Auszüge aus Nadja Dietrichs Roman Der Tote im Reichstag und die verträumte Putzfrau
Der Gott, den sich die Protagonistin in Nadja Dietrichs Reichstagskrimi erträumt, spielt auf einem Instrument mit unendlich vielen Saiten. Jede Saite entspricht einem anderen Universum, und gemeinsam ergeben sie die göttliche Harmonie.
Lidia Afanasjewna gehörte zu jenen Menschen, die von sich behaupten, nicht wissen zu können, ob Gott existiert oder nicht. Würde Gott nämlich existieren, so müsste er – davon war Lidia Afanasjewna fest überzeugt – als nicht nur alles Irdische übersteigende, sondern jenseits von Raum und Zeit situierte Kraft notwendigerweise das menschliche Vorstellungsvermögen sprengen. Folglich war es für den Menschen im Grunde einerlei, ob er sich für gläubig oder für ungläubig erklärte – den Gegenstand seines Glaubens respektive Nicht-Glaubens würde er so oder so mit seinem Verstand nicht fassen können.
Diese Überzeugung konnte Lidia Afanasjewna indessen nicht davon abhalten, sich einen eigenen Gott zu erträumen. Im Grunde war das eine sogar die Voraussetzung des anderen. Denn wenn jede Vorstellung von Gott ein reines Trugbild war, gab einem das auch die Freiheit, sich einen eigenen Gott zu basteln – einen Gott, den es ebenso wenig gab oder nicht gab wie alle anderen Götter, die Menschen sich jemals vorgestellt hatten.
Lidia Afanasjewnas Gott sollte auf jeden Fall Musiker sein. Am ehesten würde er wohl, dachte sie, ein Saiteninstrument spielen – eines, das so viele Saiten hätte, wie es im Weltall Sterne gab, also unendlich viele. Jede Saite stünde für ein eigenes Universum. Und wann immer Gott die entsprechende Saite zum Schwingen brächte, würde ein neues Kapitel in der Geschichte dieses Universums aufgeschlagen. Zusammen aber würden die Saiten die Musik Gottes erklingen lassen, die göttliche Harmonie, die gleichbedeutend wäre mit dem Ineinanderwirken der Universen in Gottes Hand.
Obwohl Gott natürlich auch im Musizieren über göttliche Fähigkeiten verfügen würde, könnte doch auch er nicht verhindern, dass die Saiten seines Instruments natürlichem Verschleiß unterworfen wären und von Zeit zu Zeit reißen würden. Dann würde das Universum, das an dieser Saite hing, in sich zusammenfallen und sich in den anderen Universen auflösen. So könnte selbst Gott nie genau wissen, welche neuen Formen die Harmonien seines Spiels annehmen würden.
Seine Universen wären dabei wie unaufgeräumte Spielzimmer, in denen eine nur den Bewohnern bekannte Ordnung herrschen würde; eine Ordnung, die stets von einer benachbarten Unordnung hinweggespült und in eine neue Ordnung überführt werden könnte.
Wissenschaft und Kunst wären in dem Reich jenes Gottes, den Lidia Afanasjewna sich in ihrer Vorstellung erschuf, dazu da, sich in einem nie an sein Ende gelangenden Prozess den Strukturen der göttlichen Ordnung anzunähern. Der Kunst fiele dabei die Aufgabe zu, eine Ahnung von den Harmonien zu vermitteln, die Gottes Schöpfung zusammenhielten.
Die Wissenschaft wäre dagegen dazu da, die Bausteine dieser Harmonien im Detail zu erforschen. Wie zwei Linien, die sich in einer Zeit nach aller Zeit kreuzen müssten, würden Kunst und Wissenschaft dabei in einem nie zu erreichenden Endpunkt mit der göttlichen Harmonie zusammenfallen.
Da Lidia Afanasjewnas Lebenszeit allerdings begrenzt war, hatte sie keine Lust, sich mit dem zu bescheiden, was die Wissenschaft heute schon über die Strukturen der göttlichen Harmonie herausgefunden hatte. Stattdessen nahm sie sich die Freiheit, den vorhandenen rudimentären Wissenskatalog träumend zu ergänzen, wie ein Kind, das ein Bilderbuch ausmalt.
So stellte sie sich vor, dass jede dunkle Stelle im Universum in Wahrheit ein Tor in ein anderes Universum wäre. In einer Zukunft, die so fern war, dass sie mit der tiefsten Vergangenheit zusammenfiele, würden Wesen, die in ihrem Heimatuniversum keine Perspektive mehr für sich sehen, durch ein solches Tor in ein Nachbaruniversum auswandern können. Dort würde dann nicht nur ein anderes Leben auf sie warten, sondern eine völlig andere Ordnung der Dinge, in der auch sie selbst eine gänzlich neue, aus der Perspektive ihres Heimatuniversums unvorstellbare Daseinsform annähmen.
Podcast, 3. Episode (Kapitel 9 – 13):
Lutz, ein Freund der Familie, bedrängt Lidia Afanasjewna mit allerlei Verschwörungstheorien. Oder kann es sein, dass ihr wirklich jemand nach dem Leben trachtet, weil sie zu viel weiß?
Bild: Leo (Kyraxys): Frau im Kosmos- AI generated (Pixabay)