Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels
Theo verliert sich in Gedanken über das Wesen der Zeit – und blickt dabei in einen Strudel, der seinen Geist wie bei einem Drogenrausch im Kreis herumwirbelt.
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Sonntag, 15. Oktober
Immer wieder verlieren sich meine Gedanken im Treibsand der Zeit – in diesem Spiralnebel, der sich mit der Kraft eines Tornados um sich selbst dreht.
Klar ist: Schorsch ist aus der Zukunft unmittelbar in die Gegenwart zurückgekehrt. Während er aber dort in wenigen Sekunden den Lauf der Dinge verändert hat, bin ich für mehrere Tage in eine andere Zeit eingetaucht.
Natürlich ist es im Prinzip unzulässig, das eine Geschehen mit dem anderen zu verrechnen. Schließlich haben sich meine und seine Erlebnisse auf unterschiedlichen Zeitebenen abgespielt. Dass sie unverbunden nebeneinander stehen, lässt sich aber auch wieder nicht sagen.
Was wäre beispielsweise gewesen, wenn ich oder Lina auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden wären? Dann wäre doch das gesamte Gegenwartssetting unvollständig gewesen. Hätte es in diesem Fall also gar nicht erst entstehen können? Oder wären schlicht andere Personen an meine und Linas Stelle getreten? Aber lässt sich eine Existenz so ohne weiteres durch eine andere ersetzen? Ist nicht jedes Leben einzigartig und hinterlässt seine ganz eigenen Spuren in der Welt?
Umgekehrt ließe sich auch fragen, was mit den Ereignissen passiert ist, die durch Schorschs Eingreifen aus der Zeit herausgefallen sind. Für mich ist diese Frage eher sekundärer Natur. Der veränderte Lauf der Dinge hat in meinem Fall lediglich dazu geführt, dass ich nicht in exakt demselben Zeitpunkt in die Gegenwart zurückgekehrt bin, in dem ich sie verlassen habe – sondern in dem Augenblick, ab dem das Geschehen eine andere Wendung genommen hat.
Für Yvonne dagegen ist die Veränderung des Ereignisstroms eine Frage von Leben und Tod. Die Schüsse, die von den Security-Leuten auf sie abgefeuert worden sind, wären offenbar tödlich gewesen. Schorsch hat ihr durch sein Zurückdrehen der Zeit also nachträglich das Leben gerettet.
Die Erinnerung an die Schüsse ist aber nach wie vor in ihr lebendig. Noch immer wacht sie nachts auf und spürt das Explodieren der Geschosse in ihrem Rücken, dieses Feuer, das sich in Sekundenschnelle durch ihren Körper frisst. Immer wieder hört sie auch mein Flüstern über das Headset in ihr Ohr dringen: „Abbruch – Abbruch …“ Die Worte hatten für sie plötzlich eine ganz andere Bedeutung erhalten. Was abbrach, war nicht die Aktion, sondern ihr Leben.
Wie ist es aber möglich, dass Yvonne sich überhaupt noch an all das erinnert? Nachdem Schorsch den Lauf der Dinge verändert hat, ist es doch eigentlich gar nicht geschehen!
Ich kann mir das nur mit der Unterscheidung zwischen einer subjektiven und einer linearen Zeit erklären. Demnach gibt es auf der einen Seite das individuelle Erleben, das eine eigene, nur für einen selbst gültige Wirklichkeit besitzt – ähnlich wie der Traum von letzter Nacht, der uns ja auch in den Tag hinein verfolgen kann, obwohl wir wissen, dass er nach objektiven Maßstäben „irreal“ ist.
Davon unabhängig ist die lineare Zeit, die darüber entscheidet, welche Ereignisse geschichtsmächtig werden und welche nicht. Nur diese Zeitebene lässt sich offenbar mit Hilfe der Notfalluhr beeinflussen.
Interessant ist auch, was das für die Welt des Jahres 2521 bedeutet. Auf der linearen Zeitebene müsste die von Schorsch und mir dort ausgelöste Epidemie nach meiner Theorie ungeschehen gemacht sein. In der äußeren, faktischen Realität wird sie nie stattfinden. Denkbar ist aber, dass die Menschen in der Kegelstadt zu der Zeit, in der Schorsch und ich uns bei ihnen aufgehalten haben – oder aufhalten werden –, von Alpträumen heimgesucht werden, die ihnen vielleicht besonders real erscheinen.

English Version
In the Quicksand of Time
Theo gets lost in thoughts about the nature of time – and stares into a vortex that swirls his mind around in circles like in a drug intoxication.
Sunday, October 15
Again and again my thoughts get lost in the quicksand of time – in this spiral nebula that revolves around itself with the force of a tornado.
One thing is clear: Shorsh has returned directly from the future to the present. But while he changed the course of events there in a few seconds, I was immersed in another time for several days.
Of course, it is actually inadmissible to set one event off against the other. After all, my and his experiences took place on different time levels. But it cannot be said either that they have no connection with each other.
For instance, what would have happened if I or Lina had been burned at the stake? Then the entire setting of the present would have been incomplete. Would it not have come about at all in this case? Or would other people simply have taken my and Lina’s place? But can one existence be replaced by another so easily? Isn’t every life unique and leaves its own traces in the world?
Conversely, I also wonder what became of the events that were kept from happening due to Shorsh’s intervention. For me, this question is of a secondary nature. In my case, the changed course of events merely meant that I did not return to the present at exactly the same moment I left it – but at the moment when events took a different turn.
For Yvonne, by contrast, the change in the flow of events is a matter of life and death. The shots fired at her by the security guards would obviously have been fatal. So Shorsh saved her life retroactively by turning back time.
The memory of the shots, though, is still present in her mind. She still wakes up at night and feels the explosion of the bullets in her back, this fire that eats through her body within a few seconds. Time and again she also hears my whisper reaching her ear through the headset: „Break-off – break-off …“ The words had suddenly taken on a completely different meaning for her. What broke off was not the action, but her life.
But how is it possible that Yvonne remembers all this? After all, once Shorsh had changed the course of events, it hadn’t actually happened at all!
The only plausible explanation for this would be a distinction between a subjective and a linear time. This means that on the one hand there is the individual experience, which has its own reality that is only valid for the respective person – similar to last night’s dream, which can also haunt us into the day, even though we know that it is „unreal“ according to objective standards.
Independent of this is the linear time that decides which events have an effect on the historical course of events and which do not. Only this level of time can apparently be influenced with the help of the emergency watch.
Another interesting question is what this means for the world of the year 2521. On the linear time level, the epidemic triggered by Shorsh and me there should, according to my theory, be undone. In the external, factual reality, it will never take place. However, it is conceivable that at the time when Shorsh and I stayed – or will stay – with them, the people in the cone town are haunted by nightmares that may seem particularly real to them.
Bilder: Pixabay. 1. Gerd Altmann: Uhren / Clocks. 2. PublicDomainPictures: Strudel / Vortex (Pixabay)

