Zacharias Mbizo: Glücklose Heimkehr / Luckless Homecoming
Nach der Vorstellung des Experiments durch Dr. France steht Achmet vor der Wahl: Soll er sich als Proband zur Verfügung stellen oder nicht? Er trifft eine Entscheidung, die sein Leben in zwei Hälften zerschneiden wird.
Hörfassung:
Selbst hier, auf diesem Friedhof, in einer völlig anderen Umgebung, auf einer Zeitebene jenseits aller Zeit, fühlte ich mich noch von der dunklen Anziehungskraft bedroht, die seinerzeit von Dr. France ausgegangen war. Für einen Augenblick schloss ich die Augen, um dem Sog seines Blicks zu entgehen – aber dadurch spürte ich diesen nur noch stärker als zuvor. Also gab ich auf und stellte mich wieder den düsteren Erinnerungen, die mich bedrängten.
Ein wenig war es wohl auch die Scham vor mir selbst, die mich davon abhielt, in die Vergangenheit einzutauchen. Schließlich erinnerte ich mich genau, dass ich damals am liebsten einfach kommentarlos gegangen wäre. Was hatte mich nur davon abgehalten, die Teilnahme an dem obskuren Experiment rundheraus abzulehnen? Wahrscheinlich eine Mischung aus anerzogener Höflichkeit und der Furcht vor diesem koboldhaften Wesen, dessen Verhalten mir unberechenbar erschien.
Stattdessen glaubte ich, Dr. France mit einem Einwand begegnen zu können, der mir plötzlich in den Sinn kam. Ich war fest davon überzeugt, damit die Grundannahmen, auf denen das ganze Forschungsprojekt fußte, erschüttern zu können.
Ich richtete mich in meinem Stuhl auf und gab mit fester Stimme zu bedenken: „Wenn die biochemischen Veränderungen, die durch das Präparat ausgelöst werden sollen, wirklich jeden zum Alpha-Tier in seiner Gruppe prädestinieren – wäre dann das zwischenmenschliche Zusammenleben nicht zum Scheitern verurteilt, sobald alle das Mittel einnehmen? Eine Gesellschaft von Alpha-Tieren müsste doch entweder in einem permanenten Kriegszustand versinken, oder es gäbe doch wieder einige, die dominanter als andere auftreten und sich gegen ihre Mitmenschen durchsetzen.“
Es gelang mir jedoch nicht, meinen Gesprächspartner mit diesem Argument aus der Fassung zu bringen. Er lehnte weiter voller Selbstgewissheit in seinem Stuhl und lächelte mich überlegen an.
„Aber mein lieber Herr Achmedi“, belehrte er mich, „ich habe doch keineswegs behauptet, dass jeder mit dem von mir entwickelten Präparat zu einem Alpha-Tier wird. Das Mittel führt lediglich dazu, dass man an sich glaubt und die eigenen Fähigkeiten in seiner Gruppe zur Geltung bringen kann. Das muss nicht unbedingt mit Dominanz über andere einhergehen. Außerdem ist es durchaus denkbar, dass einige Menschen besser als andere auf das Präparat ansprechen. Das ist sicher auch eine Frage der Interaktion des Stoffes mit der genetischen Disposition der Betreffenden.“
Dem wusste ich nichts entgegenzusetzen. Es war naiv von mir gewesen, anzunehmen, dass der große Experimentator die Konsequenzen der Verbreitung seines Präparats nicht durchdacht hätte. Weitere Finten, mit denen ich mich vor einer Entscheidung über meine Teilnahme an dem Projekt hätte drücken können, fielen mir aber auf die Schnelle nicht ein. Betreten schaute ich auf meine Füße und knetete meine Finger.
Großmütig half Dr. France mir aus meiner Verlegenheit. „Sie müssen sich übrigens keineswegs unter Druck gesetzt fühlen“, beruhigte er mich. „Selbstverständlich bekommen Sie ausreichend Zeit für Ihre Entscheidung! Mangelnde Überzeugung von dem Projekt könnte schließlich auch die Aufnahme des Mittels durch Ihren Organismus erschweren. Ich gebe Ihnen jetzt einfach mal unseren Standardvertrag für Versuchspersonen – den können Sie sich dort hinten in meinem Sinniersessel in aller Ruhe durchlesen. Und scheuen Sie sich nicht, nachzufragen, wenn Sie etwas nicht verstehen! – Warten Sie … Wo habe ich denn gleich … Ah, da ist es ja!“
Er zog aus dem Papierberg auf seinem Schreibtisch eine Mappe heraus, die er mir mit einem aufmunternden Augenaufschlag überreichte. Sie war so dick, dass ich zunächst dachte, sie enthielte noch andere Unterlagen – Werbeprospekte etwa, zusätzliche Informationen über das Unternehmen oder Forschungsberichte.
Zu meinem Verdruss musste ich jedoch feststellen, dass die Mappe aus einem 20-seitigen Vertragswerk bestand, das dazu noch in kleiner Schrift und in einer für mich unverständlichen Fachsprache abgefasst war. Erschwerend kam hinzu, dass ich in der Nacht davor kaum geschlafen hatte. Gesa und ich hatten uns gegenseitig um den Schlaf gebracht: Immer wenn der eine gerade am Einschlafen war, hatte der andere sich unruhig hin und her geworfen.
So kam ich über die erste Seite des Vertragsepos nicht hinaus. Die Zeilen verschwammen vor meinen Augen, meine Lider wurden immer schwerer – und am Ende bin ich wohl tatsächlich in einer Art Halbschlaf versunken. Daran war auch der so genannte „Sinniersessel“ schuld, bei dem es sich um einen dieser modernen Liegestühle mit Wippfunktion handelte. Wie in einer Wiege schaukelte er mich in den Schlaf.
Mir war, als würde der Forscherkobold, der unablässig in seinen Papieren blätterte, wobei er immer wieder aufsprang und sich etwas aus dem Regal holte, sich plötzlich auf geheimnisvolle Weise vervielfältigen. Aha, dachte ich, noch so eine bahnbrechende Entdeckung, Spontanklonung, sehr nützlich!
Im selben Augenblick sah ich mich jedoch von einer ganzen Horde affenähnlicher Trolle umringt. Sie stießen spitze Schreie aus und vollführten seltsame Bocksprünge, mit denen sie mir mal bedrohlich nahe kamen und mich mal in einiger Entfernung umtanzten, ohne mich allerdings je aus ihrer Mitte zu entlassen. Schlagartig erkannte ich: Ich war so etwas wie ein Opfertier für sie! Ihr Tanz war eine Art Ritus, mit dem sie sich meine Lebenskraft anverwandeln wollten.
Instinktiv wich ich zurück, ich glitt zur Seite – und wäre beinahe vom Sessel gefallen. Ich schüttelte mich, riss ruckartig die Augen auf – und blickte geradewegs in das Gesicht von Dr. France, der mich mit einem sezierenden Blick beobachtete.
„Nun?“ fragte er, als hätte er meinen kleinen Schwächeanfall gar nicht bemerkt. „Gibt es noch offene Fragen?“
Ob es noch Fragen gab? Aber ja, natürlich gab es noch Fragen! Es gab sogar nichts anderes als Fragen – oder hatte ich etwa schon irgendeine Antwort erhalten, die diese Bezeichnung verdient hätte? Ich war nahe daran, meinem Ärger Luft zu machen!
Aber wieder gelang es dem erfahrenen Kommunikator, den in mir aufsteigenden Unmut im Keim zu ersticken: „Natürlich brauchen Sie jetzt nicht gleich den ganzen Vertrag durchzuarbeiten“, beruhigte er mich. „Vieles von dem, was da drin steht, mussten wir aus rein formalen Gründen in den Text aufnehmen. Sie wissen ja, wie das ist: Gesetzesvorschriften, Datenschutzbestimmungen, Sonderfälle – die Juristen sichern sich eben immer nach allen Seiten ab. Wirklich wichtig sind im Grunde nur die erste und die letzte Seite.“
Derart ermutigt, nahm ich den Vertrag noch einmal zur Hand. Auf Seite 1 las ich: „Die unterzeichnende Person erklärt hiermit ihre Bereitschaft zur Teilnahme an einem Experiment des Unternehmens Visions for Humanity (nachfolgend ‚VH‘ genannt). Sie versichert, über Details und Aufbau des Experiments hinreichend aufgeklärt worden zu sein. Des Weiteren stimmt die Versuchsperson für die Dauer des Experiments der Implantation eines Chips in ihr Gehirn zu, mit dem die Auswirkungen des verabreichten Präparats kontrolliert werden können. Nach ihrem Tod übereignet die Versuchsperson ihren Körper dem Auftraggeber, damit dieser ihn auf biochemische Veränderungen untersuchen kann.“
Gerade der letzte Satz hatte etwas Beunruhigendes für mich. Dunkle Erinnerungen an Verträge, die mit dem eigenen Blut besiegelt werden, stiegen in mir auf. Einmal mehr verspürte ich den starken Impuls, alles stehen und liegen zu lassen und mich aus dem Staub zu machen.
Dann aber fiel mein Blick auf die letzte Seite: „VH sichert der unterzeichnenden Person eine ihren Fähigkeiten entsprechende gesellschaftliche Position und eine ihre Leistungen vollumfänglich berücksichtigende Entlohnung zu. Für den Fall, dass VH dieser Verpflichtung nicht nachkommt, wird der Versuchsperson ein außerordentliches Kündigungsrecht zugebilligt. Unabhängig davon hat die unterzeichnende Person das uneingeschränkte Recht, innerhalb von zwei Wochen, gerechnet vom Tag des Inkrafttretens der Vereinbarung an, von dem Vertrag zurückzutreten. In diesem Zeitraum von VH bezogene Leistungen sind dann zurückzuerstatten.“
Diese Zeilen schienen mir einen Ausweg aus meiner bedrängten Lage aufzuzeigen. Denn wenn, so sagte ich mir, das Unternehmen seine unrealistischen Versprechungen nicht einhalten sollte, könnte ich meine Zustimmung zu dem Experiment ja jederzeit widerrufen. Und falls ich daheim, ohne diesen bohrenden, lauernden Blick auf mich gerichtet zu fühlen, meine Einwilligung bereuen sollte, würde ich sie eben notfalls noch am selben Tag zurückziehen.
Fürs Erste schien es mir aber das Beste zu sein, den Vertrag zu unterschreiben. So würde ich ohne lästige Diskussionen diesen Ort verlassen können, an dem ich die ganze Zeit über das Gefühl hatte, unkontrollierbaren Einflüssen ausgesetzt zu sein.
Sobald ich jedoch meine Unterschrift unter das Dokument gesetzt hatte, war es, als hätte ich die Tür zu meinem bisherigen Leben zugeschlagen.

Gebundene Ausgabe 2015

English Version
A Fateful Signature

Upon Dr. France’s introduction of the experiment, Ahmet has to make a choice: Should he participate in the project as a test subject or not? He takes a decision that will cut his life in two.
Even here, in this cemetery, in a completely different environment, in a time dimension beyond all time, I still felt threatened by the obscure attraction that had emanated from Dr. France back then. For a moment I closed my eyes to escape the pull of his gaze – but this only made me feel it more strongly. So I surrendered and faced up again to the dark memories that beset me.
To some extent, it was probably also shame of myself that prevented me from diving into the past. After all, I clearly remembered my impulse to just leave the premises of this strange company without comment. What on earth had kept me from outright refusing to participate in the bizarre experiment? Probably a mixture of decency and fear of this goblin-like being whose behaviour seemed unpredictable to me.
Instead, I thought I could confront Dr. France with an objection that suddenly occurred to me. I was firmly convinced that it would shake the basic assumptions on which the whole research project was based.
I straightened up in my chair and said in a firm voice: „If the biochemical changes that are supposed to be triggered by the compound really predestine everyone to be the alpha animal in their group – wouldn’t human coexistence be doomed to failure as soon as everyone takes the drug? A society of alpha animals would either sink into a permanent state of war, or there would again be some who appear more dominant than others and assert themselves against their fellow human beings.“
I did not succeed in fazing my interlocutor with this argument, though. He continued to lean in his chair full of self-assurance and smiled at me superiorly.
„But my dear Mr Ahmedi,“ he objected, „I have by no means claimed that everyone becomes an alpha animal with the compound I have developed. The drug merely makes you believe in yourself and helps you to bring out your own abilities in your group. This does not necessarily have to involve dominance over others. Moreover, it is quite conceivable that some people respond better to the substance than others. This certainly also depends on the interaction of the substance with the genetic disposition of the people concerned.“
I had no idea how to counter this. It had been naïve to assume that the great experimenter had not considered the consequences associated with the dissemination of his compound. However, I couldn’t think of any other tricks to avoid making a decision about my participation in the project. Embarrassed, I looked down at my feet and kneaded my fingers.
Magnanimously, Dr. France helped me out of my confusion. „You don’t have to feel pressured at all, by the way,“ he reassured me. „Of course you will be given enough time to make your decision! Lack of conviction about the project could, after all, also make it difficult for your organism to absorb the substance. I’ll just give you our standard contract for test subjects – you can read it at your leisure back there in my musing chair. And feel free to ask questions if something is not clear to you! – Wait a minute … Where did I … Ah, there it is!“
He pulled out a folder from the pile of papers on his desk and handed it to me with an encouraging smile. It was so thick that I assumed it contained some other documents besides the contract – advertising brochures, for example, additional information about the company or research reports.
To my chagrin, however, I discovered that the folder consisted of a 20-page contract, written in small print and in a technical language that was difficult for me to understand. To make matters worse, I had hardly slept the night before. Gesa and I had mutually kept each other awake: Whenever one was about to fall asleep, the other had tossed and turned restlessly.
So I didn’t get beyond the first page of the contract epic. The lines blurred before my eyes, my eyelids became heavier and heavier – and in the end I must have actually sunk into a kind of half-sleep. This was also due to the so-called „musing chair“, which was one of those modern recliners with a rocking function. It lulled me to sleep as if I were in a cradle.
I felt as if the explorer goblin, who was incessantly leafing through his papers, repeatedly jumping up and taking something from the shelf, was suddenly multiplying in a mysterious way. I see, I thought, another groundbreaking discovery, spontaneous cloning, very useful!
At the same moment, however, I saw myself surrounded by a whole horde of ape-like trolls. They let out sharp cries and performed strange leaps, sometimes coming threateningly close to me and sometimes dancing around me at a distance, but without ever letting me out of their midst. All of a sudden I realised that I was something like a sacrificial animal for them! Their dance was a kind of ritual, with which they wanted to appropriate my life force.
Instinctively I backed away, I slid to the side – and almost fell off the chair. I shook myself, jerked my eyes open – and looked straight into the face of Dr. France, who was watching me with a dissecting gaze.
„Well?“ he asked, as if he hadn’t noticed my little fit of weakness. „Are there any questions left unanswered?“
Whether there were any questions left? Yes, of course there still were! In fact, there was nothing but questions – or had I already received any answer worthy of the name? I was close to venting my anger!
But again, the experienced communicator managed to nip the resentment rising in me in the bud: „Of course, you don’t have to go through the whole contract right now,“ he reassured me. „A lot of what is written there we had to include in the text for purely technical reasons. You know how it is: legal regulations, data protection provisions, exceptional cases – the lawyers always try to cover all eventualities. Basically, only the first page and the last one are really important.“
Encouraged, I picked up the contract again. On page 1 I read: „The undersigned hereby declares the willingness to participate in an experiment of the company Visions for Humanity (hereinafter referred to as ‚VH‘). The person concerned affirms to have been sufficiently informed about the design and the details of the experiment. Furthermore, the subject agrees to have a brain chip implanted for the duration of the experiment to monitor the effects of the administered substance. After death, the test subject’s body is handed over to the contract partner so that it can be examined for biochemical changes.“
Especially the last sentence had something disturbing about it. Dark memories of contracts sealed with blood rose up in me. Once again I felt a strong impulse to drop everything and make a run for it.
But then my eyes fell on the last page: „VH assures the undersigned a position in society corresponding to the abilities of the test subject, including appropriate remuneration. In the event that VH fails to fulfil this obligation, the subject is granted an extraordinary right of termination. Irrespective of this, the undersigned person has the unrestricted right to withdraw from the agreement within two weeks of signing the contract. Any services received from VH during this period shall then be refunded.“
These lines seemed to offer me a way out of my distressed situation. If, I said to myself, the company did not keep its unrealistic promises, I could revoke my consent to the experiment at any time. And if at home, without feeling that piercing, lurking gaze directed at me, I should regret my consent, I would simply withdraw it the same day if necessary.
For the moment, however, I found it best to sign the contract. That way I would be able to leave this place without any annoying discussions, I thought.
But as soon as I had put my signature under the document, it was as if I had slammed the door on my previous life.
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