Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels
Gleich wird der Scharfrichter mit der Folterung Linas beginnen. Oder kann Theo das doch noch in letzter Minute verhindern?
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Montag, 4. April 1485, nachmittags
Immer wieder sehe ich die Folterwerkzeuge vor mir, die der Scharfrichter bei seiner makabren Führung durch die Folterwerkstatt präsentiert hat. Besonders befremdend für mich: die Worte, mit denen er die Folterwerkzeuge bezeichnet hat.
„Spanische Stiefel“, „Gespickter Hase“ … Die Begriffe geben doch nicht annähernd das Grauen wieder, das mit den Gegenständen verbunden ist! Ist diese Verharmlosung eine bewusste Strategie, um nach außen hin den Anschein einer ordentlichen Prozessführung zu wahren? Oder drückt sich in den verniedlichenden Bezeichnungen eher die innige Beziehung der Folterer zu ihren Werkzeugen aus?
- Der Fürst der Finsternis
Nachdem der Scharfrichter all seine praktischen Gerätschaften vorgeführt hatte, ergriff wieder Bruder Heinrich das Wort.
„Wir alle wissen“, verkündete er feierlich, „dass der Allmächtige über eine uns unvorstellbare Barmherzigkeit verfügt. Auch dem größten Sünder kann er die Gunst seiner Gnade gewähren. Wie jeder gerechte Vater greift jedoch auch er zum Stock, wenn eine Sünderin sich hartnäckig weigert, sich für das Licht seiner Gnade zu öffnen. Dies gilt ganz besonders für die Sünde der Hexerei. Denn wer sich ihrer schuldig macht, schadet damit nicht nur sich selbst, sondern der gesamten Christenheit.“
Er wandte sich zu Lina um. „So frage ich denn die hier Angeklagte in aller Form: Willst du dich zu Gott, deinem Schöpfer, bekennen und deine Schuld vor seinem Angesicht bereuen? Oder forderst du den Allmächtigen heraus, die Kraft seines Zornes an deinem Körper zu beweisen, um dich zum rechten Glauben zu bekehren?“
Lina sah den selbstgerechten Diener der Gerechtigkeit sprachlos an. Sie schien am ganzen Körper zu zittern – oder kam mir das nur durch den unruhigen Fackelschein so vor?
Schließlich nahm sie allen Mut zusammen und fragte zurück: „Was habt Ihr denn davon, wenn Ihr mich foltert? Ein erpresstes Geständnis sagt doch rein gar nichts aus!“
Bruder Heinrich schien diesen Einwand gar nicht zu registrieren. In der Tat ergab der Begriff „erpresstes Geständnis“ aus seiner Perspektive ja auch keinen Sinn. Was Lina unter der Folter aussagen würde, erhielt für ihn durch die Anwesenheit des Allmächtigen die Weihe einer unverrückbaren Wahrheit.
Ungerührt setzte er seine Rede, die Plädoyer und Urteilsspruch in einem war, fort. „Halten wir also fest: Auch nach Vorführung der Instrumente, die der peinlichen Befragung dienen, verweigert die Angeklagte hartnäckig jedes Schuldeingeständnis. Bruder Albertus, notieren Sie daher bitte: Das Gericht sieht sich durch das Verhalten der Angeklagten gezwungen, die peinliche Befragung einzuleiten.“
Eilfertig huschte die Feder von Albertus über sein Protokollantenpult – wobei der dienstbeflissene Eindruck wahrscheinlich täuschte. Berauscht, wie er war, brachte er bei dem diffusen Licht wohl nur unleserliche Hieroglyphen zustande.
An die Folterknechte gewandt, ordnete Bruder Heinrich an: „Entkleidet die Angeklagte nun, damit der Scharfrichter seines Amtes walten kann! Und vergesst auch nicht, in ihren Körperöffnungen nach einem verborgenen Maleficium zu suchen. Das kann ein ganz unscheinbares Ding sein, ein Grashalm oder auch ein Haar. Wenn aber der Böse ihr dies als Zeichen ihres Bundes eingeführt hat, ist sie dadurch gegen die Schmerzen unempfindlich!“
Das musste er den beiden Schergen nicht zweimal sagen. Mit lüsternen Blicken machten sie sich daran, Lina das Hemd vom Leib zu zerren.
Dies war der Moment, in dem Lina nicht mehr an sich halten konnte. „Theo!“ rief sie verzweifelt. „Hilf mir!“
Alle Blicke richteten sich auf mich. Nun war es vorbei mit „Bruder Theobald“. Auf einmal war für alle klar, dass ich ein Verbündeter der vermeintlichen Hexe war. Allerdings hätte es dafür gar nicht Linas unfreiwilligen Fingerzeigs bedurft. Ich hätte ohnehin nicht ruhig mitansehen können, wie sie von diesen Triebtätern erst überall befingert und dann mit systematisch gesteigerter Grausamkeit gefoltert wird.
Fieberhaft hielt ich nach etwas Ausschau, das mir einen Ausweg in höchster Not bieten könnte. Da fiel mein Blick auf ein großes Schwert, das in einer Ecke des Raumes an der Wand lehnte. Wahrscheinlich das Richtschwert, dachte ich. Zwei Schritte, und meine Hand umfasste den kalten Knauf. Geistesgegenwärtig griff ich noch nach der Tube mit Linas Make-up und schmierte etwas von der vermeintlichen Zaubersalbe auf die Spitze des Schwertes.
Meine Zauberwaffe drohend vor mich hinhaltend, rief ich aus: „Hinfort mit Euch, nichtswürdiges Christenpack! Satanas bin ich, der Fürst der Finsternis! Und wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht sofort eure Finger von meiner Buhle lasst, wird dieses Schwert euch für immer in die Hölle entführen.“
Ein angsterfülltes Raunen wehte durch den Raum. Die Folterknechte warteten gar nicht erst darauf, was Bruder Heinrich ihnen befehlen würde. Schreckensstarr ließen sie von Lina ab und tasteten sich, die Augen furchtsam in meine Richtung gewandt, zur Tür vor. Auch Albertus sah mich fassungslos an und wankte, sich in einem fort bekreuzigend, mit dem Scharfrichter zur Tür.
Nur Bruder Heinrich blieb ganz ruhig. Auch kam es ihm keineswegs in den Sinn, mir meine „Buhle“ zu überlassen. Mit fast schon aufreizender Gelassenheit fasste er sie am Arm und führte sie hinaus. Bevor er die Folterkammer verließ, drehte er sich noch einmal um und funkelte mich aus lauernden Augen an, als wollte er sagen: Wir beide wissen doch ganz genau, wer von uns der wahre Fürst der Finsternis ist!
Mitunter kleidet das Böse sich eben tatsächlich in das Gewand eines „Engels des Lichts“.

English Version
Painful Interrogation/3: The Prince of Darkness
In a moment, the executioner will start torturing Lina. Or can Theo still come up with an idea to prevent this?
Monday, April 4, 1485, afternoon
The torture instruments presented by the executioner during his macabre guided tour through the torture cellar just don’t get out of my mind. Particularly disconcerting for me were the words he used to describe the torture instruments.
„Spanish Boots“, „Spiked Rabbit“ … These terms do not even come close to reflecting the horror associated with the respective objects! Is this trivialisation a deliberate strategy to maintain the appearance of due process to the outside world? Or do the trivialising terms rather express the intimate relationship of the torturers to their tools?
- The Prince of Darkness
After the executioner had demonstrated all his practical tools, Brother Henry took the floor again.
„We all know,“ he solemnly proclaimed, „that the Almighty is capable of a mercy unimaginable to us. Even to the greatest sinner he can grant the favour of his grace. However, like any just father, he also resorts to the whip when a sinful daughter stubbornly refuses to open herself to the light of his mercy. This is especially true of the sin of witchcraft. For those who are guilty of it harm not only themselves, but all of Christendom.“
He turned to Lina. „So I formally ask the accused: Will you profess yourself to God, your Creator, and repent of your guilt before His face? Or do you want to provoke the Almighty to prove the power of his wrath upon your body, so as to convert you to the right faith?“
Lina looked at the self-righteous servant of justice speechless. She seemed to be trembling all over – or was this impression only due to the unsteady torchlight?
Finally, she gathered all her courage and asked back: „What would you gain by torturing me? An extorted confession doesn’t say anything!“
Brother Henry did not seem to register this objection at all. In fact, the term „extorted confession“ made no sense from his perspective. What Lina would say under torture was assured to him as incontrovertible truth by the presence of the Almighty.
Unperturbed, he continued his speech, which was a plea and a verdict in one. „So let us record“, he stated. „Even after the instruments used for painful interrogation have been presented to her, the accused stubbornly refuses to make any admission of guilt. Brother Albertus, therefore, please record: The court finds itself compelled by the conduct of the accused to initiate the painful interrogation.“
Hurriedly, Albertus‘ pen flitted across his desk – though the eager impression he made was probably deceptive. Intoxicated as he was, he probably only produced illegible hieroglyphics in the diffuse light.
Turning to the torture assistants, Brother Henry ordered: „Undress the accused now, so that the executioner can perform his duties! And do not forget to look in her orifices for a hidden maleficium. This can be a very inconspicuous thing, a blade of grass or a single hair. But if the Evil One has introduced this to her as a sign of their covenant, it will make her impervious to the pain!“
The two henchmen immediately complied with the request. With greedy looks, they set about tearing Lina’s shirt off her body.
This was the moment when Lina could no longer keep calm. „Theo!“ she cried desperately. „Help me!“
All eyes turned to me. Now „Brother Theobald“ had irrevocably ceased to exist. Suddenly it was clear to everyone that I was an ally of the supposed witch. However, Lina’s involuntary hint would not have been necessary. Under no circumstances would I have brought myself to stand by and watch these sex offenders first finger Lina all over and then torture her with systematically increased cruelty.
Feverishly, I looked for something that could offer me a way out of this seemingly hopeless situation. That’s when my eyes fell on a large sword leaning against the wall in a corner of the room. Probably the executioner’s sword, I thought. Jumping into the corner and grasping the pommel with my hand was a matter of just a few seconds. Quick-witted, I reached for the tube of Lina’s make-up and smeared some of the supposed magic ointment on the tip of the sword.
Holding my magic weapon threateningly in front of me, I exclaimed: „Get out of here, you unworthy rubble of Christians! Satanas am I, the Prince of Darkness! And truly I tell you: If you do not immediately keep your hands off my paramour, this sword will carry you off to hell for ever.“
A fearful murmur wafted through the room. The torture assistants did not even wait to hear what Brother Henry would order them to do. Frozen with horror, they let go of Lina and groped their way to the door, their eyes turned terrified in my direction. Albertus, too, looked at me in bewilderment and, crossing himself incessantly, staggered with the executioner to the door.
Only Brother Henry remained completely calm. Nor did it occur to him at all to hand over my „paramour“ to me. With almost provocative composure, he took her by the arm and led her out. Before he left the torture chamber, he turned around once more and glared at me from lurking eyes, as if to say: „We both know exactly which of us is the true Prince of Darkness!“
Sometimes the Evil indeed appears to us in the guise of an „Angel of Light“.
Bilder / Images: Vision der Hölle auf der Tafel des Emporiums in der Kirche Unserer Lieben Frau von der Immerwährenden Hilfe in Malbork/Polen (1731); Wikimedia commons (Ausschnitt) /Vision of Hell in the Church of Our Lady of Perpetual Help in Malbork/Poland (1731); Wikimedia Commons (detail); Hans Memling (ca. 1433 – 1494): Teufelsdarstellung mit lateinischer Inschrift: In inferno nulla est redemptio (In der Hölle gibt es keine Erlösung); aus dem Polyptychon der irdischen Eitelkeiten und der himmlischen Erlösungum 1485 / Depiction of the devil with Latin inscription: In inferno nulla est redemptio (There is no redemption in hell); from th polyptych of Earthly vanities and Heavenly redemption; c. 1485 (Straßburg, Musée des Beaux Arts / Wikimedia commons)