Die Unnennbarkeit Gottes

Über das Gedicht Wyjście (Ausweg) des polnischen Lyrikers Tadeusz Różewicz

Alle Fragen nach Wesen und Bewegungsprinzipien des Kosmos münden in immer neue Fragen. Ähnlich bleibt auch das Wesen des Göttlichen unergründlich für uns. – Über ein Gedicht des polnischen Lyrikers Tadeusz Różewicz.

Ausweg

Das Weiße ist nicht traurig,
das Weiße ist nicht fröhlich.
Es wird einfach immer weißer.

In meinem angeborenen Starrsinn
sage ich dem Weißen immer wieder:
„Du bist weiß!“

Das Weiße aber hört mich nicht.
Das Weiße kann nichts hören,
es ist taub und blind.

Es ist vollkommen.

Im Takt der Jahrtausende,
unsichtbar für mich,
wird es immer weißer.

Tadeusz Różewicz: Wyjście (Ausweg/Ausgang) aus der gleichnamigen, 2004 erschienenen Textsammlung

Vertonung von der 1997 gegründeten Folk-Band Kapela ze Wsi Warszawa / Warsaw Village Band:

Różewicz und Paul Celan

Die Lyrik von Tadeusz Różewicz ist stark von den Erfahrungen geprägt, die er im Zweiten Weltkrieg im von den deutschen Truppen besetzten Polen machen musste. In vielen seiner Gedichte ist das Entsetzen über die erlebte Inhumanität präsent, wenn auch oft nur in Form eines unterschwelligen Bedrohungsgefühls.

Darüber hinaus hat sich durch den Krieg auch die Einstellung des Dichters zur Religion geändert. Dabei ist eine gewisse Nähe zu Paul Celan zu beobachten, der mit seiner Lyrik ebenfalls eine Antwort auf das säkulare Grauen des Massenmords im Zweiten Weltkrieg – in seinem Fall speziell an Menschen mit jüdischen Wurzeln – zu geben versucht hat. Für Celan war Gott danach nur noch in der paradoxen Form einer anwesenden Abwesenheit zu denken.

Am deutlichsten ausgedrückt hat er dies in dem 1961 entstandenen Gedicht Psalm. Darin wird die Empfindung einer von Gott verlassenen Welt mit der Hoffnung auf das ganz Andere, Unnennbare verbunden, das vielleicht jenseits der menschlichen Vorstellungskraft dennoch Erlösung bringen kann. Die Chiffre, welche die beiden einander widersprechenden Denkfiguren miteinander verbindet, ist das Wort „Niemand“. In der Weise einer Kippfigur kann es zum einen „Keiner“, zum anderen aber auch „kein Mann“ – also Gott – bedeuten:

„Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.
Niemand.“

Das Göttliche als anwesende Abwesenheit in dem Gedicht Wyjście (Ausweg)

In ähnlicher Weise erscheint auch bei Różewicz Gott als das ganz Andere, Unnennbare. So wird das Göttliche in dem Gedicht Wyjście (Ausweg) schlicht als „das Weiße“ angesprochen. Das Gedicht lässt sich als Andeutung einer agnostischen Glaubenshaltung lesen: Weil das Göttliche das ganz Andere ist, ist es der menschlichen Vorstellungskraft unzugänglich. Jeder Versuch, es in eine wie auch immer geartete Begrifflichkeit zu zwängen, geht daher an seinem Wesen vorbei.

Selbst ein Begriff wie „das Göttliche“ wird der Kraft, die mit dem Begriff assoziiert wird, nicht gerecht. Dies wird gerade dann deutlich, wenn man sich aus dem engeren Assoziationsraum der Religion löst und die Gedankenwelt der modernen Astronomie in die Überlegungen miteinbezieht.

Begriffe wie „dunkle Materie“, „dunkle Energie“ oder „schwarzes Loch“ sagen vor allem etwas darüber aus, wie viel wir von der Eigendynamik der kosmischen Entwicklung nicht verstehen. Sie ähneln insofern dem Begriff des „Weißen“ in dem Gedicht von Różewicz, mit dem ja ebenfalls auf die letztendliche Unbestimmbarkeit der Kraft, die den Kosmos antreibt und zusammenhält, verwiesen wird.

Dies gilt erst recht für das Bild des „Urknalls“. Auch hierbei bleibt eine für uns nicht überschreitbare Grenze bestehen: Wir können rekonstruieren, dass es ein mit diesem Begriff umschriebenes Ereignis gegeben hat. Die Frage, wie sich das Nichts zu einem „Urknall“ entzünden konnte, bleibt für uns jedoch unbeantwortbar.

Die paradoxale Struktur des Göttlichen

Dem entspricht in dem Gedicht Wyjście die Erkenntnis, dass alle Versuche, dieser unser Vorstellungsvermögen übersteigenden Kraft näherzukommen, nur dazu führen, dass diese uns noch rätselhafter und zugleich noch vollkommener erscheint. Alle Bemühungen, sie in einem Begriff zu fassen, würden daher ihre wesensmäßige Unfassbarkeit verfehlen.

Gerade die Akzeptanz dieses Faktums kann jedoch – wie das Gedicht in seinem Titel andeutet – ein „Ausweg“ aus der Sinnkrise einer von Gott verlassenen Welt sein. Das Göttliche hat damit hier eine ähnlich paradoxale Struktur wie bei Celan: Nur in seiner Nichtvorstellbarkeit bleibt es vorstellbar.

Infos zu Tadeusz Różewicz in dem Beitrag Wenn das Selbstverständliche fragwürdig wird

Podcast zu Tadeusz Różewicz

Bild: Gerd Altmann: Himmel (Pixabay)

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