Tschizh (Chizh) & Co: Krugom tajga
Musikalischer Adventskalender 2023: 11. Russland / Musical Advent Calendar 2023: 11. Russia
In einem Lied der russischen Band Tschizh & Co geht es um einen kurzen Moment der Freiheit, den ein Gefangener bei einem vorübergehenden Ausbruch aus einem Straflager erlebt. Das Lied lässt sich auch auf die gegenwärtige Situation in Russland beziehen.
Podcast
Ringsum Taiga
Vor lauter Saufen bin ich im Sägewerk
der Strafkolonie ganz stumpfsinnig geworden.
Beim Geflüster der Ketten habe ich mich nachts
mit starkem Tee betäubt.
Ich wollte aber nicht neben der Futterkrippe weiden
wie der letzte Schakal.
Also habe ich die Trassen ausgekundschaftet,
und eines Tages bin ich abgehauen.
Ringsum nichts als Taiga und Braunbären,
wild und angriffslustig –
es ist wieder Frühling.
Nur ein schwarzer Rabe
kreist träumend über mir
und schenkt mir einen Schluck Freiheit
wie ein gutes Glas Wein.
Überall nur Morast und Dickicht
und Sumpfbrombeeren …
So ist es oft im Leben:
Ein Unglück kommt selten allein.
Mir hat das Leben übel mitgespielt,
es hat mich in die weite Welt geworfen.
Nicht das Gefängnis hat mich gebrochen,
sondern der Kummer.
Ringsum nichts als Taiga …
Für mich gibt es keinen Weg zurück –
oder vielleicht doch?
Wie sieht es wohl in meinem alten Zuhause aus?
Wer wohnt gerade darin? – Rauskommen!
Da plötzlich, hinter mir,
das Gebell der Wachhunde.
„Schön, Sie zu sehen, Herr Aufseher,
schade, dass wir uns nicht
unter anderen Umständen begegnen! „
Ringsum nichts als Taiga …
Чиж & Co (Tschizh/Chizh & Co: Кругом тайга (Krugom tajga)
Live-Aufnahme (1994):
Video mit illustrierenden Bildern
wie der letzte Schakal: Als Aasfresser ernährt sich der Schakal von den Resten der von anderen gerissenen Beutetiere. Demnach könnte man die Zeile dahingehend verstehen, dass der Gefangene sich nicht mit den kümmerlichen Resten des Lebens begnügen möchte, die ihm nach dem Ende seiner Lagerhaft oder während seiner Haftzeit bleiben. Eben deshalb versucht er auch die Realität des Lagerlebens auszublenden, indem er sich tagsüber mit Alkohol betäubt und sich nachts mit starkem Tee gegen den komatösen Tiefschlaf nach der schweren Zwangsarbeit wehrt.
Ein Freiheitsrausch als Gegengift gegen die Lagermelancholie
In dem Song Krugom tajga (Ringsum Taiga) der Band Tschizh & Co geht es um den Ausbruch eines Gefangenen aus einem Arbeitslager. Der Ausbrecher findet sich allerdings in der Wildnis der Freiheit nicht mehr zurecht und wird am Ende wieder eingefangen. Er nippt gleichsam nur an der Freiheit, von der er – wie es in dem Lied heißt – nur einen kleinen „Schluck“ erhaschen kann.
Den kurzen Moment, in dem er die Freiheit erleben darf, genießt er allerdings wie einen erlesenen Wein. Auch wenn er nicht dauerhaft in Freiheit leben kann, wird der kurze Freiheitsrausch damit als Utopie in ihm lebendig bleiben und ihm vielleicht die Kraft geben, die verbleibende Lagerhaft zu überstehen.
Freiheit in einem Gefängnisstaat
Außer auf die konkrete Situation eines Gefangenen lässt sich das Lied auch auf die Lebensbedingungen von Menschen in einem totalitären Staat beziehen. Dies gilt auch und gerade für das gegenwärtige Russland.
Spätestens seit Beginn des großflächigen Angriffs auf die Ukraine sind in Russland die letzten bürgerlichen Freiheitsrechte beerdigt worden. Freie Medien, eine unabhängige Justiz, freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit – all das gibt es in der putinschen Diktatur nicht mehr. So ist Freiheit – wie in dem Song der Band Tschizh & Co – nur noch als kurzes Atemholen, als eine vorübergehende Unterbrechung des Alltags in dem allumfassenden Gefängnis, in das sich der Staat verwandelt hat, möglich.
Dies ist dann etwa die Freiheit eines Waldspaziergangs, die Freiheit eines geselligen Abends im engsten, absolut vertrauenswürdigen Freundeskreis oder die Freiheit einer Bootsfahrt auf einem der sehnsuchtsweiten russischen Flüsse.
Die Problematik einer entpolitisierten Freiheit
Eine solche Art von Freiheit lässt sich in Russland auch heute noch finden. Das Problem ist allerdings, dass „Freiheit“ dabei grundsätzlich unpolitisch buchstabiert wird. Damit steht sie auch stets in der Gefahr, ein egoistisches Element zu enthalten.
Sergej Tschigrakow, Leader und Namensgeber der Band Tschizh & Co – der von seinem Familiennamen abgeleitete Bandname bezeichnet im Russischen eine Zeisigart –, ist dafür das beste Beispiel. In einem Interview aus dem Sommer 2014 auf die damaligen Ereignisse in der Ukraine angesprochen, betonte er, sich „aus der Politik heraushalten“ zu wollen. Im Übrigen bereite ihm der bevorstehende Schuleintritt seines Sohnes mehr Sorgen als „die Probleme der Ukraine“.
Bezogen auf den aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine, bedeutet dies, dass die Negierung der Freiheitsrechte eines anderen Volkes und die im Namen des eigenen Volkes im Nachbarland begangenen Verbrechen ausgeblendet werden, um sich sein eigenes kleines Freiheitsinselchen zu bewahren.
Diese Haltung scheint in Russland gegenwärtig leider recht verbreitet zu sein. Eine Garantie auf den Erhalt des privaten Glücks bietet sie allerdings nicht. Derzeit können in Russland – wie einst im Stalinismus – alle aufgrund einer unbedachten Äußerung oder einer heimtückischen Denunziation in einem Straflager landen.
Zitat entnommen aus:
Malinina, Jekaterina: Sergej Tschigrakow, Bandleader von Tschizh: „Ich mache mir mehr Sorgen um den Schuleintritt meines Sohnes als um die Ukraine.“ Volgograd.kp.ru, 28. Juli 2014. [übersetzt aus dem Russischen]

English Version
A Sip of Freedom
Chizh & Co: Krugom Taiga
A song by the Russian band Chizh & Co revolves around a brief moment of freedom experienced by a prisoner during a temporary escape from a penal camp. The song can also be related to the current situation in Russia.
Taiga All Around
From all the boozing in the sawmill
of the penal colony I became quite dull.
At night, to the whisper of the chains,
I drugged myself with strong tea.
But I didn’t want to graze
next to the feeding trough
like the last jackal.
So I scouted the tracks,
and one day I ran away.
All around nothing but taiga
and brown bears,
wild and aggressive –
spring has burst forth again.
Only a black raven
circles dreamily above me
and gifts me with a sip of freedom
as if with a good glass of wine.
Everywhere nothing but mire and thicket
and brambles …
That’s how it often is in life:
When it rains, it pours.
Life has treated me badly,
it hurled me into the wide world.
It wasn’t prison that broke me,
but sorrow.
All around nothing but taiga …
For me there’s no way back –
or maybe there is?
I wonder what my old home looks like …
Who’s living there right now? – Get out!
All of a sudden, behind me,
the barking of the guard dogs.
„Nice to see you, Mr. Warden,
what a pity we don’t meet
under different circumstances.“
All around nothing but taiga …
Чиж & Co (Chizh & Co: Кругом тайга (Krugom taiga)
Live performance (1994)
Video with illustrative images
like the last jackal: As a scavenger, the jackal feeds on the remains of prey animals killed by others. Accordingly, the phrase could be understood in the sense that the prisoner does not want to to resign himself to the meagre leftovers of life that remain after the end of his imprisonment or during his time in prison. This is precisely why he tries to block out the reality of camp life by numbing himself with alcohol during the day and using strong tea at night to fight off the comatose deep sleep after the hard forced labour.
A Frenzy of Freedom as an Antidote to Camp Melancholy
The song Krugom taiga (Taiga All Around) by the band Chizh & Co is about the escape of a prisoner from a labour camp. Unfortunately, though, the escapee can no longer find his way in the wilderness of freedom and is soon recaptured. So he just takes – as the song says – a little „sip“ of freedom.
However, he enjoys the short moment in which he can experience freedom like an exquisite wine. Even if he cannot live permanently in freedom, the brief frenzy of freedom will thus remain alive in him as a utopia and perhaps give him the strength to survive the remaining time in the penal camp.
Freedom in a Prison State
Apart from the concrete situation of a prisoner, the song can also be related to the living conditions of people in a totalitarian state. This is also and especially true for present-day Russia.
At the latest since the beginning of the large-scale invasion of Ukraine, the last civil liberties have been buried in Russia. Free media, an independent judiciary, freedom of expression, freedom of assembly – all these rights no longer exist in Putin’s dictatorship. Thus freedom – as in the song by the band Chizh & Co – is only possible as a brief respite, a temporary interruption of everyday life in the all-encompassing prison that the state has turned into.
This might be, for example, the freedom of a walk in the woods, the freedom of a convivial evening in the closest, absolutely trustworthy circle of friends or the freedom of a boat trip on one of the wide, yearning Russian rivers.
The Problem of a Depoliticised Freedom
Such a kind of freedom can still be found in Russia today. The problem, however, is that „freedom“ is spelled in a fundamentally apolitical way here. This also means that it is always in danger of including a selfish element.
Sergei Chigrakov, leader and eponym of the band Chizh & Co – the band name derived from his family name denotes a type of siskin in Russian – is the best example of this. In an interview in the summer of 2014, when asked about the events in Ukraine at the time, he emphasised that he would prefer to „stay out of politics“. In fact, he would be more concerned about his son’s imminent school entry than about „the problems of Ukraine“.
With regard to Russia’s current war against Ukraine, this means that the negation of the freedom rights of another people and the crimes committed in the name of one’s own people in the neighbouring country are ignored in order to preserve one’s own little island of freedom.
Unfortunately, this attitude seems to be fairly widespread in Russia at present. However, ths approach does not offer any guarantee of preserving one’s private happiness. In today’s Russia – as once under Stalinism – anyone can end up in a penal camp for a careless utterance or as a result of an insidious denunciation.
Quotation taken from:
Malinina, Ekaterina: Sergei Chigrakov, bandleader of Chizh: „I am more concerned about my son’s imminent school entry than about Ukraine.“ Volgograd.kp.ru, Juli 28, 2014. [translated from Russian]
Bilder / Images: Apollinari Wasnezow (1856 – 1933): Taiga und blauer Berg im Ural (1891)/Taiga and blue mountain in the Urals (1891) ; Moskau, Tretjakow-Galerie Wikimedia commons; Mark Kotsarev: Sergej Tschigrakow, Bandleader von Tschizh & Co / Sergei Chigrakov, bandleader of Chizh & Co (2006); Wikimedia commons