Auszüge aus Nadja Dietrichs Roman Der Tote im Reichstag und die verträumte Putzfrau
Jetzt mit Hörfassung!
In den kommenden Wochen werden wir uns bei unserer literarischen Reise noch einmal in die Hände von Reiseführerin Nadja Dietrich begeben und uns von ihr durch die labyrinthische Welt des Reichstags geleiten lassen.
Da wir diese Reise auf dem Literaturplaneten schon einmal unternommen haben, setzen wir bei den Auszügen aus dem Roman dieses Mal den Schwerpunkt auf Lidia Afanasjewnas Träume und Phantasien. Parallel dazu wird auf literaturplanetpodcast.com eine Hörfassung des Romans freigeschaltet. Jede Woche wird eine weitere der insgesamt sechs Episoden erscheinen, wobei jede Episode aus mehreren Kapiteln besteht.
Kurzinfo zum Roman:
Beim Putzen im Reichstag findet Lidia Afanasjewna einen toten Politiker. Da der Unfall – oder war es Mord? – vertuscht werden soll, stellt sie auf eigene Faust Ermittlungen an. Unterstützt wird sie dabei von ein paar engen Vertrauten – und von Aljoscha, dem Mann ihrer Träume, der leider wirklich nur in ihren Träumen existiert.
Podcast, 1. Episode (Kapitel 1 – 4)

Der heutige Traum unserer Protagonistin markiert zugleich den Anfang des Romans: Eines Nachts, als sie vor dem Fernseher einschläft, nutzt der Böse ihre Unaufmerksamkeit, um in ihre Träume einzudringen:
Ausbruch aus dem Fernseher
Man konnte durchaus nicht sagen, dass diese Woche gut begonnen hätte für Lidia Afanasjewna. Genau genommen hatte ihre Pechsträhne sogar schon am vergangenen Abend eingesetzt, als das Mantra der Verhöre in einem Late-Night-Krimi sie in den Schlaf gewiegt hatte. Prompt hatte der Böse ihre fehlende Wachsamkeit ausgenutzt, um sich aus seinem Fernsehkäfig zu befreien und in ihre gute Stube einzudringen. Nun stand er da und sann, seiner Natur gemäß, auf Böses.
Er war genauso schwarz wie in der nächtlichen Gasse, wo die Guten ihn gestellt hatten. Nur die Augen leuchteten zombiehaft aus seinem finsteren Antlitz heraus. Lidia Afanasjewna wollte um Hilfe rufen und weglaufen, sich in Sicherheit bringen vor diesem Unhold, der schon durch seine bloße Anwesenheit die Umgebung verpestete. Aber der Schlaf hatte sie gefesselt und geknebelt, sie brachte keinen Ton heraus und war wie verwachsen mit ihrem Fernsehsessel.
Heimtückisch sah der Böse sich um und suchte nach einem Objekt für seine finsteren Absichten. Endlich schien er etwas Passendes gefunden zu haben, um seine Mordlust zu befriedigen. „Na warte – dir drehe ich den Hals um“, hörte Lidia Afanasjewna ihn zwischen den Zähnen hindurch zischen.
Ihr stockte der Atem, aber zu ihrer Erleichterung kam der Böse nicht auf sie zu, sondern ging in Richtung des kleinen Aquariums, das in einer Ecke des Raumes auf einer Kommode stand. Ehe Lidia Afanasjewna sich über das Aquarium wundern konnte – denn sie war sich sicher, nie eines besessen zu haben –, hatte der Böse den darin schwimmenden Fisch auch schon an der Gurgel gepackt und ihm ein Messer an die Kehle gehalten.
Lidia Afanasjewna stutzte: Hatten Fische denn überhaupt eine Gurgel? Sie kam jedoch nicht dazu, diese Frage zu vertiefen, denn im selben Augenblick wurde ihr klar, dass sie selbst der Fisch war, den abzustechen der Böse im Begriff war. Ein heiserer Schrei entrang sich ihrer Kehle, der genug Schreckenspotenzial besaß, um nicht nur den Bösen in die Flucht zu schlagen, sondern auch sie selbst aus ihrem Sessel hochfahren zu lassen.

