Der Aussteiger. Gespräch über das Wirtschaftswachstum

Gespräche mit Paula/11

„Führt euer ewiges Wachstum nicht dazu, dass ihr in einem permanenten Provisorium lebt? Und sind all die Dinge, die euer Wachstum hervorbringt, nicht in Wahrheit eine Fessel für euch? Wärt ihr ohne sie nicht glücklicher?“

Wachstum und Gerechtigkeit

Zu den Dingen, über die Paula sich immer wieder wun­dert, wenn sie bei mir zu Besuch ist, gehören die vielen Baustellen in der Stadt. „Irgendwann müsst ihr doch mal fer­tig sein!“ hat sie einmal zu mir gesagt. „Sonst lebt ihr doch in einem ewigen Provi­sorium.“

„Da hast du mal was Wahres gesagt!“ lachte ich. „Unsere Städte sind wirklich ein ewiges Provisorium – sozusagen ein Spiegel­bild der modernen Welt und ihrer sich ständig selbst überho­lenden Dynamik. Abgesehen davon ist die Baubran­che natür­lich auch ein wichti­ger Motor unserer Konjunktur.“

Ich biss mir auf die Zunge. Warum nur hatte ich den blöden Nachsatz anfügen müssen? Jetzt stand mir wahrscheinlich wie­der ein anstrengendes Frage-Antwort-Spiel bevor!

Um das Ganze abzukürzen, wartete ich gar nicht erst, bis Paula ihren fragenden Blick in Worte übersetzte, sondern schob gleich eine Erklärung hinterher: „Unter ‚Konjunktur‘ verste­hen wir die Entwicklungsdynamik un­serer Wirtschaft. Spricht man bei­spielsweise von einer ’stabilen Konjunktur‘, so befindet sich die Wirtschaft auf Wachstumskurs.“

Paula sah mich noch immer an, als würde ich in einem Dia­lekt der Inneren Mongolei auf sie einreden. „Von welcher Wirtschaft redest du jetzt eigentlich?“ fragte sie. „Von der Landwirtschaft? Von der Textilwirt­schaft? Oder vielleicht …?“

„Wenn man von ‚der‘ Wirtschaft redet, ist immer die Ge­samt­heit der volkswirtschaftli­chen Aktivitäten gemeint“, unterbrach ich sie. „Das Ergebnis bezeichnet man auch als Bruttosozial­produkt.“

„Dann wird damit also ein Mechanismus zur Herstellung von Gerechtigkeit bezeichnet?“ deutete Paula meine Worte. „Um nicht ein­zelne Wirtschaftszweige, die niedrigere Um­sätze als andere er­zielt haben, zu benachtei­ligen, er­rech­net ihr den durchschnittlichen Gewinn aller Wirtschaftszweige und verteilt dann die Gewinne gleichmäßig unter allen Gemein­schaftsmitgliedern. Richtig?“

Ich seufzte. Manchmal war Paula die Logik unseres Denkens so fremd, dass es selbst bei einfachsten Zusammenhängen kaum mög­lich war, sie ihr begreiflich zu machen.

„Nein, mit Umver­teilung hat das nichts zu tun“, korrigierte ich sie. „Natürlich führt eine stabile Konjunktur in der Regel auch zur An­hebung des Wohlstandsniveaus. Das heißt aber nicht, dass Einzelne dabei nicht auch Nachteile erleiden, also etwa bankrottgehen oder den Arbeits­platz verlie­ren. Schließlich können die Un­ternehmen ja bei weni­ger Wettbewerbern mehr Gewinne generie­ren oder Kosten sparen, wenn sie mit weni­ger Arbeitskräften auskommen. Wenn sie die Produktivität steigern und ihre Gewinne erhöhen, deutet das daher zwar auf eine ro­buste konjunkturelle Entwicklung hin, heißt aber nicht not­wendig, dass auch das ein­zelne Unternehmen oder die einzelne Ar­beits­kraft davon profi­tiert.“

Paula schüttelte verständnislos den Kopf. „Wie kann denn eine allgemeine Entwick­lung positiv sein, wenn sie für den Einzel­nen negativ ist?“

Wiedersehen mit Timmy

Glücklicherweise schien sie eher laut zu denken, als ihre Fragekaskade fortsetzen zu wollen. Ich unter­ließ es daher tunlichst, auf die Bemerkung einzugehen. Stattdessen bemühte ich mich, ihre Aufmerksamkeit auf an­dere Dinge zu lenken.

Es war ein lauer Sommerabend, und dazu noch der letzte Tag von Paulas Aufenthalt bei mir. Den wollte ich nun wirklich nicht von irgendwelchen Grundsatz­diskussionen trü­ben lassen! Lieber wollte ich mich mit ihr in eines der Straßenca­fés setzen und dort in das Ge­räuschemeer aus Straßenmusik, Gesprächsfetzen und ver­wehendem Gelächter eintauchen. Lei­der machte mir dabei ein un­glücklicher Zufall einen Strich durch die Rechnung.

Kurz bevor wir den zentralen Platz erreich­ten, wo die Cafés und Restaurants ihre Ti­sche wie um eine imaginäre Bühne gruppiert hatten, kamen wir an einem Obdachlosen vorbei, der sich, einen zerknautschten Hut im Schoß, vor einem Kaufhaus niedergelas­sen hatte. Ich hatte zwar meinen Ob­dachlo­sen-Obolus für den Tag schon entrichtet, aber Paula sah den Mann so mitleidig an, dass ich mich genötigt fühlte, noch eine Münze lockerzumachen.

Als ich die milde Gabe in den Hut fallen ließ, trafen sich meine Blicke mit denen des Mannes auf dem Boden. Für ein paar Se­kunden las jeder im Gesicht des Anderen, auf der Suche nach irgendeinem Anhalts­punkt, der das plötzliche Gefühl der Ver­trautheit erklären könnte.

„Timmy?“ fragte ich schließlich un­gläubig.

Der Andere nickte. Und nun gelang es mir tatsächlich, hin­ter dem dichten Vollbart und den zerzausten Haaren den Mann zu erken­nen, mit dem ich einmal befreundet gewe­sen war. Eigent­lich hieß er ja Erwin, aber alle riefen ihn nur bei seinem zweiten Vorna­men, Tim oder eben Timmy.

Wie lange war es mittler­weile her, dass ich ihn das letzte Mal ge­sehen hatte? Vier Jahre? Oder doch eher fünf? Oder noch län­ger?

Timmys Geschichte

Timmy hatte schon immer ein eher zurück­gezogenes Leben geführt. Als seine Großel­tern mütterlicherseits gestorben waren, hat­ten seine Eltern keine Verwendung gehabt für das alte Haus. Und da auch sonst nie­mand von der Familie ein­ziehen wollte und am Markt nur ein lächerlich niedriger Preis dafür zu erzielen war, hatte man es Timmy überschrieben.

Hinter dem Haus er­streckte sich ein verwil­derter Garten, mit alten Obstbäumen und abgestorbenen Ulmen, die Timmy, den Spechten zur Freude, einfach sich selbst überließ. Dort habe ich im Sommer oft mit ihm gesessen und bei einem Glas Rotwein den Grillen gelauscht.

Soweit ich mich erinnern konnte, hatte Timmy damals auch einen festen Job ge­habt. Ich verstand also zunächst gar nicht, was ihn so aus der Bahn hatte werfen kön­nen. Aller­dings ent­sann ich mich auch, dass sein Verhalten schon da­mals immer be­fremdlichere Züge angenommen hatte.

Hatte nicht alles mit einem kaputten Staub­sauger angefan­gen? Mir fielen wieder die zahlreichen Treppen und Winkel ein, die es in Timmys altem Gemäuer gab. Einen mo­dernen Staubsau­ger stellte das vor unge­ahnte Probleme.

Als Timmy sich inner­halb von zwei Jahren schon den dritten neuen Staubsauger hatte anschaffen müssen, erinnerte er sich an den mechanischen Teppichkehrer, den seine Oma früher benutzt hatte. Er fand ihn noch unversehrt auf dem Spei­cher, das Gerät funktionierte einwandfrei, und das Putzer­gebnis war aus seiner Sicht ebenfalls zufrie­denstellend.

„Für mich reicht’s“, konterte er meinen skep­tischen Blick, als er mir davon erzählte. „Ich bin doch kein Putzteufel!“

Von da an ersetzte Timmy alle elektrischen Geräte nach und nach durch die mechani­sche Variante: das Rühr­gerät durch einen Schneebesen, den Rasierapparat durch ei­nen Handrasierer, und den Föhn durch heiße Luft, die ihm im Sommer die Sonne, im Winter seine Ofenheizung spendete.

Wie Timmy zum Austeiger wurde

Eines Tages berichtete Timmy mir mit kindli­chem Stolz, dass er nun auch seinen Was­serkocher abgeschafft hätte. Stattdessen koche er das Wasser neuerdings auf dem alten Beistellherd seiner Großeltern, den er gleichzeitig zum Heizen benutzen könne.

Wenn ich ihn daraufhin in eine Diskussion über die umwelt­schädlichen Folgen des vermehrten Holzverbrauchs und die Feinstaubproblematik verwickelt hätte, wä­ren meine Worte vielleicht sogar auf frucht­baren Boden gefallen. Mir aber ging der fast schon missionarische Eifer, mit dem er alle technischen Errungenschaften über Bord warf, zu­nehmend auf den We­cker. Deshalb fiel meine Antwort leider et­was grundsätzli­cher aus.

„Wenn’s nach dir ginge“, entgegnete ich ge­nervt, „würden wir wahrscheinlich noch wie die Steinzeitmenschen in Höhlen leben. Ohne technischen Fortschritt gäbe es doch weder Zivili­sation noch Kultur. Und die Konjunktur würde ohne ihn auch abgewürgt werden. Die Wirt­schaft braucht nun einmal Innova­tionen, um wachsen zu können. Und wirtschaftliches Wachs­tum sichert das Überleben unse­rer Gesellschaft. Denn ohne Wachstum gäbe es keine Ar­beitsplätze, ohne Arbeitsplätze kei­nen Konsum, ohne Kon­sum keine Produk­tion … Du siehst, technischer Fortschritt ist ein Kernelement der modernen Ge­sell­schaft. Ohne ihn würde unser gesamtes Wirtschaftssystem kollabieren.“

Auf diese Worte hin war Timmy in ein düsteres Schwei­gen verfallen. Ich spürte zwar sofort, dass ich mich ein wenig im Ton vergrif­fen hatte. Alle Versuche, einzulenken und harmlosere Themen anzuschneiden, schlu­gen jedoch fehl.

Timmy blieb während meines gesamten Be­suchs einsilbig. Er bot mir noch nicht einmal etwas von dem Tee an, den er extra für mich gekocht hatte. Also machte ich mich, nun selbst ver­stimmt, kurz darauf aus dem Staub. Da­nach hat er sich nicht mehr bei mir gemeldet, und auch ich hatte keine Veran­lassung gesehen, ihn noch einmal aufzusu­chen.

Timmys Alltag

All das schoss mir durch den Kopf, als ich Timmy nun so unverhofft wiedersah. Ich hatte deshalb allerdings keineswegs vor, mich länger mit ihm abzugeben.

Wie gesagt – es war mein letzter Abend mit Paula. Ich bemühte mich daher, die Un­terhaltung mit Timmy auf ein paar Höflich­keitsfloskeln zu beschränken und mich dann aus dem Staub zu machen.

Leider kam Paula mir jedoch zuvor: „Ihr kennt euch?“ fragte sie, indem sie abwech­selnd mich und Timmy ansah.

Auf unser Nicken hin meinte sie fröhlich: „So ein Zufall! Dann lasst uns doch alle zusam­men was trinken gehen!“

So musste ich mich zähneknirschend damit abfinden, dass Timmy uns in eines der Stra­ßencafés begleitete.

„Sag mal“, fragte ich ihn, nachdem wir uns ein schönes Plätz­chen ausgesucht hatten, „wohnst du eigentlich immer noch in dem alten Kasten?“

Ich hatte die Frage einfach so dahingesagt, um das Eis zu brechen. Erst danach fiel mir auf, dass ich damit wohl an einen wunden Punkt gerührt hatte. Denn warum sollte Timmy sein Lager in der Fußgängerzone auf­schlagen, wenn er ein eigenes Haus besaß?

Timmy aber entgegnete mit der größten Selbstverständlich­keit: „Ich habe mir für den Winter ein Zimmer darin freige­halten. Den Rest habe ich einer Obdachloseninitiative über­lassen.“

„Ach so – und da gibt’s Probleme mit der Miete?“ schluss­fol­gerte ich, da Timmy im Falle regelmäßiger Mietzahlungen ja nicht hätte betteln gehen müssen.

Aber Timmy lachte nur trocken. „Welche Miete denn?“ Eine gewisse trotzige Über­heblichkeit schwang in seinen Worten mit.

„Du meinst, du überlässt denen das Haus kostenlos?“ wun­derte ich mich.

Timmy nickte stolz.

„Und wovon lebst du dann?“ bohrte ich un­vorsichtigerweise weiter. „Ich meine, von den paar Münzen, die du hier ein­sam­melst, kannst du ja kaum deinen Lebensunterhalt bestreiten. Außerdem ist das doch irgend­wie … irgendwie …“

„Würdelos?“ führte Timmy meinen Gedan­ken weiter. „Ist es das, was du sagen woll­test?“

Paula warf mir einen strafenden Blick zu. Es war ihr deutlich anzumerken, dass sie mit meiner Art, Timmy auszufragen, nicht ein­verstanden war. Tatsächlich kann ich auch nicht ausschlie­ßen, dass dabei eine gewisse Aggressivität mit im Spiel war. Schließlich war Timmy ja gerade dabei, mir mei­nen letz­ten Abend mit Paula zu verderben.

Timmy sah mich durchdringend an: „Ist es etwa würdevol­ler, allein in einem ganzen Haus zu leben, während andere auf der Straße leben müssen? Abgesehen davon fühle ich mich auch viel freier, seit ich das Haus nicht mehr besitze. Den Sommer über lebe ich jetzt im Wald, in einer verlasse­nen Holzarbeiter­hütte. Da ist die Luft viel besser – und dann gibt’s im Wald ja auch lauter Bio-Produkte umsonst: Beeren, Pilze, Kräuter … Man muss sich halt nur auskennen!“

Paula schenkte Timmy ein wohlwollendes Lächeln. Jetzt fühlte ich mich erst recht zum Widerspruch herausgefordert. „Und wie sieht es mit Strom und fließendem Was­ser aus?“ fragte ich bei­läufig.

„Wozu brauche ich denn fließendes Wasser, wenn ich einen See um die Ecke habe?“ fragte Timmy triumphierend zu­rück.

„Na ja“, frotzelte ich, „Seife scheint es an deinem See aber nicht zu geben. Um ehrlich zu sein: Es müffelt schon ein wenig nach Raubtier in deiner Nähe.“

Er lachte verächtlich auf. „Das ist doch alles nur Gewöh­nungs­sache! Menschen müffeln nun einmal – das ist ihre Natur. Und mir ist mein natürlicher Geruch allemal lieber als dieses Duft­gewölle aus chemischen Zusät­zen, das einen hier“ – er rümpfte demons­trativ die Nase – „von überallher anweht.“

Die Müllerzeugungsmaschine

Die Kellnerin trat an unseren Tisch und brachte uns, was wir bestellt hatten. Während Paula sich sogleich über ihre Eis­schokolade hermachte, ließen Timmy und ich unsere Cappucci­nos zunächst unberührt vor uns stehen.

„Also jetzt mal Hand aufs Herz“, griff ich den Gesprächsfa­den nach einer Weile wieder auf. „Warum hast du denn nun wirk­lich dein altes Leben weggeworfen? Immerhin hattest du ein gemütliches Haus, einen festen Job … So etwas gibt man doch nicht so ohne wei­teres auf!“

Timmy sah mich herausfordernd an: „Ei­gentlich müsstest du ganz genau wissen, was den Ausschlag dafür gegeben hat.“

Er weidete sich einen Augenblick lang an meinem verdutz­ten Blick, dann setzte er hinzu: „Du hast doch damals selbst gesagt, dass ich mit meiner Konsumverweigerung das wirt­schaftliche Wachstum untergrabe. Da habe ich halt die Konsequenzen gezogen und bin gleich ganz ausgestiegen. So habe ich mit dem Ganzen jetzt einfach nichts mehr zu tun. Beide Welten sind sauber von­einander getrennt.“

Ich sah ihn fassungslos an: „Und das glaubst du wirklich?“

„Ja, klar“, beharrte er trotzig. „Warum auch nicht?“ Insge­heim spürte er wohl selbst, dass er, wenn er wirklich hätte aussteigen wollen, auf den Mond oder besser noch in eine andere Galaxie hätte auswandern müs­sen.

So gelang es ihm nur kurz, den Ärger über den Spiegel, den ich ihm vorhielt, herunter­zuschlucken. Dann brach es regel­recht aus ihm heraus: „Dieses ganze Wachstumsge­rede ist doch letzt­lich eine einzige große Münchhausen-Geschichte! Wachstum – das hört sich so organisch an, das klingt nach Na­tur, nach Bäumen und Pflanzen und Blü­me­lein. Dabei läuft wirtschaftliches Wachs­tum doch letztlich auf das Gegenteil hinaus. Es bedeutet, dass immer neue Dinge produ­ziert werden, von denen uns eingeredet wird, dass wir sie unbedingt kaufen müssen, obwohl sie in Wahr­heit niemand braucht. Und wenn sich dann alle mit den un­nötigen Dingen eingedeckt haben, werden wieder neue unnötige Dinge erfunden, die angeb­lich viel effektiver sind als die alten und die man unbedingt haben muss, wenn man mit der Zeit gehen will.

Heute wird einem dazu noch suggeriert, dass die neuen Ge­räte viel ökologischer seien als die alten, dass man durch das Wegwerfen des Alten und den Erwerb des Neuen also die Umwelt schone. So etwas nennt man dann ‚Versöhnung der Ökonomie mit der Ökologie‘. Dabei wäre das doch al­lenfalls dann möglich, wenn man vorher die Art des Wirtschaftens und die ihr zugrunde liegende Lebensweise ändern würde. In Wahrheit ist diese ganze Wachstumsöko­nomie doch nichts anderes als eine giganti­sche Müllerzeugungsma­schine!

Aber wehe, du sprichst offen aus, dass der König nackt ist! Dann bist du ein Ewiggestri­ger, ein Fortschrittsfeind, ein realitätsfrem­der Spinner – und wenn all die Anwürfe dich noch nicht zum Schweigen gebracht haben, diffamiert man dich auch noch als Asozialen, weil du mit deiner Kaufverweigerung angeb­lich Ar­beitsplätze gefährdest.“

Münchhausen-Geschichten

Timmy hatte sich so in Rage geredet, dass er gar nicht mehr auf seine Umgebung achtete. Er war richtig laut geworden und hatte sich halb von seinem Stuhl erhoben, als würde er sich mit seiner Rede an ein größeres Audito­rium wenden.

So war es kein Wunder, dass die anderen Gäste in dem Straßencafé sich immer unge­nierter zu uns um­wandten. Es war ja auch wirk­lich ein nicht alltägliches Schauspiel, das wir da boten: eine Südsee­schönheit mit ei­nem hilflosen Trabanten, die den wirren Re­den eines ver­hinderten Gurus lauschten. Als unbeteiligter Zuschauer – der ich in der Tat viel lieber ge­wesen wäre – hätte ich mir diese Auffüh­rung wohl auch nicht ent­gehen lassen.

Leider war Timmy durch nichts zu bremsen. Es gab einfach keine Atempause in seinem Redeschwall. So gelang es mir auch nicht, ihn mit irgendeinem lockeren Spruch zur Besinnung zu bringen.

„Weißt du, was dieser ewige Verweis auf die Überlebensnotwendigkeit des Wachstums ist?“ ereiferte er sich weiter. „Nichts ande­res als Erpressung – nackte, brutale Erpres­sung! Und eine solche Erpressung ist gera­dezu ein Wesensmerkmal dieser ganzen Wirtschaftsweise. Am Anfang wird etwas hergestellt und mit einem Propagandaauf­wand, der jeden Diktator vor Neid erblassen lassen würde, in den Markt gedrückt. Immer nach dem Prinzip: Schnelligkeit geht vor Gründlich­keit! Wenn es nämlich die ersten kritischen Untersu­chungen zu der bahnbrechenden Neuentwicklung gibt, hat die sich längst zu einem ganzen Wirtschaftszweig ausgewach­sen.

Wer dann davor warnt, dass das neue Lieb­lingskind der Wachstumsindustrie schädli­che Nebenwirkun­gen haben könnte oder dass es in der Summe mehr Schaden als Nutzen bringt, dass es gar nicht hält, was es verspricht, dem entgegnet man einfach achselzuckend: ‚Sorry, jetzt hän­gen schon zu viele Arbeitsplätze dran – da gibt’s leider kein Zurück mehr.‘

Wenn dadurch wenigstens das befördert würde, was angeb­lich das Ziel dieses ganzen Systems ist – die freie Entfaltung des Indivi­duums –, ja, dann könnte man vielleicht noch über die Nach­teile hinwegsehen. De facto entfremdet diese Wirt­schaftsweise den Einzelnen aber in fundamentaler Weise von sich selbst, indem sie ihn dazu zwingt, sich auf das Ma­terielle, den äußeren Schein der Dinge, zu konzentrieren.“

Die verlorene Dunkelheit Gottes

Timmy ließ sich in seinen Stuhl sinken und nahm einen Schluck von seinem Cappuccino. Ich hoffte schon, sein Monolog wäre zu Ende, aber da hatte ich mich leider ge­täuscht. Kaum hatte er seine Tasse abge­setzt, sprudelte es weiter aus ihm heraus.

„Erinnerst du dich noch daran, wie wir ein­mal eine ganze Nacht lang zusammen Rilke gelesen haben?“ fragte er, nun etwas ver­söhnlicher klingend. „An das Stun­denbuch und den Mönch, der in der Abgeschieden­heit sei­nes Klosters um ‚Gott, um den ural­ten Turm‘, kreist?

Weißt du noch? ‚Gott dunkelt hinter seinen Welten …‘ Das heißt doch: Wenn ich zu dem Grund des Erschaffenen vordringen möchte, wenn ich ein Gespür für das Sein hinter den Er­scheinungen, das, was ihnen ihre Lebens­fülle verleiht, be­kommen möchte, muss ich von Zeit zu Zeit in die Dunkel­heit eintau­chen, still in mich hinein­hören, das Nichts erlau­schen, die Wahrheit, die hinter den Dingen ruht …

Wir aber fluten unsere Städte mit Licht und Lärm, und wenn uns die Energie dafür aus­geht, produzieren wir neue Dinge, die viel­leicht neue Energie erzeugen, zugleich aber auch neue Energie verbrauchen, so dass wir für die Gewinnung der neuen Energie selbst wieder neue Energie erzeugen müssen, an­statt sie ir­gendwo anders einzusparen.

In der Summe um­stellen wir uns so nur mit noch mehr Dingen, wir stopfen den ganzen Raum mit Materie voll, verfangen uns in un­se­rem selbst gesponnenen Wachstumsnetz und nehmen die Welt nur noch wie durch Gitterstäbe hindurch wahr.

Natürlich sind die Dunkelheit, die Stille und die Leere an sich nichts Erstrebenswertes, ja, sie sind, für sich genom­men, ebenso we­nig existent wie die Freizeit, die nur dadurch entsteht, dass es entfremdete, enteignete Zeit gibt. Dort, wo es kein Licht gibt, gibt es auch keine Dunkelheit, sondern nur ewige Nacht. Und dort, wo es keine Geräusche gibt, gibt es auch keine Stille, sondern nur Lautlosigkeit.

Wenn ich aber in einer Welt der Erscheinun­gen lebe, muss ich von Zeit zu Zeit von den Dingen zurücktreten, um nicht das Gespür dafür zu verlieren, dass es sich bei dem, was wir sehen, nur um Abbilder handelt – um mögliche, aber nicht not­wendige Er­schei­nungsformen des Seins, um reine Phantasieprodukte unseres Gehirns.

Wir jedoch tun das Gegenteil: Wir binden uns an den äußeren Schein, wir beten die Dinge an wie Fetische, die uns vor dem be­schützen sollen, was wir am meisten fürch­ten. Dabei könnte uns gerade das, was wir aus unserem Alltag vertreiben, der Wahrheit des Seins nä­herbringen: die Dunkelheit, die Leere und die Stille. Ich warte nur noch da­rauf, dass irgendwann jemand einen elektrischen Arschabwischer er­findet, um die Stille endlich auch von dem ’stillen Örtchen‘ zu vertreiben …“

Paula und Timmy

Nachdem Timmy seine Grantel-Arie endlich beendet hatte, kam er mir vor wie ein Schlafwandler, der plötzlich aus seiner Traumwelt aufschreckt. Betroffen blickte er in die vielen Augen, die auf ihn gerichtet wa­ren und die sich nun, in ihrer Schaulust er­tappt, verschämt von ihm ab­wandten.

Wie stets, wenn jemand seine Seele vor an­deren mehr ent­blößt, als es die Beziehung verträgt, trat ein peinliches Schweigen ein. Ich war ganz benommen von der großen Wutrede, deren Furor noch eine Weile in mir nachhallte.

Dass Timmy sich bei seinem Loblied auf die Dunkelheit und das einfache Leben ausge­rech­net auf Rilke berufen hatte, hätte mich noch nachträglich bei­nahe zum Lachen ge­reizt. Denn Rilke, dieser Dichterfürst und Freund der Adligen, der sich von seinen hochwohlgeborenen Freunden auf deren Schlössern verhätscheln ließ, wäre doch der Letzte gewesen, der als Waldschrat den Annehmlichkeiten die­ser Welt ent­sagt hätte!

Eine Zeitlang verharrte ich schweigend auf meinem Platz, ge­lähmt von der Atmosphäre der Entzweiung, die sich zwi­schen uns aus­gebreitet hatte. Auch Paula sagte nichts, doch war ihr Schweigen ganz anderer Art. Es war eher ein Schweigen aus tiefer Überein­stimmung als ein Schweigen der Entzwei­ung. Jedenfalls wirkte es so auf mich durch die auf­munternden Bli­cke, die sie Timmy zuwarf.

Als ich gezahlt hatte und wir uns von unse­ren Plätzen erho­ben hatten, verabschiedete ich mich von Timmy mit einem lauwar­men Händedruck. Paula dagegen trat zu meiner Über­raschung auf Timmy zu und umarmte ihn lange und innig. Es schien mir sogar so, als würde sie ihm dabei etwas ins Ohr flüstern. Nun war meine Stimmung endgültig auf dem Nullpunkt angelangt!

Abschiedsschmerz

Am folgenden Tag reiste Paula ab. Nachdem ich sie zum Flug­hafen begleitet hatte, brachte ich es nicht fertig, gleich in die leere Wohnung zurückzukehren. Ich fühle mich immer irgend­wie verlassen, wenn Paula wieder weg ist.

Dieses Mal aber kam noch etwas anderes hinzu. Nach Timmys wortrei­chem Rund­um­schlag fühlte ich mich bei den banalsten All­tagsverrichtun­gen – dem Betätigen eines Lichtschalters, dem Einschalten des Fernse­hers oder dem Biss in ein getoastetes Bröt­chen – auf einmal irgendwie verunsichert. Meinem Alltag war jene Selbst­verständlich­keit abhandengekommen, die ihn erst zu einem solchen macht.

So schlenderte ich eine Zeitlang ziellos durch die Straßen. Dabei kam ich auch an der Stelle vorbei, wo ich Timmy am Abend zuvor getroffen hatte. Allerdings hatte er seinen Posten noch nicht wieder bezogen. Wahr­scheinlich, dachte ich bei mir, schämte er sich noch immer für seinen lächerli­chen Auf­tritt und war deshalb erst einmal auf Tauchstation gegangen.

Asyl im Paradies

Als Paula mich das nächste Mal besuchte und das Gespräch irgendwann auf Timmy kam, lächelte meine Südseesphinx auf­fal­lend geheimnisvoll.

Natürlich habe ich sie gleich gefragt, was sie vor mir verberge. Paula genoss zunächst meine Neu­gierde und ließ mich noch ein wenig zappeln. Dann bekannte sie mit ei­nem koketten Augenaufschlag, auf eine un­serer zahl­reichen Diskussionen anspielend: „Wir ha­ben Timmy Asyl ge­währt.“

„Wie bitte?“ rief ich aus. „Timmy lebt jetzt bei euch?“

Paula nickte nur, belustigt über meinen Ausbruch. Die Vor­stellung, dass dieser To­talverweigerer nun ein dauerhaftes Aufent­haltsrecht an meinem Sehnsuchtsort genoss, während ich nur alle paar Monate daran schnuppern durfte, war wie ein Schlag ins Gesicht für mich. Ich brauchte einige Zeit, um mich davon zu erholen.

Mittlerweile sehe ich das Ganze schon wie­der etwas gelasse­ner. Natürlich nagt die Ei­fersucht noch immer an mir. Aber ich weiß ja schon lange, dass ich Paula mit anderen teilen muss. Sie ganz für sich haben zu wol­len, wäre so, als wollte man die Luft besit­zen, die man atmet.

Bild: Paul Müller-Kaempff (1861 – 1941): Land­schaft mit Mond; Unterlüß, Albert-König-Museum (Wiki­media com­mons)

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