Die Feier des Lebens / The Celebration of Life

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Theo, Schorsch, Yvonne und Lina sitzen beisammen und lassen die vergangenen Ereignisse Revue passieren. Schorsch erzählt, wie es ihm gelungen ist, in der Kegelstadt an den Schattenknipser zu gelangen.

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Montag, 16. Oktober

Was für ein herrlicher Abend das gestern war! Lina hatte mich, Yvonne und Schorsch zu sich eingeladen, um den glücklichen Ausgang unserer Abenteuer zu feiern. Endlich konnten wir wieder unbeschwert beieinandersitzen! Endlich war diese ständige Unruhe von uns abgefallen, dieses permanente Gefühl, sich in ein dunkles Moor verirrt zu haben, das einen bei jedem unbedachten Schritt wie mit Krakenarmen in die Tiefe ziehen könnte.
Ein besonderes Fest für mich: das Essen! Es gab Rotwein und Lasagne, dazu frischen Salat. Nach dem Säuglingsbrei in der Kegelstadt und der unfreiwilligen Diät, der ich zuletzt in dem mittelalterlichen Verlies ausgesetzt war, empfand ich das als die reinste Götterspeise.
Hauptthema des Abends war natürlich, wie es Schorsch gelungen war, den Präsidenten um seinen Schatten zu bringen. Der Schlüssel seines Erfolgs war schnell benannt: Er hatte den Aufsehern in der Kegelstadt eines dieser kompassänlichen Geräte abgenommen, mit denen den Menschen dort als Strafe für ungehorsames Verhalten der Schatten abgeschnitten wird.
Schorsch wäre aber nicht Schorsch, wenn er auf die Frage, wie genau er sich in den Besitz des Schattenknipsers gebracht hatte, nicht mehrere Antwortvarianten parat gehabt hätte. Er liebt es eben, den faden Strom der Ereignisse mit bunten Geschichten auszuschmücken.
Eine kurze Frage genügte, um Schorsch alles noch einmal von vorn erzählen zu lassen – so beispielsweise, als Yvonne von ihm wissen wollte, wie er sich überhaupt mit den Menschen der Zukunft habe verständigen können.
Schorsch tat erstaunt: „Wusstest du nicht, dass ich früher einmal als Pantomime aufgetreten bin?“
Nach einer kurzen Pause, während der er sich an unserem Erstaunen weidete, fügte er hinzu: „Das kam mir natürlich in der Situation ungemein zugute. Ihr glaubt gar nicht, wie viel man ohne Worte sagen kann! Und zusätzlich hatte ich ja noch die Möglichkeit, meine Gesten durch eine konkrete Demonstration zu untermauern: Ich habe einfach einen von denen meine Notfalltropfen ausprobieren lassen, und schwups war ihnen klar, was sie an mir hatten!“
Yvonne lächelte nachsichtig: „Aber die Tropfen wirken doch gar nicht so schnell!“
„Deshalb habe ich die Demonstration ja auch durch eine entsprechende Mimik unterstützt“, behauptete Schorsch keck. „Außerdem darfst du den psychosomatischen Effekt nicht unterschätzen: Wenn du überzeugt bist, dass dir etwas hilft, geht es dir schon allein dadurch besser.“
Ich fühlte mich bemüßigt, Schorsch zu unterstützen – schließlich hatten wir das Abenteuer teilweise gemeinsam durchgestanden. „Ihr müsst auch bedenken, dass es in der Kegelstadt wahrscheinlich überhaupt keine Medikamente mehr gegen solche Krankheitserreger gab … beziehungsweise geben wird. Die entsprechenden Krankheiten hält man dort doch für längst besiegt. Deshalb kann es durchaus sein, dass die Tropfen viel schneller gewirkt haben als bei uns – schon allein wegen der fehlenden Gewöhnungs- oder gar Immunisierungseffekte.“
Schorsch griff die Vorlage dankbar auf. „Eben! Und dann hatten die Leute ja auch nichts zu verlieren. Entweder mein Medikament oder die Todesspritze – so lautete die Alternative für sie.“
Er nippte an seinem Wein, den er wegen seines Magenleidens reichlich mit Wasser vermischt hatte, dann fuhr er fort: „Wie auch immer, jedenfalls ist es mir gelungen, einem dieser Sanitätersoldaten den Deal klarzumachen, der mir vorschwebte: Ihr bekommt die Tropfen, ich einen von diesen Schattenkompassen, mit denen man anderen so schön problemlos den Schatten abknipsen kann.“
„Und das hat funktioniert?“ fragte Lina ungläubig.
„Wo denkst du hin?“ entgegnete Schorsch schlagfertig. „Natürlich nicht! Sobald der Typ, mit dem ich verhandelt hatte, seinen Kollegen von meinem Vorschlag berichtet hatte, wollten die sich mit ihren Spritzen auf mich stürzen. Wahrscheinlich hätten sie mich auf der Stelle totgespritzt, wenn ich nicht geistesgegenwärtig reagiert hätte.“
„Und wie hast du sie dir vom Hals gehalten? – Nun sag schon“, drängte ihn Yvonne.
Schorsch stopfte sich genüsslich einen Happen der riesigen Lasagne-Portion in den Mund, die er sich auf den Teller gehäuft hatte. Dabei überlegte er sich offenbar in aller Ruhe, was er weiter getan haben müsste, wenn sich alles so zugetragen hätte, wie er es gerade erzählte.
„Ganz einfach“, erklärte er dann, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. „Ich habe denen zu verstehen gegeben, dass ich die Flasche zu Boden fallen lassen würde, wenn sie mir zu nahe kommen sollten. Und dann habe ich ihnen noch mit meinen Pantomimekünsten“ – er streckte die Zunge heraus und verdrehte die Augen – „klargemacht, dass sie in diesem Fall alle auf qualvolle Weise verenden würden, weil das ein ganz heimtückischer Erreger sei. Nur meine Tropfen könnten ihnen dagegen helfen!“
„Stimmt das denn auch? Ich dachte immer, die Tropfen bekämpfen nur die Symptome“, wandte Lina ein.
„Damit stärken sie aber auch den Organismus!“ beharrte Schorsch unbeirrt. Allerdings schien er das Thema auch nicht weiter vertiefen zu wollen: „Na, jedenfalls hat das Ganze funktioniert. Ich habe den Schattenknipser gegen die Notfalltropfen eingetauscht, und dann musste ich mich nur noch mit der Notfalluhr in die Jetzt-Zeit zurückbeamen.“
Bis jetzt weiß keiner von uns, was Schorsch wirklich gemacht hat, um an den Schattenknipser heranzukommen. Wahrscheinlich hat er einfach einen günstigen Moment abgepasst und ihn dann einem der Sanitätersoldaten aus der Hand gerissen. Aber das erzählt sich natürlich nicht so gut wie die Variante, die er uns zu unserer kleinen Party serviert hat. Entscheidend ist, dass es ihm überhaupt gelungen ist, das Gerät an sich zu bringen. Und geistesgegenwärtig gehandelt hat er so oder so!
Bei der Fortsetzung der Erzählung hatte Schorsch nun allerdings nicht mehr so viel Spielraum wie bei ihrem Anfang. Denn hier hatten wir ja das meiste miterlebt. Einzig die Szene auf der Toilette konnte er nach Belieben ausschmücken. Entsprechend lebendig fiel dieser Teil seiner Geschichte aus.
Er blickte noch einmal in die Runde, dann ging er zur Beschreibung des Geschehens in der Jetzt-Zeit über: „Plötzlich befand ich mich also wieder in diesem Bunker, in genau derselben Position, in der ich ihn verlassen hatte: Der Security-Wachhund tritt die Tür ein, ich stehe vor der Kloschüssel und versuche mit der Fernbedienung die Bilder auf den Monitoren einzufrieren. Bruchteile von Sekunden später hätte ich die Notfalluhr betätigen müssen. Aber ich war ja jetzt auf die Situation vorbereitet. Ich hatte den Schattenknipser sogar extra in den Mund gesteckt, weil ich mir schon gedacht hatte, dass ich in der Gegenwart wieder meine alten Klamotten anhaben würde. So konnte er mir unter keinen Umständen abhandenkommen.“
Schorsch begleitete seine Erzählung mit heftigem Gestikulieren. Beinahe hätte er sein Weinglas umgestoßen. „Als der Typ die Tür eintritt, lasse ich die Fernbedienung ins Klo fallen – ich hatte jetzt ja was Besseres – und spüle ab. Dann drehe ich mich blitzschnell um und frage: ‚Was ist los? Musst du so dringend?‘ Das einzige Problem dabei war, dass ich wegen des Schattenknipsers in meiner Backentasche nicht zu schnell sprechen durfte. Sonst hätte ich das kostbare Gerät am Ende noch verschluckt!“
„Und der Security-Typ hat dich nicht angerührt?“ Nicht nur Yvonne, wir alle hingen gebannt an Schorschs Lippen. Was er jetzt erzählte, hatte uns allen – wenn auch Yvonne auf besonders dramatische Weise – das Leben gerettet.
Schorsch zuckte mit den Schultern: „Nein – warum auch? Ich hatte ja nichts Verdächtiges an mir. Ich denke, es war ihm einfach nur peinlich, dass er mich so überfallen hatte. Na, jedenfalls haben wir danach zusammen die Toilette verlassen. Der Rest war ein Kinderspiel. Ich habe einfach gewartet, bis wir an die große Glasfront kamen, durch die man auf den Saal mit dem Rednerpult herabsehen kann. Dort habe ich mal kurz gehustet, so den Schattenkompass in die Finger bekommen und ihn auf den Präsidenten ausgerichtet – das Übrige kennt ihr ja.“
Was folgte, war ein längeres Schweigen. Lina nippte nachdenklich an ihrem Wein, Yvonne pickte gedankenverloren in ihrem Salat herum, Schorsch und ich schoben die Lasagne-Reste zusammen und drapierten sie umständlich auf unseren Gabeln. Alle dachten wir an das, was passiert wäre, wenn Schorsch es nicht geschafft hätte, das Rad der Zeit zurückzudrehen.

English Version

The Celebration of Life

Theo, Shorsh, Yvonne and Lina sit together and talk about the past events. Shorsh recounts how he managed to get hold of the shadow cutter in the cone town.

Monday, October 16

What a wonderful evening that was yesterday! Lina had invited me, Yvonne and Shorsh to her place to celebrate the happy ending of our adventures. At last we could sit together again without a care in the world! At last this constant restlessness had fallen away from us, this permanent feeling of having lost our way in a dark bog that could pull us down into the depths as if with octopus arms at every careless step.
Rarely have I enjoyed food so much! We had red wine and lasagne, plus fresh salad. After the infant mush in the cone town and the involuntary diet I was subjected to in the medieval dungeon, the meal tasted almost like ambrosia to me.
The main topic of conversation was, of course, how Shorsh had managed to deprive the president of his shadow. The key to his success was quickly revealed: He had taken one of those compass-like devices from the guards in the cone town, with which the people there have their shadows cut off as punishment for disobedient behaviour.
But Shorsh wouldn’t be Shorsh if he hadn’t thought up several possible answers to the question of how exactly he had come into possession of the shadow cutter. He just loves to embellish the dull stream of events with colourful stories.
A short question was enough to make Shorsh tell everything all over again. This was the case, for example, when Yvonne wanted to know from him how he had actually been able to make himself understood to the people of the future.
Shorsh pretended to be astonished: „Didn’t you know that I used to perform as a mime in my youth?“
After a short pause, enjoying our astonishment, he added: „Of course, that helped me immensely in that situation. You wouldn’t believe how much you can say without words! And in addition, I still had the opportunity to support my gestures with a concrete demonstration: I just let one of these guys try my stomach drops, and in a flash they realised what I had to offer them!“
Yvonne smiled indulgently: „But don’t the drops need some time to work?“
„Yes, indeed, that’s why I accompanied the demonstration with appropriate facial expressions,“ Shorsh asserted boldly. „Besides, you shouldn’t underestimate the psychosomatic effect: If you are convinced that something can help you, that alone will make you feel better.“
I felt compelled to support Shorsh – after all, we had gone through part of the adventure together. „You also have to consider that medicines against such pathogens probably no longer existed at all in the cone town … or will exist. The corresponding diseases are regarded as having been conquered there for a long time. That’s why it may well be that the drops work much faster than in our case – if only because of the lack of habituation or even immunisation effects.“
Shorsh gratefully took up the argument. „Exactly! Moreover, the people there had nothing to lose. They just had very little choice: either my medicine or the lethal injection!“
He sipped his wine, which he had copiously mixed with water because of his stomach ailment, then he resumed his account. „In any case, I managed to make one of those paramedic soldiers understand the deal I had in mind: You get the drops, I get one of those shadow compasses with which you can so easily clip the shadows off others.“
„And that worked?“ asked Lina in disbelief.
„Not right away,“ Shorsh replied quick-wittedly. „As soon as the guy I was negotiating with told his colleagues about my proposal, they wanted to pounce on me with their syringes. They probably would have given me a deadly injection immediately if I hadn’t reacted alertly.“
„And how did you keep them off your back? – Come on, tell us,“ Yvonne urged him.
Shorsh stuffed a morsel of the huge portion of lasagne he had heaped on his plate into his mouth. Obviously, he used this respite to think calmly about what he would have done if everything had happened the way he was just telling it.
„Quite simply,“ he then explained as if it were the most natural thing in the world. „I made them understand that I would drop the bottle on the floor if they came too close to me. And then I showed them with my pantomime skills“ – he stuck out his tongue and rolled his eyes – „that in this case they would all die in agony due to this insidious pathogen. Only my drops could help them against it!“
„Are you sure about that? I always thought the drops would only relieve the symptoms,“ Lina objected.
„But they also strengthen the organism,“ Shorsh stressed unperturbed. However, he apparently didn’t feel like going into the subject any further: „Well, at least the whole thing worked. I swapped the shadow cutter for the emergency drops, and then all I had to do was launch myself back to the present with the emergency watch.“
So far none of us knows what Shorsh really did to get hold of the shadow cutter. He probably just waited for a favourable moment and then snatched it out of the hand of one of the paramedic soldiers. But of course that doesn’t sound as good as the version he presented us at our little party. In the end, all that matters is that he managed to get his hands on the device. And either way, he acted with great presence of mind!
For the rest of the story, however, Shorsh had far less scope for his embellishments. After all, we had experienced most of the events here ourselves. Only the scene in the toilet could be elaborated at will. Accordingly, this part of his story turned out to be particularly vivid.
He looked around the table once more, then moved on to the present tense part of his story: „So suddenly I found myself back in this bunker, in exactly the same position as I had left it: the security guard kicks the door open, I stand in front of the toilet bowl and try to freeze the images on the monitors with the remote control. Fractions of a second later, I would have had to activate the emergency watch. But I was now prepared for the situation. I had even put the shadow cutter in my mouth, because I had guessed that I would be wearing my old clothes again in the present. That way I couldn’t lose it under any circumstances.“
Shorsh accompanied his narration with such vigorous gesticulating that he almost knocked over his wine glass. „When the guy kicked the door open, I dropped the remote control in the toilet – after all, I had something better now – and pressed the flush. Then I quickly turned around, asking: ‚What’s wrong? Do you need the toilet that badly?‘ The only problem was that I couldn’t speak too fast because of the shadow cutter in my mouth. Otherwise I would have ended up swallowing the precious device!“
„And the security guard just left you in peace?“ Not only Yvonne, we all stared at Shorsh, spellbound. What he was about to tell us had saved all of our lives – albeit that of Yvonne in a particularly dramatic way.
Shorsh shrugged his shoulders: „Yes – why not? It’s not like there was anything suspicious about me! I think he was just embarrassed that he had attacked me like that. Well, anyway, we left the toilet together afterwards. The rest was a piece of cake. I just waited until we got to the large window front through which you can look down on the hall with the lectern. There I feigned a little coughing fit, got my hands on the shadow compass and pointed it at the president – the rest you’ve experienced for yourselves.“
A long silence followed. Lina sipped her wine thoughtfully, Yvonne poked absent-mindedly at her salad, Shorsh and I pushed the leftover lasagne together and draped it meticulously on our forks. All of us thought about what would have happened if Shorsh hadn’t managed to turn back the wheel of time.

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Bilder / Images: Pál István (1888 – 1944): Still-Leben / Still life (1921); Wikimedia commons; Sigrid Hjertén (1885 – 1948): Still-Leben mit Liebespaar / Still life with lovers (1931); Wikimedia commons

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