Ein Appell gegen das Schachbrettdenken der Feldherren

Über Anna Świrszczyńskas Gedicht Niech liczą trupy (Lasst sie die Toten zählen)

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Lasst sie die Toten zählen! Mit diesem Appell fordert Anna Świrszczyńska, die Schreibtischtäter mit den Folgen ihrer Taten zu konfrontieren. Hintergrund des Gedichts ist der Warschauer Aufstand, den die Autorin 1944 als Krankenschwester erlebt hat.

Lasst sie die Toten zählen

Sie, die die Schlacht befohlen haben,
sie sollen jetzt auch unsere Toten zählen.

Lasst sie durch die Straßen gehen,
die keine Straßen mehr sind,
durch diese Stadt,
die keine Stadt mehr ist,
lasst sie zählen, zählen, zählen
wochenlang, monatelang, jahrelang
bis zum Tod
unserer Toten.

Anna Świrszczyńska: Niech liczą trupy aus: Budowałam barykadę (Ich baute eine Barrikade; 1974)

Literarische Anfänge von Świrszczyńska

Die 1909 in Warschau geborene Anna Świrszczyńska („Świr“) studierte nach dem Schulabschluss zunächst Polnische Philologie. Nach ersten Veröffentlichungen von Gedichten in Zeitschriften erschien 1936 ihr erstes Buch mit – so der Titel des Bandes – „Gedichten und Prosa“ (Wiersze i proza). Das Werk ist stark von der Arbeit ihres Vaters, eines Bildhauers und Malers, beeinflusst. Dies gilt sowohl für die plastische Metaphorik der Gedichte als auch für die Sujets, die sich oft unmittelbar auf Werke oder Arbeitsweisen der bildenden Kunst beziehen.

In der Vorkriegszeit engagierte Świrszczyńska sich auch stark im pädagogischen Bereich. Sie schrieb Bücher für Kinder, veröffentlichte Beiträge in Kinder- und Jugendzeitschriften und war als Redakteurin für die von der Polnischen Lehrergewerkschaft herausgegebene Zeitschrift Mały Płomyczek (Kleine Flamme) tätig. Während des Krieges verlor sie ihre bisherigen Erwerbsmöglichkeiten und musste sich mit Hilfstätigkeiten durchschlagen.

Krieg und weibliche Selbstbestimmung: zwei Kernthemen Świrszczyńskas

Auch bedingt durch den Krieg, erschien Świrszczyńskas zweiter Gedichtband (Liryki zebrane – Gesammelte Gedichte) erst 1958, 22 Jahre nach dem ersten Band. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1984 veröffentlichte sie noch sechs weitere Gedichtbände. Als ihre bedeutendsten Veröffentlichungen gelten die 1972 und 1974 erschienenen Bücher Jestem baba (Ich bin eine Frau) und Budowałam barykadę (Ich baute eine Barrikade).

Die beiden Bände stehen stellvertretend für zwei Schwerpunkte in Świrszczyńskas dichterischem Schaffen. In Jestem baba nimmt sie eine dezidiert weibliche Perspektive ein. Diese manifestiert sich zum einen in einer anderen Sicht auf die Welt und die soziale Realität, zum anderen aber auch in einem anderen Bezug zu Körperlichkeit und Erotik. Beides thematisiert Świrszczyńska in einer bis dahin in der polnischen Literatur unbekannten und demzufolge mutigen Weise.

In Budowałam barykadę setzt Świrszczyńska sich mit den Erfahrungen auseinander, die sie 1944 während des Warschauer Aufstands als Krankenpflegerin gemacht hat. In dem Band ist auch das Gedicht Niech liczą trupy (Lasst sie die Toten zählen) enthalten.

Das Gedicht Niech liczą trupy (Lasst sie die Toten zählen)

Das Gedicht Niech liczą trupy lässt sich zunächst auf einer allgemeinen Ebene deuten. Es dient dann dazu, die Blindheit der Heerführer für das von ihnen verursachte Leid zu thematisieren. Was sie in ihren Arbeitszimmern wie Schachzüge auf einem Spielbrett wahrnehmen, bedeutet für die konkret von den Kriegshandlungen betroffenen Menschen unendliches Leid und Tod. Daraus ergibt sich der verbitterte Appell, die Verantwortlichen mit dem zu konfrontieren, was sie angerichtet haben.

Vor dem Hintergrund des Warschauer Aufstands, in dessen Kontext das Gedicht entstanden ist, erhalten die Verse jedoch noch eine andere, konkretere Bedeutung. Sie sind dann als Kritik an der polnischen Exilregierung und der Führung der Heimatarmee (Armia Krajowa) zu verstehen, die den Aufstand angeordnet haben.

Der Sinn des Aufstands vom August und September 1944 ist in Polen umstritten. Auf der einen Seite wird in ihm ein Symbol für die Widerstandskraft und den Selbstbehauptungswillen des polnischen Volkes gesehen. Auf der anderen Seite gilt er jedoch aufgrund der absehbaren katastrophalen Folgen seines Scheiterns als schwerer strategischer Fehler.

Nicht nur wurde der Aufstand von den deutschen Okkupanten mit äußerster Brutalität niedergeschlagen. Die nationalsozialistische Besatzungsmacht beantwortete den Aufstand auch mit drastischen Vergeltungsmaßnahmen, so dass in der Summe nicht nur 15.000 polnische Soldaten, sondern auch das Zehnfache an Zivilpersonen ums Leben kamen. Darüber hinaus richteten Wehrmacht und SS in Warschau ein kulturelles Massaker an, in dem bei der Verwüstung der Stadt zahlreiche Kulturdenkmäler zerstört wurden.

Hinzu kam, dass die Schwächung der polnischen Heimatarmee durch den Aufstand auch der Roten Armee bei der späteren Annexion eines Teils Polens und der Einverleibung des Landes in den Machtbereich der Sowjetunion half. Denn statt den polnischen Soldaten bei ihrem Aufstand zur Hilfe zu eilen, sahen die damals schon nahe an Warschau herangerückten sowjetischen Truppen der Zerstörung der polnischen Armee tatenlos zu.

Świrszczyńskas Haltung zum realsozialistischen Regime

Der Warschauer Aufstand führte auch zu einer moralischen Diskreditierung der Exilregierung. Die sowjetische Führung und die mit ihr verbündeten kommunistischen Widerstandsgruppen konnten sich später als die verantwortungsvolleren und weitsichtigeren Kämpfer gegen die Tyrannei darstellen.

Von der entsprechenden Propaganda blieb offenbar auch Świrszczyńska nicht unbeeinflusst. Nachdem sie bereits 1936 gegen die Entlassung der Führung des Nationalen Lehrerverbands aufgrund dessen angeblicher kommunistischer Propaganda auf die Straße gegangen war, blieb sie auch nach dem Krieg ihren linksgerichteten Überzeugungen treu.

Dabei stand sie zumindest anfangs eng an der Seite des realsozialistischen Regimes. So unterzeichnete sie 1953 eine Ergebenheitsadresse des Krakauer Schriftstellerverbandes an die polnischen Behörden. Hintergrund waren die Schauprozesse gegen katholische Geistliche, bei denen drei Priester aufgrund konstruierter Vorwürfe erst zum Tode verurteilt und dann zu lebenslanger Haft „begnadigt“ wurden.

Mehr zu Anna Świrszczyńska:

Marek, Rafal:Anna Świrszczyńska – Biografia, wiersze, twórczość (Biographie, Gedichte, Werk); poezja.org, 25. September 2023

Bilder: Félix Valloton (1865 – 1925): Landschaft mit brennenden Ruinen (1915); Kunstmuseum Bern (Wikimedia commons); Benedykt Dorys: Anna Świrszczyńska, 1948 (Wikimedia commons)

2 Antworten auf „Ein Appell gegen das Schachbrettdenken der Feldherren

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