Gespräche mit Paula/11
„Führt euer ewiges Wachstum nicht dazu, dass ihr in einem permanenten Provisorium lebt? Und sind all die Dinge, die euer Wachstum hervorbringt, nicht in Wahrheit eine Fessel für euch? Wärt ihr ohne sie nicht glücklicher?“
Wachstum und Gerechtigkeit
Zu den Dingen, über die Paula sich immer wieder wundert, wenn sie bei mir zu Besuch ist, gehören die vielen Baustellen in der Stadt. „Irgendwann müsst ihr doch mal fertig sein!“ hat sie einmal zu mir gesagt. „Sonst lebt ihr doch in einem ewigen Provisorium.“
„Da hast du mal was Wahres gesagt!“ lachte ich. „Unsere Städte sind wirklich ein ewiges Provisorium – sozusagen ein Spiegelbild der modernen Welt und ihrer sich ständig selbst überholenden Dynamik. Abgesehen davon ist die Baubranche natürlich auch ein wichtiger Motor unserer Konjunktur.“
Ich biss mir auf die Zunge. Warum nur hatte ich den blöden Nachsatz anfügen müssen? Jetzt stand mir wahrscheinlich wieder ein anstrengendes Frage-Antwort-Spiel bevor!
Um das Ganze abzukürzen, wartete ich gar nicht erst, bis Paula ihren fragenden Blick in Worte übersetzte, sondern schob gleich eine Erklärung hinterher: „Unter ‚Konjunktur‘ verstehen wir die Entwicklungsdynamik unserer Wirtschaft. Spricht man beispielsweise von einer ’stabilen Konjunktur‘, so befindet sich die Wirtschaft auf Wachstumskurs.“
Paula sah mich noch immer an, als würde ich in einem Dialekt der Inneren Mongolei auf sie einreden. „Von welcher Wirtschaft redest du jetzt eigentlich?“ fragte sie. „Von der Landwirtschaft? Von der Textilwirtschaft? Oder vielleicht …?“
„Wenn man von ‚der‘ Wirtschaft redet, ist immer die Gesamtheit der volkswirtschaftlichen Aktivitäten gemeint“, unterbrach ich sie. „Das Ergebnis bezeichnet man auch als Bruttosozialprodukt.“
„Dann wird damit also ein Mechanismus zur Herstellung von Gerechtigkeit bezeichnet?“ deutete Paula meine Worte. „Um nicht einzelne Wirtschaftszweige, die niedrigere Umsätze als andere erzielt haben, zu benachteiligen, errechnet ihr den durchschnittlichen Gewinn aller Wirtschaftszweige und verteilt dann die Gewinne gleichmäßig unter allen Gemeinschaftsmitgliedern. Richtig?“
Ich seufzte. Manchmal war Paula die Logik unseres Denkens so fremd, dass es selbst bei einfachsten Zusammenhängen kaum möglich war, sie ihr begreiflich zu machen.
„Nein, mit Umverteilung hat das nichts zu tun“, korrigierte ich sie. „Natürlich führt eine stabile Konjunktur in der Regel auch zur Anhebung des Wohlstandsniveaus. Das heißt aber nicht, dass Einzelne dabei nicht auch Nachteile erleiden, also etwa bankrottgehen oder den Arbeitsplatz verlieren. Schließlich können die Unternehmen ja bei weniger Wettbewerbern mehr Gewinne generieren oder Kosten sparen, wenn sie mit weniger Arbeitskräften auskommen. Wenn sie die Produktivität steigern und ihre Gewinne erhöhen, deutet das daher zwar auf eine robuste konjunkturelle Entwicklung hin, heißt aber nicht notwendig, dass auch das einzelne Unternehmen oder die einzelne Arbeitskraft davon profitiert.“
Paula schüttelte verständnislos den Kopf. „Wie kann denn eine allgemeine Entwicklung positiv sein, wenn sie für den Einzelnen negativ ist?“
Wiedersehen mit Timmy
Glücklicherweise schien sie eher laut zu denken, als ihre Fragekaskade fortsetzen zu wollen. Ich unterließ es daher tunlichst, auf die Bemerkung einzugehen. Stattdessen bemühte ich mich, ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken.
Es war ein lauer Sommerabend, und dazu noch der letzte Tag von Paulas Aufenthalt bei mir. Den wollte ich nun wirklich nicht von irgendwelchen Grundsatzdiskussionen trüben lassen! Lieber wollte ich mich mit ihr in eines der Straßencafés setzen und dort in das Geräuschemeer aus Straßenmusik, Gesprächsfetzen und verwehendem Gelächter eintauchen. Leider machte mir dabei ein unglücklicher Zufall einen Strich durch die Rechnung.
Kurz bevor wir den zentralen Platz erreichten, wo die Cafés und Restaurants ihre Tische wie um eine imaginäre Bühne gruppiert hatten, kamen wir an einem Obdachlosen vorbei, der sich, einen zerknautschten Hut im Schoß, vor einem Kaufhaus niedergelassen hatte. Ich hatte zwar meinen Obdachlosen-Obolus für den Tag schon entrichtet, aber Paula sah den Mann so mitleidig an, dass ich mich genötigt fühlte, noch eine Münze lockerzumachen.
Als ich die milde Gabe in den Hut fallen ließ, trafen sich meine Blicke mit denen des Mannes auf dem Boden. Für ein paar Sekunden las jeder im Gesicht des Anderen, auf der Suche nach irgendeinem Anhaltspunkt, der das plötzliche Gefühl der Vertrautheit erklären könnte.
„Timmy?“ fragte ich schließlich ungläubig.
Der Andere nickte. Und nun gelang es mir tatsächlich, hinter dem dichten Vollbart und den zerzausten Haaren den Mann zu erkennen, mit dem ich einmal befreundet gewesen war. Eigentlich hieß er ja Erwin, aber alle riefen ihn nur bei seinem zweiten Vornamen, Tim oder eben Timmy.
Wie lange war es mittlerweile her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen hatte? Vier Jahre? Oder doch eher fünf? Oder noch länger?
Timmys Geschichte
Timmy hatte schon immer ein eher zurückgezogenes Leben geführt. Als seine Großeltern mütterlicherseits gestorben waren, hatten seine Eltern keine Verwendung gehabt für das alte Haus. Und da auch sonst niemand von der Familie einziehen wollte und am Markt nur ein lächerlich niedriger Preis dafür zu erzielen war, hatte man es Timmy überschrieben.
Hinter dem Haus erstreckte sich ein verwilderter Garten, mit alten Obstbäumen und abgestorbenen Ulmen, die Timmy, den Spechten zur Freude, einfach sich selbst überließ. Dort habe ich im Sommer oft mit ihm gesessen und bei einem Glas Rotwein den Grillen gelauscht.
Soweit ich mich erinnern konnte, hatte Timmy damals auch einen festen Job gehabt. Ich verstand also zunächst gar nicht, was ihn so aus der Bahn hatte werfen können. Allerdings entsann ich mich auch, dass sein Verhalten schon damals immer befremdlichere Züge angenommen hatte.
Hatte nicht alles mit einem kaputten Staubsauger angefangen? Mir fielen wieder die zahlreichen Treppen und Winkel ein, die es in Timmys altem Gemäuer gab. Einen modernen Staubsauger stellte das vor ungeahnte Probleme.
Als Timmy sich innerhalb von zwei Jahren schon den dritten neuen Staubsauger hatte anschaffen müssen, erinnerte er sich an den mechanischen Teppichkehrer, den seine Oma früher benutzt hatte. Er fand ihn noch unversehrt auf dem Speicher, das Gerät funktionierte einwandfrei, und das Putzergebnis war aus seiner Sicht ebenfalls zufriedenstellend.
„Für mich reicht’s“, konterte er meinen skeptischen Blick, als er mir davon erzählte. „Ich bin doch kein Putzteufel!“
Von da an ersetzte Timmy alle elektrischen Geräte nach und nach durch die mechanische Variante: das Rührgerät durch einen Schneebesen, den Rasierapparat durch einen Handrasierer, und den Föhn durch heiße Luft, die ihm im Sommer die Sonne, im Winter seine Ofenheizung spendete.
Wie Timmy zum Austeiger wurde
Eines Tages berichtete Timmy mir mit kindlichem Stolz, dass er nun auch seinen Wasserkocher abgeschafft hätte. Stattdessen koche er das Wasser neuerdings auf dem alten Beistellherd seiner Großeltern, den er gleichzeitig zum Heizen benutzen könne.
Wenn ich ihn daraufhin in eine Diskussion über die umweltschädlichen Folgen des vermehrten Holzverbrauchs und die Feinstaubproblematik verwickelt hätte, wären meine Worte vielleicht sogar auf fruchtbaren Boden gefallen. Mir aber ging der fast schon missionarische Eifer, mit dem er alle technischen Errungenschaften über Bord warf, zunehmend auf den Wecker. Deshalb fiel meine Antwort leider etwas grundsätzlicher aus.
„Wenn’s nach dir ginge“, entgegnete ich genervt, „würden wir wahrscheinlich noch wie die Steinzeitmenschen in Höhlen leben. Ohne technischen Fortschritt gäbe es doch weder Zivilisation noch Kultur. Und die Konjunktur würde ohne ihn auch abgewürgt werden. Die Wirtschaft braucht nun einmal Innovationen, um wachsen zu können. Und wirtschaftliches Wachstum sichert das Überleben unserer Gesellschaft. Denn ohne Wachstum gäbe es keine Arbeitsplätze, ohne Arbeitsplätze keinen Konsum, ohne Konsum keine Produktion … Du siehst, technischer Fortschritt ist ein Kernelement der modernen Gesellschaft. Ohne ihn würde unser gesamtes Wirtschaftssystem kollabieren.“
Auf diese Worte hin war Timmy in ein düsteres Schweigen verfallen. Ich spürte zwar sofort, dass ich mich ein wenig im Ton vergriffen hatte. Alle Versuche, einzulenken und harmlosere Themen anzuschneiden, schlugen jedoch fehl.
Timmy blieb während meines gesamten Besuchs einsilbig. Er bot mir noch nicht einmal etwas von dem Tee an, den er extra für mich gekocht hatte. Also machte ich mich, nun selbst verstimmt, kurz darauf aus dem Staub. Danach hat er sich nicht mehr bei mir gemeldet, und auch ich hatte keine Veranlassung gesehen, ihn noch einmal aufzusuchen.
Timmys Alltag
All das schoss mir durch den Kopf, als ich Timmy nun so unverhofft wiedersah. Ich hatte deshalb allerdings keineswegs vor, mich länger mit ihm abzugeben.
Wie gesagt – es war mein letzter Abend mit Paula. Ich bemühte mich daher, die Unterhaltung mit Timmy auf ein paar Höflichkeitsfloskeln zu beschränken und mich dann aus dem Staub zu machen.
Leider kam Paula mir jedoch zuvor: „Ihr kennt euch?“ fragte sie, indem sie abwechselnd mich und Timmy ansah.
Auf unser Nicken hin meinte sie fröhlich: „So ein Zufall! Dann lasst uns doch alle zusammen was trinken gehen!“
So musste ich mich zähneknirschend damit abfinden, dass Timmy uns in eines der Straßencafés begleitete.
„Sag mal“, fragte ich ihn, nachdem wir uns ein schönes Plätzchen ausgesucht hatten, „wohnst du eigentlich immer noch in dem alten Kasten?“
Ich hatte die Frage einfach so dahingesagt, um das Eis zu brechen. Erst danach fiel mir auf, dass ich damit wohl an einen wunden Punkt gerührt hatte. Denn warum sollte Timmy sein Lager in der Fußgängerzone aufschlagen, wenn er ein eigenes Haus besaß?
Timmy aber entgegnete mit der größten Selbstverständlichkeit: „Ich habe mir für den Winter ein Zimmer darin freigehalten. Den Rest habe ich einer Obdachloseninitiative überlassen.“
„Ach so – und da gibt’s Probleme mit der Miete?“ schlussfolgerte ich, da Timmy im Falle regelmäßiger Mietzahlungen ja nicht hätte betteln gehen müssen.
Aber Timmy lachte nur trocken. „Welche Miete denn?“ Eine gewisse trotzige Überheblichkeit schwang in seinen Worten mit.
„Du meinst, du überlässt denen das Haus kostenlos?“ wunderte ich mich.
Timmy nickte stolz.
„Und wovon lebst du dann?“ bohrte ich unvorsichtigerweise weiter. „Ich meine, von den paar Münzen, die du hier einsammelst, kannst du ja kaum deinen Lebensunterhalt bestreiten. Außerdem ist das doch irgendwie … irgendwie …“
„Würdelos?“ führte Timmy meinen Gedanken weiter. „Ist es das, was du sagen wolltest?“
Paula warf mir einen strafenden Blick zu. Es war ihr deutlich anzumerken, dass sie mit meiner Art, Timmy auszufragen, nicht einverstanden war. Tatsächlich kann ich auch nicht ausschließen, dass dabei eine gewisse Aggressivität mit im Spiel war. Schließlich war Timmy ja gerade dabei, mir meinen letzten Abend mit Paula zu verderben.
Timmy sah mich durchdringend an: „Ist es etwa würdevoller, allein in einem ganzen Haus zu leben, während andere auf der Straße leben müssen? Abgesehen davon fühle ich mich auch viel freier, seit ich das Haus nicht mehr besitze. Den Sommer über lebe ich jetzt im Wald, in einer verlassenen Holzarbeiterhütte. Da ist die Luft viel besser – und dann gibt’s im Wald ja auch lauter Bio-Produkte umsonst: Beeren, Pilze, Kräuter … Man muss sich halt nur auskennen!“
Paula schenkte Timmy ein wohlwollendes Lächeln. Jetzt fühlte ich mich erst recht zum Widerspruch herausgefordert. „Und wie sieht es mit Strom und fließendem Wasser aus?“ fragte ich beiläufig.
„Wozu brauche ich denn fließendes Wasser, wenn ich einen See um die Ecke habe?“ fragte Timmy triumphierend zurück.
„Na ja“, frotzelte ich, „Seife scheint es an deinem See aber nicht zu geben. Um ehrlich zu sein: Es müffelt schon ein wenig nach Raubtier in deiner Nähe.“
Er lachte verächtlich auf. „Das ist doch alles nur Gewöhnungssache! Menschen müffeln nun einmal – das ist ihre Natur. Und mir ist mein natürlicher Geruch allemal lieber als dieses Duftgewölle aus chemischen Zusätzen, das einen hier“ – er rümpfte demonstrativ die Nase – „von überallher anweht.“
Die Müllerzeugungsmaschine
Die Kellnerin trat an unseren Tisch und brachte uns, was wir bestellt hatten. Während Paula sich sogleich über ihre Eisschokolade hermachte, ließen Timmy und ich unsere Cappuccinos zunächst unberührt vor uns stehen.
„Also jetzt mal Hand aufs Herz“, griff ich den Gesprächsfaden nach einer Weile wieder auf. „Warum hast du denn nun wirklich dein altes Leben weggeworfen? Immerhin hattest du ein gemütliches Haus, einen festen Job … So etwas gibt man doch nicht so ohne weiteres auf!“
Timmy sah mich herausfordernd an: „Eigentlich müsstest du ganz genau wissen, was den Ausschlag dafür gegeben hat.“
Er weidete sich einen Augenblick lang an meinem verdutzten Blick, dann setzte er hinzu: „Du hast doch damals selbst gesagt, dass ich mit meiner Konsumverweigerung das wirtschaftliche Wachstum untergrabe. Da habe ich halt die Konsequenzen gezogen und bin gleich ganz ausgestiegen. So habe ich mit dem Ganzen jetzt einfach nichts mehr zu tun. Beide Welten sind sauber voneinander getrennt.“
Ich sah ihn fassungslos an: „Und das glaubst du wirklich?“
„Ja, klar“, beharrte er trotzig. „Warum auch nicht?“ Insgeheim spürte er wohl selbst, dass er, wenn er wirklich hätte aussteigen wollen, auf den Mond oder besser noch in eine andere Galaxie hätte auswandern müssen.
So gelang es ihm nur kurz, den Ärger über den Spiegel, den ich ihm vorhielt, herunterzuschlucken. Dann brach es regelrecht aus ihm heraus: „Dieses ganze Wachstumsgerede ist doch letztlich eine einzige große Münchhausen-Geschichte! Wachstum – das hört sich so organisch an, das klingt nach Natur, nach Bäumen und Pflanzen und Blümelein. Dabei läuft wirtschaftliches Wachstum doch letztlich auf das Gegenteil hinaus. Es bedeutet, dass immer neue Dinge produziert werden, von denen uns eingeredet wird, dass wir sie unbedingt kaufen müssen, obwohl sie in Wahrheit niemand braucht. Und wenn sich dann alle mit den unnötigen Dingen eingedeckt haben, werden wieder neue unnötige Dinge erfunden, die angeblich viel effektiver sind als die alten und die man unbedingt haben muss, wenn man mit der Zeit gehen will.
Heute wird einem dazu noch suggeriert, dass die neuen Geräte viel ökologischer seien als die alten, dass man durch das Wegwerfen des Alten und den Erwerb des Neuen also die Umwelt schone. So etwas nennt man dann ‚Versöhnung der Ökonomie mit der Ökologie‘. Dabei wäre das doch allenfalls dann möglich, wenn man vorher die Art des Wirtschaftens und die ihr zugrunde liegende Lebensweise ändern würde. In Wahrheit ist diese ganze Wachstumsökonomie doch nichts anderes als eine gigantische Müllerzeugungsmaschine!
Aber wehe, du sprichst offen aus, dass der König nackt ist! Dann bist du ein Ewiggestriger, ein Fortschrittsfeind, ein realitätsfremder Spinner – und wenn all die Anwürfe dich noch nicht zum Schweigen gebracht haben, diffamiert man dich auch noch als Asozialen, weil du mit deiner Kaufverweigerung angeblich Arbeitsplätze gefährdest.“
Münchhausen-Geschichten
Timmy hatte sich so in Rage geredet, dass er gar nicht mehr auf seine Umgebung achtete. Er war richtig laut geworden und hatte sich halb von seinem Stuhl erhoben, als würde er sich mit seiner Rede an ein größeres Auditorium wenden.
So war es kein Wunder, dass die anderen Gäste in dem Straßencafé sich immer ungenierter zu uns umwandten. Es war ja auch wirklich ein nicht alltägliches Schauspiel, das wir da boten: eine Südseeschönheit mit einem hilflosen Trabanten, die den wirren Reden eines verhinderten Gurus lauschten. Als unbeteiligter Zuschauer – der ich in der Tat viel lieber gewesen wäre – hätte ich mir diese Aufführung wohl auch nicht entgehen lassen.
Leider war Timmy durch nichts zu bremsen. Es gab einfach keine Atempause in seinem Redeschwall. So gelang es mir auch nicht, ihn mit irgendeinem lockeren Spruch zur Besinnung zu bringen.
„Weißt du, was dieser ewige Verweis auf die Überlebensnotwendigkeit des Wachstums ist?“ ereiferte er sich weiter. „Nichts anderes als Erpressung – nackte, brutale Erpressung! Und eine solche Erpressung ist geradezu ein Wesensmerkmal dieser ganzen Wirtschaftsweise. Am Anfang wird etwas hergestellt und mit einem Propagandaaufwand, der jeden Diktator vor Neid erblassen lassen würde, in den Markt gedrückt. Immer nach dem Prinzip: Schnelligkeit geht vor Gründlichkeit! Wenn es nämlich die ersten kritischen Untersuchungen zu der bahnbrechenden Neuentwicklung gibt, hat die sich längst zu einem ganzen Wirtschaftszweig ausgewachsen.
Wer dann davor warnt, dass das neue Lieblingskind der Wachstumsindustrie schädliche Nebenwirkungen haben könnte oder dass es in der Summe mehr Schaden als Nutzen bringt, dass es gar nicht hält, was es verspricht, dem entgegnet man einfach achselzuckend: ‚Sorry, jetzt hängen schon zu viele Arbeitsplätze dran – da gibt’s leider kein Zurück mehr.‘
Wenn dadurch wenigstens das befördert würde, was angeblich das Ziel dieses ganzen Systems ist – die freie Entfaltung des Individuums –, ja, dann könnte man vielleicht noch über die Nachteile hinwegsehen. De facto entfremdet diese Wirtschaftsweise den Einzelnen aber in fundamentaler Weise von sich selbst, indem sie ihn dazu zwingt, sich auf das Materielle, den äußeren Schein der Dinge, zu konzentrieren.“
Die verlorene Dunkelheit Gottes
Timmy ließ sich in seinen Stuhl sinken und nahm einen Schluck von seinem Cappuccino. Ich hoffte schon, sein Monolog wäre zu Ende, aber da hatte ich mich leider getäuscht. Kaum hatte er seine Tasse abgesetzt, sprudelte es weiter aus ihm heraus.
„Erinnerst du dich noch daran, wie wir einmal eine ganze Nacht lang zusammen Rilke gelesen haben?“ fragte er, nun etwas versöhnlicher klingend. „An das Stundenbuch und den Mönch, der in der Abgeschiedenheit seines Klosters um ‚Gott, um den uralten Turm‘, kreist?
Weißt du noch? ‚Gott dunkelt hinter seinen Welten …‘ Das heißt doch: Wenn ich zu dem Grund des Erschaffenen vordringen möchte, wenn ich ein Gespür für das Sein hinter den Erscheinungen, das, was ihnen ihre Lebensfülle verleiht, bekommen möchte, muss ich von Zeit zu Zeit in die Dunkelheit eintauchen, still in mich hineinhören, das Nichts erlauschen, die Wahrheit, die hinter den Dingen ruht …
Wir aber fluten unsere Städte mit Licht und Lärm, und wenn uns die Energie dafür ausgeht, produzieren wir neue Dinge, die vielleicht neue Energie erzeugen, zugleich aber auch neue Energie verbrauchen, so dass wir für die Gewinnung der neuen Energie selbst wieder neue Energie erzeugen müssen, anstatt sie irgendwo anders einzusparen.
In der Summe umstellen wir uns so nur mit noch mehr Dingen, wir stopfen den ganzen Raum mit Materie voll, verfangen uns in unserem selbst gesponnenen Wachstumsnetz und nehmen die Welt nur noch wie durch Gitterstäbe hindurch wahr.
Natürlich sind die Dunkelheit, die Stille und die Leere an sich nichts Erstrebenswertes, ja, sie sind, für sich genommen, ebenso wenig existent wie die Freizeit, die nur dadurch entsteht, dass es entfremdete, enteignete Zeit gibt. Dort, wo es kein Licht gibt, gibt es auch keine Dunkelheit, sondern nur ewige Nacht. Und dort, wo es keine Geräusche gibt, gibt es auch keine Stille, sondern nur Lautlosigkeit.
Wenn ich aber in einer Welt der Erscheinungen lebe, muss ich von Zeit zu Zeit von den Dingen zurücktreten, um nicht das Gespür dafür zu verlieren, dass es sich bei dem, was wir sehen, nur um Abbilder handelt – um mögliche, aber nicht notwendige Erscheinungsformen des Seins, um reine Phantasieprodukte unseres Gehirns.
Wir jedoch tun das Gegenteil: Wir binden uns an den äußeren Schein, wir beten die Dinge an wie Fetische, die uns vor dem beschützen sollen, was wir am meisten fürchten. Dabei könnte uns gerade das, was wir aus unserem Alltag vertreiben, der Wahrheit des Seins näherbringen: die Dunkelheit, die Leere und die Stille. Ich warte nur noch darauf, dass irgendwann jemand einen elektrischen Arschabwischer erfindet, um die Stille endlich auch von dem ’stillen Örtchen‘ zu vertreiben …“
Paula und Timmy
Nachdem Timmy seine Grantel-Arie endlich beendet hatte, kam er mir vor wie ein Schlafwandler, der plötzlich aus seiner Traumwelt aufschreckt. Betroffen blickte er in die vielen Augen, die auf ihn gerichtet waren und die sich nun, in ihrer Schaulust ertappt, verschämt von ihm abwandten.
Wie stets, wenn jemand seine Seele vor anderen mehr entblößt, als es die Beziehung verträgt, trat ein peinliches Schweigen ein. Ich war ganz benommen von der großen Wutrede, deren Furor noch eine Weile in mir nachhallte.
Dass Timmy sich bei seinem Loblied auf die Dunkelheit und das einfache Leben ausgerechnet auf Rilke berufen hatte, hätte mich noch nachträglich beinahe zum Lachen gereizt. Denn Rilke, dieser Dichterfürst und Freund der Adligen, der sich von seinen hochwohlgeborenen Freunden auf deren Schlössern verhätscheln ließ, wäre doch der Letzte gewesen, der als Waldschrat den Annehmlichkeiten dieser Welt entsagt hätte!
Eine Zeitlang verharrte ich schweigend auf meinem Platz, gelähmt von der Atmosphäre der Entzweiung, die sich zwischen uns ausgebreitet hatte. Auch Paula sagte nichts, doch war ihr Schweigen ganz anderer Art. Es war eher ein Schweigen aus tiefer Übereinstimmung als ein Schweigen der Entzweiung. Jedenfalls wirkte es so auf mich durch die aufmunternden Blicke, die sie Timmy zuwarf.
Als ich gezahlt hatte und wir uns von unseren Plätzen erhoben hatten, verabschiedete ich mich von Timmy mit einem lauwarmen Händedruck. Paula dagegen trat zu meiner Überraschung auf Timmy zu und umarmte ihn lange und innig. Es schien mir sogar so, als würde sie ihm dabei etwas ins Ohr flüstern. Nun war meine Stimmung endgültig auf dem Nullpunkt angelangt!
Abschiedsschmerz
Am folgenden Tag reiste Paula ab. Nachdem ich sie zum Flughafen begleitet hatte, brachte ich es nicht fertig, gleich in die leere Wohnung zurückzukehren. Ich fühle mich immer irgendwie verlassen, wenn Paula wieder weg ist.
Dieses Mal aber kam noch etwas anderes hinzu. Nach Timmys wortreichem Rundumschlag fühlte ich mich bei den banalsten Alltagsverrichtungen – dem Betätigen eines Lichtschalters, dem Einschalten des Fernsehers oder dem Biss in ein getoastetes Brötchen – auf einmal irgendwie verunsichert. Meinem Alltag war jene Selbstverständlichkeit abhandengekommen, die ihn erst zu einem solchen macht.
So schlenderte ich eine Zeitlang ziellos durch die Straßen. Dabei kam ich auch an der Stelle vorbei, wo ich Timmy am Abend zuvor getroffen hatte. Allerdings hatte er seinen Posten noch nicht wieder bezogen. Wahrscheinlich, dachte ich bei mir, schämte er sich noch immer für seinen lächerlichen Auftritt und war deshalb erst einmal auf Tauchstation gegangen.
Asyl im Paradies
Als Paula mich das nächste Mal besuchte und das Gespräch irgendwann auf Timmy kam, lächelte meine Südseesphinx auffallend geheimnisvoll.
Natürlich habe ich sie gleich gefragt, was sie vor mir verberge. Paula genoss zunächst meine Neugierde und ließ mich noch ein wenig zappeln. Dann bekannte sie mit einem koketten Augenaufschlag, auf eine unserer zahlreichen Diskussionen anspielend: „Wir haben Timmy Asyl gewährt.“
„Wie bitte?“ rief ich aus. „Timmy lebt jetzt bei euch?“
Paula nickte nur, belustigt über meinen Ausbruch. Die Vorstellung, dass dieser Totalverweigerer nun ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht an meinem Sehnsuchtsort genoss, während ich nur alle paar Monate daran schnuppern durfte, war wie ein Schlag ins Gesicht für mich. Ich brauchte einige Zeit, um mich davon zu erholen.
Mittlerweile sehe ich das Ganze schon wieder etwas gelassener. Natürlich nagt die Eifersucht noch immer an mir. Aber ich weiß ja schon lange, dass ich Paula mit anderen teilen muss. Sie ganz für sich haben zu wollen, wäre so, als wollte man die Luft besitzen, die man atmet.
Bild: Paul Müller-Kaempff (1861 – 1941): Landschaft mit Mond; Unterlüß, Albert-König-Museum (Wikimedia commons)

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