Jacques Préverts dichterisches Spiel mit den Strukturen des Alltags
In der Dichtung wollte Jacques Prévert das kultivieren, was den Kindern auf dem Weg zum Erwachsenwerden systematisch ausgetrieben wird: den unvoreingenommenen Blick auf die Dinge. Dies ging bei ihm auch mit einer bewussten Distanz gegenüber der Hochkultur einher.
Treibsand
Engel und Dämonen
Winde und Gezeiten
gleiten in flimmernder Ferne
deine schlafumschlungnen Augen
ins Meer gefallene Sterne
Engel und Dämonen
Winde und Gezeiten
im Treibsand sich kräuselnder Laken
deine traumbetupften Augen
unsichtbar kreisende Kraken
Engel und Dämonen
Winde und Gezeiten
ein Strudel ein sanftes Versinken
in deinen nachtbenetzten Augen
erträumtes Ertrinken
Jacques Prévert: Sables mouvants aus: Paroles (1946)
Die kindliche Weltsicht als Voraussetzung von Préverts Dichtung
Préverts Gedichte über Kindheit und Schule lassen keinen Zweifel an seiner kritischen Sicht auf die traditionelle Schulbildung. Der Sinn der Schule (und des Verständnisses von Erziehung und Bildung, für die sie steht) war für ihn nicht in erster Linie, den Kindern wichtige geistige Inhalte und Fertigkeiten beizubringen. Den hauptsächlichen Zweck der Schule sah er vielmehr darin, den Kindern ihre geistige Unabhängigkeit auszutreiben.
Ein Ausdruck dieser Unabhängigkeit war für Prévert auch der spezielle Blick, mit dem Kinder die Dinge des Alltags beurteilen. Dabei handelt es sich ihm zufolge um einen Blick, der die Maskerade des sozialen Alltags durchdringt und so bei den Erwachsenen Peinlichkeitsgefühle hervorruft:
„Häufig habe ich Leute zu ihrem Kind sagen hören: ‚Senk die Augen!‘ Denn der Blick von Kindern erzeugt bei den Erwachsenen fast immer Scham“ [1].
Er selbst, so Prévert, habe sich deshalb eben diesen Kinderblick – und mit ihm die „Tränen“, das „Lachen“ und die „glücklichen Geheimnisse“ der Kindheit – zu bewahren versucht. Und so stelle er „zu meinem Vergnügen“ noch immer kindliche Fragen – also Fragen, die durch ihre Distanz zum Alltagsgeschehen zu Verfremdungseffekten führen und so einen neuen Blick auf dieses ermöglichen [2].
Poesie als „Beiname des Lebens“
Aus dieser Haltung lässt sich unmittelbar Préverts dichterisches Ideal ableiten. Im Kern geht es ihm dabei um eine der Wahrhaftigkeit verpflichtete Dichtung. Darunter versteht er eine Poesie, die eben dadurch, dass sie ein Teil des Alltags bleibt, auf diesen zurückwirkt. In letzter Konsequenz erscheint die Dichtung dabei nur als ein anderer Begriff für das Leben bzw. für eine bestimmte Sicht auf dieses:
„Die Poesie (…) ist das, was man träumt, was man sich vorstellt, was man sich wünscht und was oft auch eintritt. Die Poesie ist überall, so wie Gott nirgends ist. Die Poesie ist einer der wahrsten, einer der passendsten Beinamen des Lebens“ [3].
Verwurzelung der Dichtung im Alltag
Sprachlich drückt sich diese Konzeption von Dichtung bei Prévert darin aus, dass er sich gegen den bedeutungsschweren Gestus hochkultureller Werke wendet [4]. Als Teil des Alltags bzw. als eine bestimmte Ausdrucksform des Lebens und der menschlichen Existenz dürfe dichterische Sprache nicht über den Köpfen der Menschen schweben und den Eindruck der Allwissenheit vermitteln. Prévert bevorzugt deshalb für seine Werke die „vom Volk geschaffene Sprache“, die „Sprache aller“, die der gewählten Ausdrucksweise „die Zunge herausstreckt“ [5].
Die Verwendung einfacher Ausdrucksformen erscheint dabei als sprachliche Entsprechung zu dem von Prévert gezielt eingesetzten kindlichen Blick auf die Welt. Dazu gehört freilich auch, dass er die Alltagssprache nicht einfach übernimmt und so ihre affirmative Wirkung verstärkt. Vielmehr erscheint diese in seinen Werken vielfach gebrochen. Hierfür operiert er mit verschiedensten Sprachspielen, in denen etwa Redewendungen wörtlich genommen werden oder in Aufzählungen scheinbar Unzusammenhängendes in einen neuen Bedeutungskontext überführt wird [6].
Spielerisches Aufbrechen verkrusteter Sprach- und Denkmuster
Prévert selbst vergleicht diese Art von Dichtung mit den konzentrischen Kreisen, die ein Kind mit einem ins Wasser geworfenen Stein auslöst. In ähnlicher Weise könnten dichterische Bilder die „aufgezwungenen Gedanken“ des Alltags durchdringen und so zu ihrer Auflösung beitragen [7].
Illustrieren lässt sich diese poetische Verfahrensweise an dem eingangs wiedergegebenen Gedicht Sables mouvants (Treibsand). Das Hauptthema des Versinkens im „Ozean der Liebe“ bringt hier eine Reihe von Bildern hervor, die sich gegenseitig ergänzen und so zwanglos eine eigene dichterische Sprache entfalten. Der so entstehende Eindruck einer Wellenbewegung greift zugleich das Motiv von Liebestod und Neugeburt in der Liebe auf.
Das Gedicht erscheint als harmonisches Gegenstück zu dem disharmonisch endenden Gedicht Pour toi, mon amour. Während in Sables mouvants die Erfüllung in der Liebe, das glückselige Versinken in ihrem Meer, beschworen wird, thematisiert Pour toi, mon amour das schmerzhafte Erwachen aus dem Rausch der Liebe bzw. das Auftauchen aus ihrem Meer:
Liebeslauf
Im funkelnden Himmel der Vögel
hat dich ein flüsternder Flügel
in mein Herz getragen.
Im duftenden Garten der Erde
hat mich der Atem des Weißdorns
mit deiner Liebe umhaucht.
Im Stachelgestrüpp unseres Nestes
hat sich eine Dornenkette
um dein Herz gelegt.
Zwischen den Schattenschiffen der Nacht,
die vertäut an der Kaimauer klagen,
habe ich dich verloren. [8]
Dichterische Wellenbewegungen
Ein ähnliches Kompositionsprinzip wie in Sables mouvants setzt Prévert auch in dem Gedicht Chez la fleuriste (Im Blumenladen) ein. In diesem Fall werden die Assoziationsfelder „Münzen/Geld“ und „Blumen/Düfte“ einander gegenübergestellt. Beide bringen einerseits aus sich selbst heraus, andererseits aber auch durch die Berührung mit dem jeweils anderen Assoziationsfeld immer neue Bilder hervor.
Der scharfe Gegensatz zwischen dem Füllhorn duftender Blumen auf der einen und den nutzlos über den Boden rollenden Münzen andererseits führt die zentrale Aussage des Gedichts auf plastische Weise vor Augen. Gerade die neuartige, unverbrauchte Form des Ausdrucks erlaubt es dabei, eine altbekannte Weisheit zu neuem Leben zu erwecken: Mit allem Geld und Gold der Welt lassen sich doch die wichtigsten Dinge des Lebens nicht kaufen. Die Schönheit der Blumen ist ebenso vergänglich wie jenes höchste Gut, das sie seit Jahrhunderten symbolisieren: die Liebe.
Im Blumenladen
Rote blaue gelbe Blumen
ein Bad in einem Meer aus Düften
für ein paar abgezählte Münzen
die über die Theke des Blumenladens
auf den blütenbetupften Boden rollen
um einen gefallenen Körper
den bleichen Körper eines Mannes
zwischen den duftenden Blumen
einen Körper mit gebrochenem Herzen
den die Münzen klimpernd umkreisen
während die Blumen welken
wie der bleiche Mann
zwischen den rollenden Münzen
den unaufhörlich rollenden Münzen. [9]
Der dichterische Schaffensprozess bei Prévert
Wie stark die Dichtung Jacques Préverts im Alltag verwurzelt ist, zeigt sich auch an der Art und Weise ihrer Entstehung. So verfügte Prévert über eine große Sammlung von Zeitungsausschnitten, die er immer wieder zu dichterischen Werken verarbeitet hat oder in diese hat einfließen lassen [10]. Darüber hinaus gibt es mehrere Beispiele dafür, wie er Gedichte unmittelbar aus oder sogar parallel zu einer Unterhaltung entwickelt hat [11].
Seine zweite Frau, Janine Fernande Tricotet, mit der Prévert seit 1947 verheiratet war, hat diese gegenseitige Durchdringung von Dichtung und Leben einmal mit folgenden Worten beschrieben:
„Als wir uns kennengelernt haben, hatte ich anfangs oft Angst, ihn zu stören: Wir saßen im Café, und er hat plötzlich angefangen zu schreiben, während er sich gleichzeitig weiter mit mir unterhalten hat“ [12].
Auch hierin zeigt sich wieder die bewusste Nähe von Préverts Dichtung zu Alltag und Alltagssprache. André Pozner, der mit Prévert über Jahre hinweg etliche intensive Gespräche geführt und seine Arbeitsweise dabei hautnah miterlebt hat, hat den Dichter vor diesem Hintergrund als einen „bavard particulier“, einen „ganz besonderen Plauderer“, charakterisiert [13], bei dem jedes Bruchstück einer Konversation unvermittelt in Dichtung übergehen könne:
„Er plaudert, er plaudert, [aber] das ist eben nicht alles, was er zu tun versteht. Jacques Prévert schreibt auch, aber sein Schreiben bleibt eng mit der Plauderei verbunden“ [14].
Die Prozesshaftigkeit, die das Schreiben Préverts somit in besonderem Maße auszeichnet, war wohl auch ein Grund dafür, dass er sich lange gegen eine Herausgabe seiner Gedichte – die zunächst nur in Zeitschriften erschienen waren – in Buchform ausgesprochen hat. Erst 1946 sind sie in dem heute legendären Band Paroles („Worte“) zusammengefasst worden, auf den dann später elf weitere Gedichtbände (davon zwei posthum) gefolgt sind.
Der Titel dieses Buches macht dabei allerdings noch einmal deutlich, dass es Prévert nicht um eine Anknüpfung an die hochkulturelle Dichtkunst ging, sondern um eine Verwurzelung in der Alltagssprache. Indem er die mit dieser assoziierte Authentizität betonte, wollte er seine Leser zugleich für Prozesse der Normierung, der euphemistischen Entstellung und der sozialen Etikettierung sensibilisieren, wie sie mit Sprache verbunden sind. So hatte seine Dichtung stets auch einen emanzipatorischen Anspruch.
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English Version
Nachweise
[1] Äußerung von Prévert in einem Interviewband mit André Pozner: Prévert/Pozner: Hebdromadaires (1972), S. 62. Paris 1982: Gallimard.
[2] Ebd.
[3] Ebd., S. 102.
[4] Ebd., S. 151.
[5] „La langue vulgaire tire la langue à la langue distinguée“ (ebd.).
[6] Ein berühmtes Beispiel für dieses Stilmittel ist Préverts Gedicht Inventaire (Inventur). Es ist enthalten in Prévert, Jacques: Paroles (1946), S. 208 – 210. Paris 1949: Gallimard.
[7] Prévert in Hebdromadaires (s. 1), S. 153.
[8] Nach Prévert: Pour toi, mon amour; aus: Paroles (1946); Gedicht als Video mit Musik
[9] Nach Prévert: Chez la fleuriste; aus: Paroles (1946).
[10] Vgl. Hebdromadaires (s. 1), S. 28 und 102 ff.
[11] Vgl. ebd., S. 52 f., 104 f. und 131 f.
[12] Janine Fernande Tricotet in ebd., S. 108.
[13] André Pozner in ebd., S. 77.
[14] Pozner, ebd., S. 177 (vgl. auch S. 151).
Bild: Hans Makart (1840 – 1884): Faun und Nymphe (1865/66); Wikimedia commons