechoń war dabei alles andere als unpatriotisch. Auch er empfand den leidenschaftlichen Wunsch nach einem freien, aus der Vormundschaft der Großmächte entlassenen Polen. Dies zeigt nicht zuletzt sein Zyklus Polonia Resurrecta (Wiederauferstandenes Polen), der – wie Herostrates – kurz vor Kriegsende entstanden ist.

Was Lechón ablehnte, war lediglich die einseitige Orientierung an dem alten, untergegangenen Polen, das – wie es in Herostrates heißt – „die Sicht auf den weiteren Weg versperrt“. Literarisch drückte sich dies in der von ihm mitgegründeten Dichtergruppe Skamander aus, deren zentrales Kennzeichen die Offenheit für vielfältige, auch neuartige programmatische Ansätze war.

Auf der politischen Ebene hat Lechoń seinem Land in verschiedenen Funktionen gedient. So war er als polnischer Kulturattaché in Frankreich tätig und rief später, nach seiner Emigration in die USA infolge der nationalsozialistischen Besetzung Polens, das Polnische Nationalinstitut in New York ins Leben.

Pessimistische Grundhaltung

Die zerstörerische Kraft eines übersteigerten Nationalismus musste Lechoń im Laufe seines Lebens immer wieder leidvoll erfahren. Dies gilt für die imperialistischen Tendenzen des neu entstandenen polnischen Staates ebenso wie – in noch aggressiverer Form – für den Expansionsdrang des Deutschen Reichs unter den Nationalsozialisten.

Auch 1917, zur Entstehungszeit des Herostrates, stand dem Dichter das Vernichtungspotenzial des Nationalismus bereits deutlich vor Augen. Denn damals dauerte der Erste Weltkrieg, der letztlich die äußerste Konsequenz eines aggressiven Nationalismus in ganz Europa war, bereits seit  drei Jahren an.

Vor diesem Hintergrund ist wohl auch das zuerst 1921 in der Zeitschrift Skamander veröffentlichte Gedicht Modlitwa zu sehen:

Gebet

Du, der du Sterne säst und die Monde im Äther verankerst,
Herr über Regengeflüster und Donnergrollen!
Deck deine müden Kinder zu mit deinen Himmeln
und flöße uns den Zauber deiner Stille ein!

Ertrinken lass uns in der Tiefe deiner Welten,
als Sterne silbrig glitzern, aufgelöst in deinem Meer,
ausgegossen in die Reinheit des Azurs,
ein Echo, das im Ewigen verebbt.

Lass mit den Morgennebeln uns verblassen,
als Gewölk uns träge durch den Mittag gleiten,
als schwarzer Schleier abends auf die Erde sinken.
Gelöst lass unsre Seelen vor uns selbst uns retten!

Jan Lechoń: Modlitwa  aus: Srebrne i czarne (Silber und Schwarz, 1924)

Verschiedene Deutungsmöglichkeiten von Modlitwa

Das Gedicht lässt sich auf zweierlei Weise deuten. Der Traum vom  „Ertrinken“ im Meer Gottes und von der Auflösung in dessen Nebeln kann zunächst schlicht als eine Variante des mystischen Traums von der Heimkehr der Seele zu Gott verstanden werden. Das Gedicht wäre dabei selbst eine Form jener kontemplativen Versenkung in das Göttliche, durch die ein solcher Zustand zu erreichen ist.

Angesichts der kriegerischen Ereignisse zur Entstehungszeit des Gedichts ist allerdings auch noch eine andere Deutung möglich. Dabei wäre das Gebet eine Bitte an den Schöpfer, seine „müden Kinder“ vor sich selbst zu schützen, indem er sie zu sich zurückführt.

Auch dies kann wiederum auf zweierlei Weise verstanden werden. Zum einen könnte der Gedanke darauf bezogen werden, dass der Mensch seinen Sinn wieder Gott zuwenden soll, um zur Besinnung zu kommen und von seinen unchristlichen Taten im Krieg Abstand zu nehmen. Zum anderen ließe sich die Auflösung des Menschen in Gott aber auch in einem radikaleren Sinn verstehen – nämlich so, dass nur durch das vollständige Verschwinden des Menschen von der Erde wieder jener Frieden zurückgewonnen werden kann, von dem die Schöpfung einst ausgegangen war.

Der Pessimismus, der aus solchen Gedanken spricht, hat Lechoń durch sein gesamtes Leben begleitet. Er wohl auch mit ein Grund dafür, dass er sich 1956 in New York das Leben genommen hat.

Jan Lechońs Gedicht Herostrates wurde zuerst 1917 in der Zeitschrift Pro Arte et Studio veröffentlicht. Es findet sich in dem 1920 erschienenen Gedichtband Karmazynowy poemat (Das karmesinrote Gedicht).

Bilder: Johannes Plenio: Sonnenuntergang (Pixabay); Jan Lechon (Wikemedia)

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