Auszug aus Nadja Dietrichs Roman Kaiserhorst
Nach seiner Flucht aus der Psychiatrie zieht sich Carlo, der Protagonist aus Nadja Dietrichs Roman Kaiserhorst, in eine abgelegene Berghütte zurück. Dort findet er auch wieder die Kraft, sich seiner Arbeit als Maler zu widmen.
Der relativierende Effekt der Bergwelt war schon immer äußerst wirksames Heilmittel für mich. Die Berge haben nun einmal ihre eigene Wirklichkeit, vor der alle anderen Wirklichkeiten verblassen.
Dies hat mir schon früher aus so manchem Tief herausgeholfen, wenn ich mich wieder einmal in meiner eigenen Kunst-Welt eingesperrt gefühlt hatte; wenn ich in meinem Atelier zwischen all den Bildern stand, diesen Spiegelscherben meines eigenen Ichs, in denen sich meine Blicke auf die Welt brachen und deren Kakophonie von Stimmen in mich selbst zurückfloss. Manchmal kamen sie mir vor wie erwachsene Kinder, die sich weigern, von zu Hause auszuziehen, und so nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Eltern daran hindern, sich neu mit der Welt zu verschwistern.
Vielleicht sind Kunstwerke ja auch wirklich ein bisschen wie Kinder. Sie müssen hinausziehen in die Welt, ihren eigenen Weg gehen, im lebendigen Kontakt mit anderen ihren eigenen Platz, ihre eigene Bedeutung finden. Jedes Kunstwerk ist auf ein Du hin angelegt, es braucht die Brücke zu einem lebendigen Gegenüber, um sich entfalten zu können. Ohne dieses dialogische Element ist es im Grunde gar nicht existent.
Natürlich trägt ein Kunstwerk seinen Sinn bis zu einem gewissen Grad auch in sich selbst. Subjektiv, von den Kunstschaffenden aus betrachtet, ist es eine ganz spezielle Art, mit der Welt in Berührung zu kommen, ein Sich-Anverwandeln der Welt, das zugleich auf deren Umwandlung und Neuerschaffung abzielt.
Diese sozusagen autarke Sinnhaftigkeit gilt aber nur für den künstlerischen Prozess selbst. Ist dieser abgeschlossen, so kann Sinnhaftigkeit für das Kunstwerk nur durch einen erneuten kreativen Prozess gewonnen werden, wie ihn die lebendige Auseinandersetzung anderer mit ihm darstellt. Da die Erschaffung von Kunst untrennbar mit der Entäußerung des Subjekts in seine Werke verbunden ist, bedingt die Verweigerung dieser Auseinandersetzung ein Stück weit immer auch dessen geistigen Tod.
Objektives Geschehen und subjektive Wahrnehmung sind aber auch in diesem Fall nicht deckungsgleich. Der geistige Tod wird von denen, die Kunst erschaffen, nur dann als solcher empfunden und wirkt sich dementsprechend auf ihre künstlerische Tätigkeit aus, wenn sie sich in ihrem Selbstverständnis auf jene soziale Realität beziehen, aus der sich ihr geistiger Tod ergibt. Siedeln sie dagegen in eine andere Wirklichkeit über, so sind sie immun gegen das, was in der sozialen Realität mit ihren Werken geschieht.
Eben diese Immunisierung bewirkt für mich das Leben in den Bergen. Es hat etwas von einem Leben in einem Kloster, wo die Betenden ja auch – unabhängig von dem Grad ihrer Berührung mit der sozialen Realität außerhalb des Klosters – in einer eigenen Welt leben, deren Gesetzmäßigkeiten sich fundamental von der Welt jenseits der Klostermauern unterscheiden. Vor allem wurzelt dort jeder kommunikative Akt – ganz gleich, an wen er sich richtet – in dem großen transzendentalen Du, aus dem die Meditierenden ihre Kraft schöpfen.
Dies bedeutet nicht, dass ich in meiner Berghütte den ganzen Tag über beten und meditieren würde. Auch die Bilder, die ich hier male, sind nicht etwa primär religiöser Natur. Es ist schlicht so, dass ich mich in meiner Ausdrucksweise hier oben nicht mehr so direkt von der sozialen Realität beeinflusst fühle, der meine Bilder entspringen und auf die sie auch nach wie vor abzielen.
Ich fühle mich hier viel freier, genau das zum Ausdruck zu bringen, was in mir um Ausdruck ringt, und es dabei auch so zu gestalten, wie es sich aus innerer Notwendigkeit ergibt. Ich nehme keine Rücksicht mehr auf mögliche Vorlieben derer, die das fertige Kunstwerk vielleicht irgendwann einmal mit ihren kreativen Verstehensprozessen zu neuem Leben erwecken.
Buch (Hardcover) erscheint im Frühjahr 2024
Bild: Hermann Ottomar Herzog (1832 – 1932): Bergdorf (1873); Wikimedia commons


Jannik
Ich habe diese Überlegungen zur Kunst mit Interesse gelesen. Ich beschäftige mich mit Komposition. und kann die Gedanken gut nachvollziehen. Ich finde dieses „Herauslassen“ der geistigen Kinder in die Welt ist immer sehr aufwühlend, denn man ist als Künstler sehr verletzbar. Man weiß auch nicht, ob das Kunstwerk in anderen weiterlebt und dieser angesprochene dialogische Prozess weitergeht oder abgewiesen wird. Dennoch macht man weiter, weil man als Künstler nicht anders kann.
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