Eine Bergwanderung

Auszug aus Nadja Dietrichs Roman Kaiserhorst

Teil 2 von Nadja Dietrichs Roman Kaiserhorst spielt in den Bergen. Diese sind deshalb auch immer wieder Ausgangspunkt philosophischer Überlegungen.

Abendessen in der Dorfwirtschaft: Der Männergesangsverein gibt eine Probe seines Könnens. Vibrierende Stimmen, großes Pathos. Was bleibt, ist die Empfindung einer gewaltigen Dissonanz. Die Lieder feiern die Schönheit der Heimat, die Texte sind voller Ehrfurcht vor den schroffen Felsen und den unerreichbaren Gipfeln – gleichzeitig wirken die Sänger aber alles andere als demütig. Sie scheinen eher von der Grandiosität der eigenen Gefühlswelt überwältigt zu sein als von der Schönheit der Bergwelt.
Vielleicht ist das ja die Folge eines Gewöhnungseffekts: Das dauerhafte Leben in den Bergen schwächt das Empfinden für die das menschliche Vorstellungsvermögen übersteigende Kraft, der die Bergwelt ihre Existenz verdankt. Stattdessen macht sich das Gefühl breit, als darin lebender Mensch selbst teilzuhaben an dieser Kraft. Die Folge ist eine Art Größenwahn, durch die sich das eigene Ich an die Stelle der Naturdemiurgin setzt. Wer aber aus diesem Größenwahn heraus handelt, zerstört am Ende genau jene Großartigkeit, aus der sich seine Allmachtsphantasien nähren: die in sich ruhende Harmonie einer unberührten Natur.
Ich muss an Toni denken. Er ist der Einzige, mit dem man hier über solche Themen sprechen kann. Aber er ist eben auch ganz anders als die übrigen Männer in diesem Dorf. Während deren Körper selbst ein wenig wie die Baumriesen wirken, die sie bei der Waldarbeit erlegen, hat Toni ausgesprochen zarte Gesichtszüge, schmale Schultern und einen tastenden, fast schon schwebenden Gang. So signalisiert schon seine äußere Erscheinung Widerstand gegen das hier vorherrschende Männlichkeitsideal.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir einmal zusammen einen Berg bestiegen haben. Es war einer jener sonnigen Spätherbsttage, an denen das weichere, mütterliche Licht die Melancholie des Abschieds mit der tröstenden Gewissheit des Überdauerns umfließt. Alles wird wiederkehren, flüsterte es mir zu, alles wird sich irgendwann wieder in genau der gleichen Weise zeigen wie in diesem Moment, unabhängig von dir, der du nur der momentane Spiegel dieser Stimmung bist.
Toni, der ein leidenschaftlicher und versierter Kletterer ist, hatte extra mir zuliebe eine, wie er es nannte, „Oma-Tour“ ausgewählt und auf Klettersteige sowie ausgesetzte Wege verzichtet. Allerdings waren trotzdem über tausend Höhenmeter zu überwinden. Entsprechend erschöpft ließ ich mich neben das Gipfelkreuz fallen, als wir endlich oben angekommen waren. Toni dagegen setzte sich, die Arme nach hinten abgewinkelt, wie nach einem entspannten Sonntagsspaziergang auf einen Felsvorsprung.
Eine Zeit lang war nichts zu hören außer meinem allmählich abflauenden Geschnaufe und dem heiseren „Krah-krah“ zweier Raben, die uns umschwebten. Dann sagte Toni, ohne sich zu mir umzudrehen, in die Stille hinein: „Yes, Baby: Alles ist eins …“
Ich kannte seine Sponti-Philosophie schon und reagierte deshalb in einem ähnlich flapsigen Ton: „Geistige Höhenflüge im Höhenrausch, was?“
Toni lachte. „Klar – ist doch besser als jeder Drogentrip! Aber im Ernst: Findest du nicht auch, dass hier oben die Gegensätze verschwinden? Du musst doch nur nach unten schauen: Die Grenzen verschwimmen, alles fließt ineinander, alles ist miteinander verbunden …“
„Ja-ja“, neckte ich ihn. „Über den Gipfeln iss a Ruah …“
Ich war müde und wollte mich ein wenig ausruhen. Toni aber ließ nicht locker. „Ich finde“, spann er seinen Gedanken weiter, „von den Bergen lernen heißt: die Gegensätze überwinden; sie mit sich selbst versöhnen; sie in der eigenen Person zusammenführen.“
Sein beharrliches Philosophieren reizte mich zum Widerspruch. „Aber sind Gegensätze nicht auch fruchtbar?“ wandte ich daher ein. „Nicht umsonst sagt man doch: Gegensätze ziehen sich an.“
Toni drehte sich halb zu mir um. Der Pferdeschwanz, zu dem er seine schulterlangen Haare zusammengebunden hatte, leuchtete im Gegenlicht wie ein Feuerschweif. „Ja, so sagt man“, bestätigte er. „Richtig müsste es aber heißen: Unterschiede ziehen sich an. Ohne Unterschiede gäbe es keine Entwicklung, dann würde alles noch ungeschieden im kosmischen Urkern ruhen. Und für einen Menschen heißt geboren werden: unterscheidbar werden, ein Anderer werden. Das Ideal der Ununterscheidbarkeit, der Uniformität, ist das Ideal des Totalitären, nicht der Totalität. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir Gegensätze brauchen, um einander anziehend zu finden. Zu starke Gegensätze führen langfristig immer zu Streit und Krieg.“
Ich unterdrückte ein Gähnen. „Und wir zwei überwinden jetzt also die Gegensätze, indem wir die Gipfel erklimmen?“
Toni lehnte sich zurück und boxte mich freundschaftlich in die Seite. „Autsch!“ beschwerte ich mich und boxte zurück.
Toni lachte. „Du musst halt immer auf der Hut sein“, fügte er dann hinzu, wobei unklar war, ob er sich dabei auf seine Attacke auf mich oder auf seine philosophischen Ausführungen bezog. „Ein Leben in Gegensätzen kann dich sehr schnell innerlich zerreißen. Ich bemühe mich deshalb, meine verschiedenen Seiten erst gar nicht zu Gegensätzen werden zu lassen, sondern sie irgendwie miteinander zu verbinden. Das Ergebnis nenne ich dann: inneres Gleichgewicht.“

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Buch (Hardcover) erscheint im Frühjahr 2024

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Bild: Steffen Thomas: Bergsteiger im Wallis (Pixabay)

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