Sommerträume in der Winterhölle

Ein Winterlied von Walther von der Vogelweide

Der Winter kann auch heute noch recht ungemütlich für uns sein. In früheren Zeiten konnte er für die Menschen jedoch lebensbedrohlich sein. Hiervon zeugt auch ein Gedicht Walthers von der Vogelweide.

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[Winter]1

Hell leuchtete die Welt, gelb, rot und blau,
in grüne Gewänder waren der Wald
und seine Geschwister gekleidet,
die kleinen Vögel sangen ihre Lieder.
Doch nun schreit nur die Nebelkrähe.
Hat nicht auch die Farbe sich verändert?
Bleich ist die Welt geworden, bleich und grau,
und malt uns Sorgenfalten auf die Stirn.

Auf einem grünen Hügel thronte ich im Sommer,
Blumen sprossen da und frischer Klee
zwischen mir und einem See.
Das war so herrlich anzusehn!
Doch ach! Wo wir uns Blumenkränze banden,
ist alles nun von Schnee und Raureif überzogen,
den kleinen Vögelchen zum Leid.

Die Toren rufen: „Lass es schneien!“
Arme Leute aber: „O weh! O weh!“
So drückt auch mich eine bleierne Schwermut nieder,
die Winterwehmut lastet schwer auf mir.
Doch all die jammervollen Klagen
würden rasch von meinen Lippen weichen,
wenn es nur endlich wieder Sommer wär‘.

Um dem entbehrungsreichen Leben zu entgehen,
wollt‘ ich schon rohe Krebse essen.
Sommer, mach uns wieder froh!
Gib Wald und Wiesen ihren Schmuck zurück!
Dort spielt‘ ich mit den Blumen,
dort schwebte meine Seele in der Sonne –
nun hat der Winter sie ins Stroh gejagt.

Vom vielen Liegen bin ich wund wie Esau2,
ganz struppig ist mein glattes Haar geworden.
Süßer Sommer, wo bist du nur hin?
Wie gerne säh‘ ich bei der Feldarbeit dir zu!
Wenn diese Schwermut mich noch lang
in ihren Fängen hält, geh‘ ich am Ende noch
als Mönch ins Kloster Doberlug3.

Walther von der Vogelweide: [Winter] (mittelhochdeutsches Original)

Vertonung von Qntal (Lied umfasst die ersten drei Strophen) aus: Qntal V: Silver Swan (2006)

Erläuterungen:

  1. Die besondere Musikalität des Gedichts drückt sich u.a. darin aus, dass die Reime jeder Strophe im mittelhochdeutschen Original jeweils auf einen bestimmten Vokal enden. Eine analoge Übertragung ins Neuhochdeutsche droht allerdings die poetische Kraft des Textes zu schmälern. Die Nachdichtung konzentriert sich daher stärker auf die semantische Ebene.
  2. Esau: Esau bedeutet wörtlich“der Behaarte, der Struppige“. Laut Altem Testament war sein ganzer Leib „rötlich“ und wie ein einziger „härener Mantel“ – was gut zu der von Walther beschriebenen winterlichen Verwahrlosung passt (vgl. bibelkommentare.de).
  3. Doberlug: Gemeint ist das 1165 gegründete Zisterzienserkloster Dobraluh (Dobrilugk), heute Doberlug-Kirchhain (Brandenburg). Indem die Abgeschiedenheit der Klostermauern – das Gegenteil des idealen Lebens für einen lebensfrohen Minnesänger – hier als möglicher Zufluchtsort erscheint, wird die empfundene Trostlosigkeit zusätzlich betont.

Der Winter – einst und heute

Auch für heutige Menschen hält der Winter noch viele Unannehmlichkeiten bereit. Sraßenglätte, Grippewellen, fiese Winde, schweißtreibendes Schneeräumen, Lawinen, „Schneechaos“ – es gibt einiges, womit der Winter sich auch heute noch unbeliebt macht.

Insgesamt jedoch haben wir den Winter mittlerweile doch gezähmt. Er ist längst kein unberechenbares Raubtier mehr für uns. Auf Skipisten und Rodelbahnen spielen wir sogar mit ihm, und wenn er zu heftig faucht, ziehen wir uns eben in unsere warmen Stuben zurück. Eine existenzielle Bedrohung ist der Winter heute allenfalls an den Rändern der Zivilisation – oder für jene, die sich bewusst seiner Elementargewalt aussetzen, etwa auf Polarexpeditionen oder Bergtouren ins ewige Eis.

In früheren Zeiten war der Winter dagegen stets potenziell lebensbedrohlich. Hiervon vermittelt Walther von der Vogelweide mit seinem Wintergedicht einen sehr plastischen Eindruck. Die verschiedenen Aspekte der Gefahren, die der Winter früher für die Menschen bereithielt, schildert er in teils drastischen Bildern. Dies gilt etwa für die folgenden Aspekte des Lebens im Winter:

Unberechenbarkeit des Winters

Der Winter war früher unberechenbarer als heute. Während die Wettervorhersage uns in der Gegenwart wenigstens ein ungefähres Bild von Beginn und Ende einer Schneefront vermittelt, hatten die Menschen in früheren Zeiten keinerlei Vorstellung davon, wann die Schneefälle einsetzen, wie heftig sie ausfallen und wie lange sie andauern werden. So war auch die Sehnsucht nach der wärmeren Jahreszeit umso leidenschaftlicher.

Unzureichende Lebensmittelversorgung

Auch die Lebensmittelversorgung war im Winter früher deutlich schlechter als heute. Frisches Obst und Gemüse gab es nicht, die Möglichkeiten der Vorratshaltung waren begrenzt, Eingemachtes wegen der weniger effektiven Anbaumethoden schneller aufgebraucht.

So konnte man allenfalls Tiere schlachten. Dies zog jedoch, insbesondere im Falle von Milchvieh, ebenfalls schmerzliche Einbußen nach sich. Oft kamen daher nur minderwertige oder wenig schmackhafte Mahlzeiten wie Kohl- und Graupensuppe auf den Tisch – worauf das Gedicht durch den abschreckenden Gedanken des Essens von rohen Krebsen anspielt.

Schwierige Körperhygiene

Die Körperhygiene war im Winter ebenfalls wesentlich schwieriger zu organisieren als heute. Konnte man im Sommer einfach in einen See springen, so musste man im Winter umständlich Wasser aus dem Brunnen holen. Abgesehen davon, dass dieser bei großer Kälte zufrieren konnte, war das Wasser natürlich kalt und konnte bei begrenzten Brennholzvorräten auch nur eingeschränkt erwärmt werden.

Die Haare wurden so, wie es in dem Gedicht heißt, „struppig“, die Haut wund und rau wie bei Esau. Für bibelkundige Menschen war und ist auch dies ein sehr abschreckendes Beispiel: Von seinem Bruder Jakob hinterlistig um sein Erstgeburtsrecht und den Segen des Vaters gebracht, war Esaus Körper durch sein entbehrungsreiches Leben laut Altem Testament wundrot und fühlte sich an wie ein ewiges Büßerhemd.

Der Winter als Analogie zur Hölle

Die Anspielung auf Esau hebt die materielle Not, welche die Menschen früher im Winter leiden mussten, auch auf eine geistige Ebene. Der Winter war eine Art eisige Entsprechung des Höllenfeuers. Er war eine Analogie zur Vertreibung aus dem Paradies, von dem allein die warme Jahreszeit eine Ahnung vermitteln konnte.

Hierzu passt auch der Gedanke, lieber ins Kloster gehen zu wollen, als sich noch länger der winterlichen Kälte auszusetzen. Angedeutet ist darin der – wenn auch sicher nicht ernst gemeinte – Impuls, Gott in innerer Versenkung zu suchen, nachdem er sich aus der äußeren Welt zurückgezogen zu haben scheint.

Der Winter als Spiegel sozialer Ungleichheit

Dies alles macht verständlich, warum in dem Gedicht nur die „Toren“ dem Schnee mit Gleichgültigkeit begegnen. Dass sie den „armen Leuten“ gegenübergestellt werden, ließe sich vielleicht sogar als versteckte Gesellschaftskritik deuten. Denn als „Toren“ erscheinen bei diesem Gegensatzpaar ja offensichtlich die Wohlhabenden, die höhergestellten Adligen, die über ein ausreichendes Polster an Nahrungsmitteln, Heizmaterial und warmer Kleidung verfügten, um sich auch im Winter in ein warmes Nest zurückzuziehen.

Für einen Minnesänger wie Walther galt das nicht. Aus niederem Adel stammend, war er fast sein ganzes Leben lang darauf angewiesen, sich die Gunst höhergestellter Adliger zu sichern, um in deren Hofstaat aufgenommen zu werden. Ein Luxusleben konnte er dadurch allerdings nicht führen – was sich gerade im Winter schmerzhaft bemerkbar machte. Dass der Winter ihn ins „Stroh gejagt“ hat, wie es in dem Gedicht heißt, ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen – denn auf mehr als ein einfaches Strohlager durften weniger Privilegierte in der kalten Jahreszeit nicht hoffen.

Außerdem war es auch erniedrigend, für die Befriedigung existenzieller Bedürfnisse auf Gönner angewiesen zu sein. Ein Dichter wie Walther konnte diese vor allem dadurch für sich gewinnen, dass er ihnen mit seinen Liedern schmeichelte. Wie sehr er unter dieser Form von geistiger Prostitution litt, hat er in einem anderen Gedicht deutlich gemacht, das in der nächsten Woche im Mittelpunkt des Poetry Days stehen wird.

Bild: Caspar David Friedrich (1774 – 1840): Der Winter / Mönch im Schnee (1807/08); aus: Wolf, Georg Jacob / Glaspalast-Künstlerhilfe München (Hg.): Verlorene Meisterwerke Deutscher Romantiker, München 1931: Bruckmann.

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