Auszüge aus Nadja Dietrichs Roman Der Tote im Reichstag und die verträumte Putzfrau
Zeichnet ein Mord uns mit einem Kainsmal, das uns für immer von anderen entfremdet? Oder gibt es Menschen, die eine solche Tat von sich abspalten, als wäre es die Tat eines anderen, und weiterleben, als wäre nichts geschehen?
Während ihrer Schulzeit – es musste in der vierten oder fünften Klasse gewesen sein – hatte Lidia Afanasjewna eine Mitschülerin gehabt, mit der sie ständig im Streit gelegen hatte. Heute hätte sie gar nicht mehr sagen können, worum es dabei gegangen war.
Vielleicht waren Eifersüchteleien wegen eines Jungen der Grund gewesen, vielleicht auch Schlammspritzer auf einem Kleid, für die jede die andere verantwortlich machte. Kinderkram eben, nichts Weltbewegendes. Damals aber, das wusste Lidia Afanasjewna noch ganz genau, war sie an manchen Tagen regelrecht zerfressen gewesen vom Hass auf die andere.
Eines Nachts hatte sie einen zutiefst verstörenden Traum gehabt: Es war tiefe Nacht, sie irrte allein durch das dunkle, von Gott und der Welt verlassene Gassengewirr einer großen Stadt – und sie wusste: Sie hatte ihre Mitschülerin umgebracht. Es gab keine Leiche, über die sie sich hätte beugen können, sie konnte sich auch nicht erinnern, auf welche Weise sie den Mord begangen hatte. Nur dass sie ihn begangen hatte, dessen war sie sich sicher.
Obwohl nirgends eine Menschenseele zu sehen war, fühlte sie sich die ganze Zeit über beobachtet. Hinter jedem Fenster vermutete sie eine Gestalt, die im Innern des Zimmers verschwand, sobald sie zu ihm aufsah. Fortwährend sah sie Schatten um die Ecke huschen und hörte die Schritte unsichtbarer Verfolger.
Alle schienen längst zu wissen, was sie getan hatte. Jetzt warteten sie nur auf den günstigsten Moment, um sie festzusetzen. Dabei bestand doch keinerlei Zweifel daran, dass niemand sie bei ihrer Tat beobachtet hatte.
Sah man ihr etwa an, was sie getan hatte? Stand ihr ins Gesicht geschrieben, welcher Taten sie fähig war? Musste dass nicht sogar so sein, nun, da ihr Innerstes sich nach außen gekehrt hatte?
Lidia Afanasjewna konnte sich noch gut an das Gefühl grenzenloser Einsamkeit erinnern, das sie in dem Moment – und auch noch nach dem Ende des Traums – erfüllt hatte. Plötzlich war ihr bewusst geworden, dass sie nun, nachdem sie ihre Mordlust befriedigt hatte, nie wieder würde unter Menschen gehen können – und dass sie, wenn sie es doch täte, stets deren bohrende, anklagende Blicke in ihrer Seele brennen fühlen würde.
Gleich am nächsten Tag war sie zu ihrer Mitschülerin gegangen und hatte sich bei ihr – wofür auch immer – entschuldigt. Sie waren danach zwar keine Freundinnen geworden, doch hatte Lidia Afanasjewna sich fortan stets bemüht, den Ärger über die andere nicht in Hass umschlagen zu lassen. Zu groß war ihre Angst, sie könnte auch im wirklichen Leben in den Abgrund der Seele stürzen, den sie im Traum durchlitten hatte.
War Mord, fragte sie sich rückblickend, nicht in der Tat die extremste Form der Entfremdung von anderen, der auf die Spitze getriebene Antagonismus, der Umkehr, Vergebung und Versöhnung auf radikale Weise ausschloss, weil er das dafür nötige Gegenüber auslöschte? Und musste es dann nicht für jeden Mörder letztlich eine Erleichterung sein, wenn seine Taten offenbar wurden und er sich wenigstens nicht mehr vor den anderen verstecken musste?
Aber galt dies auch für Personen des öffentlichen Lebens? Hatten Menschen, die Tag für Tag ihre Rolle auf der politischen Bühne spielten, vielleicht einen ganz anderen Gefühlshaushalt als ein Normalsterblicher? Hielten sie ihre Rolle irgendwann für ihr wahres Ich – so dass sie das, was sie als die taten, die sie in Wirklichkeit waren, als die Taten eines Fremden wahrnahmen? Leisteten also bestimmte Formen öffentlicher Tätigkeit einer Spaltung der Persönlichkeit Vorschub?
Podcast, 6. Episode (Kapitel 20 – 22):
Finale furioso im deutschen Bundestag! Mit einer Flugblattaktion soll der Verdächtige überführt werden. Eine riskante Aktion, aber natürlich wird am Ende das Gute siegen …
Bild: Ntnvnc: Finsternis (Pixabay)

