Ein Gedicht des polnischen Lyrikers Edward Stachura
Mit seinem Nonkonformismus und seiner Naturverbundenheit entwickelte sich Edward Stachura in den 1970er Jahren zu einem Idol der polnischen Jugend. Sein früher Tod im Jahr 1979 verlieh ihm endgültig Legendenstatus.
Ein neuer Tag erhebt sich aus dem Nebel
Die Stadt steht auf aus ihrem Nebelbett,
schält sich aus dem Sternentuch der Nacht.
Hier das Wandern eines heimatlosen Hundes,
dort das Warten auf die Heimkehr eines Heimatlosen –
und in mir eine Sehnsucht nach den weiten Armen
der in der Ferne erwachenden Welt.
Und die Erde dreht sich, dreht sich immer weiter
mit uns auf ihrem hübschen Buckel,
dreht für uns das Schicksalsrad.
Lass deine dunklen Gedanken zurück
in der dunklen Nacht!
Lass deine taubetupften Wangen
trocknen in den Sonnentupfern!
Lass deine feuchte Wehmut verschwinden
im schwindenden Nebel
und lass dich neu erschaffen
von dem neuen Tag, dem neuen Tag!
Die Stadt verlässt die schwüle Schlummerkammer
und hüllt sich in den frischen Sonnenmantel.
Da flieht das Schattenmeer zum Tor hinaus,
Milchkarren klappern lebenspendend,
die Haltestelle leuchtet auf wie eine Rose,
junge Träume flattern in der Morgenluft.
Und die Erde dreht sich, dreht sich immer weiter
mit uns auf ihrem hübschen Buckel,
dreht für uns das Schicksalsrad.
Lass deine dunklen Gedanken zurück …
Edward Stachura: Opadły mgły wstaje nowy dzień (Musik: Aleksander Nowacki)
Originalaufnahme von Edward Stachura aus dem Mai 1972, laut Info unter dem Video angeblich morgens nach einer durchzechten Nacht von Aleksander Nowacki in Stachuras Wohnung aufgezeichnet; mit Fotos des Dichters:
Über Edward Stachura
Edward Stachura lässt sich kurz als eine Art polnischer James Dean charakterisieren, angereichert mit ein paar Wandervogelelementen.
Geboren 1937 als Sohn polnischer Einwanderer nach Frankreich, kehrte Stachura 1948 mit seiner Familie nach Polen zurück. Nach der Schule wollte er sich zunächst an einer Hochschule für Bildende Künste einschreiben, scheiterte jedoch an der Aufnahmeprüfung und musste sich eine Zeit lang als Hilfsarbeiter bei einem Gartenbaubetrieb durchschlagen. In Lublin und Warschau studierte er schließlich Romanistik, was sich später auch in Übersetzungen französischer und spanischer Gedichte niederschlug.
Zum Idol der polnischen Jugend wurde Stachura, indem er seine Gedichte im Stil der Gitarrenlyrik vortrug. Dabei gab er sich sowohl durch die Inhalte seiner Werke als auch durch seine äußere Erscheinung betont nonkonformistisch.
Dies zeigte sich schon an seiner ersten Buchveröffentlichung, einer Kurzgeschichtensammlung mit dem Titel Eines Tages (1962), deren Protagonisten unter der Beschneidung ihrer individuellen Freiheiten durch das gesellschaftliche Normenkorsett leiden. Von außerhalb der Gesellschaft lebenden Einzelgängern handelt auch der Roman Siekierezada oder Der Winter der Waldmenschen (1971). Darin taucht Stachura in das Leben von Holzfällern ein, deren Alltag er für die Arbeit an dem Roman eine Zeit lang geteilt hatte.
Idol der polnischen Jugend
Stachuras Nonkonformismus blieb allerdings weitgehend unpolitisch. Zwar ließ sich seine Vorliebe für Jeans als Orientierung an der westlichen Rock- und Pop-Kultur deuten. Sein Freiheitsverständnis bezog sich allerdings eher auf ein ungebundenes Leben im Sinne einer Abkehr von festgefahrenen Alltagsroutinen und Karriereplanungen, verbunden mit einer Anknüpfung an die Wandervogel-Tradition.
Daraus ergab sich die paradoxe Situation, dass das lebende Vorbild für verweigerte Anpassung von einem Staat, dessen Schulen ein strenges Anpassungsprogramm für die Jugend umsetzten, mit allerlei Vergünstigungen gefördert wurde. Auch bei seinen Auslandsreisen, die ihn außer ins europäische Ausland auch nach Mexiko, Kanada sowie in die USA und den Nahen Osten führten, wurden ihm keine Steine in den Weg gelegt. Ungewollt wurde Stachura so als Ventil für die Sehnsucht nach einem Ausbruch aus den engen ideologischen Grenzen des staatlichen Erziehungssystems genutzt.
Spätestens als Stachura 1979 nach einem psychotischen Schub Selbstmord beging, entwickelte die Verehrung für ihn allerdings eine Eigendynamik, die der Staat nicht mehr unter Kontrolle halten konnte. Mit seinen Gedichten und dem darin ausgedrückten Lebensideal wurde er zur Symbolfigur junger Menschen, die sich ihr Denken und Fühlen nicht von starren Dogmen und Regelwerken vorschreiben lassen wollten.
Informationen zu Edward Stachura entnommen aus:
Culture.pl: Edward Stachura
Szwedowicz, Agata: Edward Stachura (1937 – 1979); dzieje.pl, 16. Februar 2011
Podcast zu Edward Stachura
Bilder: Hartono Subagio: Sonnenaufgang (Pixabay); Unbekannter Fotograf: Edward Stachura, um 1958 (Wikimedia commons)

Ingelore
Vielen Dank für diesen spannenden Beitrag, den ich gerne gelesen habe. Ich muss gestehen, dass ich mich noch kaum mit polnischer Lyrik beschäftigt habe und hier jetzt viel Neues und Lesenswertes entdecke!
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