Minnesänger: Ideal und Wirklichkeit

Über das Gedicht Ich hân mîn lêhen (Ich habe mein Lehen) von Walther von der Vogelweide

In einem seiner Gedichte bejubelt Walther von der Vogelweide die grundlegende Veränderung seines Lebens durch ein ihm von Kaiser Friedrich II. gewährtes Lehen. Dies wirft ein Schlaglicht auf die Lebensverhältnisse mittelalterlicher Minnesänger.

Ich hân mîn lêhen

Ich hân mîn lêhen, al die werlt, ich hân mîn lêhen.
nû enfürhte ich niht den hornunc an die zêhen,
und wil alle boese hêren dester minre flêhen.
der edel künec, der milte künec hât mich berâten,
daz ich den sumer luft und in dem winter hitze hân.
mîn nâhgebûren dunke ich verre baz getân:
si sehent mich niht mêr an in butzen wîs als si wîlent tâten.
ich bin ze lange arm gewesen ân mînen danc.
ich was sô volle scheltens daz mîn âten stanc:
daz hât der künec gemachet reine, und dar zuo mînen san.

Neuhochdeutsche Nachdichtung:
Ich habe mein Lehen

Ich hab‘ mein Lehen, sagt es aller Welt, mein Lehen hab‘ ich!
Nun kann der Winter nicht mehr meine Zehen schänden,
nie wird mich mehr der Geiz der hohen Herren schrecken!
Der König, mildtätig und edel, hat für mich gesorgt,
hat Sommerfrische mir geschenkt und Winterwärme.
Mit Wohlgefallen blickt mich nun mein Nächster an,
anstatt wie früher mich als Schreckgespenst zu sehen.
Wie lange musste Not ich leiden ohne eig’ne Schuld,
sogar mein Atem roch nach meinem schlechten Ruf!
Nun hat der König mich geläutert, mich und meine Lieder.

Gesungene Fassung:

Joel Frederiksen mit dem Ensemble Phoenix Munich:

Idealbilder von Minnesängern

Wenn wir heute an die mittelalterlichen Minnesänger denken, haben wir meist ein bestimmtes Bild vor Augen, mit dem die betreffenden Dichter in den verschiedenen Liederhandschriften porträtiert worden sind.

Natürlich wissen wir, dass es sich bei diesen Bildern nicht um realistische Porträts handelt. Schließlich sind die Bilder in der Regel lange nach dem Tod der Sänger entstanden und haben rein illustrative Funktion. Und doch können wir nicht verhindern, dass unsere Vorstellung vom Leben der Minnesänger dadurch zumindest verzerrt wird.

Ein Beispiel dafür ist das bekannte Bild Walthers von der Vogelweide aus der Manessischen Liederhandschrift. Sie ist Anfang des 14. Jahrhunderts entstanden – der berühmte Minnesänger ist jedoch spätestens 1230 verstorben. Dementsprechend orientiert sich die Abbildung auch weniger an der konkreten Person als an Wirken und Nachruhm Walthers. Die Krone auf seinem Haupt rühmt ihn als eine Art „Dichterkönig“, und seine Körperhaltung spielt auf eines seiner berühmtesten Gedichte, die so genannte „Reichsklage“, an:

„Ich saz ûf eime steine,
und dahte bein mit beine;
dar ûf satzt ich den ellenbogen;
ich hete in mîne hant gesmogen
daz kinne und ein mîn wange.
dô dâhte ich mir vil ange,
wie man zer werlte solte leben (…)“


„Mit übereinandergeschlagenen Beinen,
einen Ellbogen aufs Knie gestützt,
das Kinn und meine Wange
in meine Hand geschmiegt –
so saß ich einst gedankenversunken
auf einem Felsen und fragte mich:

Lebensrealität von Minnesängern: Das Beispiel Walthers von der Vogelweide

Das Bild Walthers in der Manessischen Liederhandschrift lässt so die Vorstellung eines edelmütigen, hochgeehrten Philosophendichters entstehen. Hierzu trägt auch das zwar einfache, mit seinem samtigen Glanz aber zugleich kostbar wirkende Gewand bei, das der Dichter auf dem Bild trägt.

In dem Gedicht Ich hân mîn lêhen zeichnet der Dichter dagegen ein ganz anderes Bild seines Alltags. Zwar nutzt Walther für die Beschreibung seines Erscheinungsbilds und der Reaktion seiner Mitmenschen darauf auch das Mittel der dichterischen Übertreibung. Dennoch zeigt das Gedicht, dass Walther zu Lebzeiten eben keineswegs jene ungeteilte Anerkennung zuteilgeworden ist, von der sein Porträt in der Manessischen Liederhandschrift kündet.

Dies hat sich auch ganz konkret auf seine Lebensbedingungen ausgewirkt. Bezeichnenderweise ist eines der wenigen überlieferten Dokumente, in denen das konkrete Leben Walthers für uns fassbar wird, ein Auszug aus dem Ausgabenbuch des Passauer Bistums, wo ein Geldgeschenk für die Anschaffung eines Pelzmantels für den Minnesänger vermerkt ist.

Abhängigkeit von der Mildtätigkeit der Machthabenden

Die milde Gabe wirft ein Schlaglicht auf die Lebensrealität Walthers. Als dichtender Sänger von allenfalls niederem Adel verfügte er über keine eigenen Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts. So war er darauf angewiesen, sich in der Entourage der verschiedenen Machthaber mit seinen Liedern einen Platz zu erobern.

Konkret bedeutete dies: Er musste Loblieder auf das Wirken der Potentaten singen, die seinen Napf mit Essen füllten, ihm warme Kleidung und eine Unterkunft für den Winter verschafften. Wich er von dieser Linie ab, äußerte er auch nur leise Kritik an den edlen Spendern, so musste er sich einen anderen Hof suchen, um sich dort als Pausenclown und Festtagssänger seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Dass er selbst dann, wenn er einen solchen Unterschlupf gefunden hatte, nicht gerade auf Rosen gebettet war, deutet er unmissverständlich in seinem Gedicht an. Nicht nur war es demütigend, ständig auf die Gnade der hohen Herren angewiesen zu sein. Deren Mildtätigkeit konnte überdies auch nicht verhindern, dass andere seine niedere Herkunft an seinem Äußeren erkannten und er im Winter nicht unter den Glücklichen war, die näher an dem Wärme spendenden Kamin schlafen durften.

Ein Lehen als Tor in ein neues Leben

Dies alles erklärt die Euphorie, mit welcher Walther in seinem um 1220 entstandenen Gedicht die Freude über das von Kaiser Friedrich II. erhaltene Lehen in die Welt hinausruft.

Unabhängig davon, ob es sich bei dem Lehen um ein Stück Land, ein Amt oder eine Leibrente gehandelt hat, hat es Walther jene Sicherheit verschafft, die er zuvor so schmerzlich vermisst hat. Durch das Lehen hatte er nun eine andere Stellung in der Gesellschaft. Es steigerte sein Ansehen, bedeutete jedoch auch die Aussicht auf regelmäßigere Einkünfte und damit das Ende der erniedrigenden Bettelsängerei.

Sollte Walther das Gedicht jemals selbst gesungen haben, so ist davon auszugehen, dass er dafür einen leichteren, heiteren Ton angeschlagen hätte. Hätte es die höfische Etikette ihm gestattet, so hätte er vielleicht sogar auf die lauteren Blasinstrumente der Volksfeste (wie Schalmeien und Sackpfeifen) zurückgegriffen – denn diese wären weit eher dazu geeignet gewesen, seine freudige Erregung zum Ausdruck zu bringen.

Aber abgesehen davon, dass Laute und Harfe die eigene musikalische Begleitung des Gesangs weit eher ermöglichen, entsprachen solche Vorführungspraktiken nun einmal nicht den damaligen höfischen Gepflogenheiten. So wird Walther das Gedicht – wenn überhaupt – in der Tat wohl eher in dem getragenen Ton gesungen haben, in dem Joel Frederiksen es in einer Aufnahme mit dem Ensemble Phoenix Munich vorträgt (s.o.).

English Version

Podcasts

Bild: Bild Walthers von der Vogelweide in der Manessischen Liederhandschrift; zwischen 1305 und 1315 (Wikimedia commons)

Eine Antwort auf „Minnesänger: Ideal und Wirklichkeit

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