Erschaffung einer Hexe/2: Verrat / Creating a Witch/2: Betrayal

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Lina vertraut Nese – der Begine, die ihr bei ihrer Ankunft im Jahr 1485 zur Seite gestanden hat – die wahren Hintergründe ihres Aufenthalts in der fremden Zeit an. Das hätte sie besser nicht getan.

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Sonntag, 3. April 1485, später Nachmittag

Ein schreckliches Gefühl, in dieser Kammer zu sitzen, die in ihrer Kargheit innere Einkehr und Frieden ausstrahlt, während ein paar Häuser weiter Lina darauf wartet, bei lebendigem Leib verbrannt zu werden …
Natürlich ist das im Grunde der Normalzustand. Während an einem Ort jemand sein Leben genießt, wird an einem anderen Ort gerade eine Frau vergewaltigt, ein Kind geschlagen, ein Haus von einer Rakete getroffen, einem Gegner das Messer in den Rücken gestochen. Nur kommt uns diese Obszönität des Lebens eben erst dann zum Bewusstsein, wenn eine uns nahestehende Person davon betroffen ist.

  1. Verrat

Ich hatte gleich ein ungutes Gefühl gehabt, als Lina auf die Vorsteherin des Beginenkonvents zu sprechen kam. Es war mir klar, dass sie ihre Niederlage bei der Abstimmung um Linas Aufnahme in das Beginenhaus nicht klaglos hinnehmen würde.
„Vielleicht würde ich jetzt gar nicht in diesem Kerker hocken, wenn ich Nese nicht von der Notfalluhr erzählt hätte“, gestand Lina mir schließlich.
Dieser Satz ließ mich das Schlimmste befürchten. In der Tat erschwerte das, was sie mir nun erzählte, meine Pläne für ihre Befreiung ganz erheblich.
Sie sah mich hilfesuchend an – als könnte ich das Geschehene rückgängig machen! „Ich wusste einfach nicht, wie ich ihr sonst meinen seltsamen Aufzug hätte erklären sollen. Und dann war ich ja auch unendlich erleichtert, als sie mich an dem Abend in das Beginenhaus geschmuggelt hat! Da habe ich es einfach nicht fertiggebracht, sie anzulügen. Ich wollte, ich musste ihr vertrauen – wie hätte ich sonst in das fremde Leben hineinfinden sollen?“
„Das klingt nicht so, als hätte sie dein Vertrauen gerechtfertigt“, mutmaßte ich.
Lina zuckte zaghaft mit den Schultern. „Ehrlich gesagt – ich weiß es nicht. Zuerst hat sie mir gar nicht geglaubt. Sie hat mich angesehen wie eine dieser Märchenerzählerinnen auf den Jahrmärkten, bei denen die Steine fliegen können und die Bäume sich in die phantastischsten Fabelwesen verwandeln. Nach einer Weile ist sie aber doch neugierig geworden. Die Uhr war ja da, man konnte sie anfassen, ihre Realität ließ sich nicht bestreiten.“
Ich überlegte kurz, welche andere Erklärung Nese für Linas plötzliches Auftauchen in der Stadt hätte finden können. Am wahrscheinlichsten war es aus ihrer Perspektive wohl, Lina dem fahrenden Volk zuzurechnen, in ihr also eine Person zu sehen, die überall und nirgends zu Hause ist und für die deshalb die Konventionen des gewöhnlichen Alltags nicht gelten. Vielleicht hat sie in ihr aber auch eine verstoßene Adlige gesehen und sich gewisse Vorteile versprochen, wenn sie ihr zu Diensten wäre.
„Irgendwann“, fuhr Lina fort, „hat Nese mich dann gebeten, sie die Uhr ausprobieren zu lassen.“
Ich sah sie entsetzt an. „Du bist doch nicht etwa darauf eingegangen?“
Lina zögerte. Ihr Blick verlor sich in der Dunkelheit des Kerkers. „Natürlich habe ich ihre Bitte abgelehnt. Das sei zu gefährlich, habe ich ihr gesagt, sie sehe doch an mir, in was für eine Lage man durch eine solche Zeitreise geraten könne, das sei wirklich nur etwas für den absoluten Notfall. Dadurch habe ich sie aber nur noch neugieriger gemacht, weil das Unglaubliche durch meine Worte glaubhaft wurde.“
„Also hast du am Ende nachgegeben“, murmelte ich tonlos.
Lina nickte schwach. „Nese wollte nur mal kurz durch die Zeit hüpfen. ‚Nur für einen Augenblick‘, hat sie gebettelt. ‚Ich tauche einfach in eine andere Zeit ein, und dann komme ich gleich wieder zurück. Ich fühle mich doch wohl hier‘, hat sie mir versichert. ‚Warum sollte ich in einer anderen Zeit leben wollen?'“
Lina seufzte. Ihre Augen starrten noch immer ins Leere. „Und jetzt ist sie verschwunden – und mit ihr die Notfalluhr.“
Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob Nese Lina bewusst hintergangen oder ob sie vorgehabt hat, ihr Versprechen zu halten. Ich weiß ja selbst, wie leicht man in den Strudel einer anderen Zeit hineingeraten kann. Es ist nun einmal das Tückische an Zeitreisen, dass sie einen die Zeit vergessen lassen. Das Pendeln zwischen den Zeiten tötet jedes Zeitgefühl ab.
Vielleicht ist Nese aber auch in einer Zeit gelandet, in der sie als Frau ganz andere Freiheiten genießt. Gut möglich, dass sie dadurch ihre ursprünglichen Rückkehrpläne über den Haufen geworfen hat.
Selbst wenn Nese ihren Aufenthalt in der anderen Zeit länger ausgedehnt hat, als sie geplant hatte, kann sie aber immer noch jeden Augenblick zurückkehren. Das Verrückte ist ja: Die Notfalluhr müsste sie eigentlich an jenen Punkt der Zeit zurückschicken, von dem aus sie zu ihrer Zeitreise aufgebrochen ist. Wie kurz oder lange sie in einer anderen Zeit geblieben ist, wäre dann ganz egal.
Was in einem solchen Fall mit den Entwicklungen geschehen würde, die durch ihren Sturz aus dieser Zeit ausgelöst worden sind, ist mir immer noch unklar. Werden sie einfach gelöscht? Würden die Probleme, die mir jetzt nahezu unlösbar erscheinen, sich schlicht in Luft auflösen? Oder würde sich die Zeit dann in mehrere Bahnen aufteilen, auf denen sich parallel zueinander unterschiedliche Entwicklungsdynamiken entfalten?
Es sind Gedanken, die einen den Boden unter den Füßen verlieren lassen. Spekulationen, die zu nichts führen. Deshalb habe ich sie auch bei meinem Gespräch mit Lina nicht weiter verfolgt.
„Gut“, resümierte ich stattdessen, „die Notfalluhr ist also weg. Das erklärt aber noch nicht, wie du in den Verdacht der Hexerei geraten konntest.“
Lina holte tief Luft. „Nüchtern betrachtet, war das einfach eine Verkettung ungünstiger Umstände. Nach Neses plötzlichem Verschwinden hat die Meisterin mich nach ihrem Verbleib gefragt – sie wusste ja, dass ich näher mit ihr bekannt war. Als ich die Antwort schuldig blieb, ist sie misstrauisch geworden. Kurz darauf ist dann dieser Hetzprediger in die Stadt gekommen und hat die Leute dazu gebracht, alles Ungewöhnliche als Hexenwerk anzuzeigen.“
„Und daraufhin hat die Meisterin in dir eine Hexe gesehen?“ schlussfolgerte ich.
„Genau“, bestätigte Lina. „Von ihrer Warte aus war das ja auch nur logisch. Weil ich eine Hexe war, war ich wie aus dem Nichts in der Stadt aufgetaucht – natürlich auf meinem Hexenbesen reitend! Und dann hatte ich Nese, wie das Hexen eben so tun, in kleine Stückchen zerhackt und zu Pulver zerrieben, das ich dann zu einer Zaubersalbe verarbeitet habe. Plötzlich gab es für alles eine Erklärung!“
„Aber doch noch lange keine Beweise!“ wandte ich ein.
Lina lachte bitter. „Leider doch. Die Meisterin hat in meiner Abwesenheit meine Kammer durchwühlt. Dabei hat sie Neses Kleider entdeckt. Nese hatte sie bei mir verstaut, weil sie davon ausgehen musste, zunächst in meiner Ex-Gegenwart zu landen. Deshalb hat sie natürlich lieber die Kleider angezogen, in denen ich hier angekommen bin. Für die Meisterin sah es aber so aus, als hätte ich Neses Kleider versteckt, nachdem ich ihren Leichnam zu Hexensalbe verarbeitet hatte. Wer in mir eine Hexe sehen wollte, hatte so eine Bestätigung dafür, dass ich Nese für meine teuflischen Zwecke getötet hatte.“
Darauf hatte Bruder Heinrich also angespielt, als er Linas Make-up bei dem Hexenprozess den Anwesenden präsentiert hatte! „Dann hättest du Nese also zu Make-up verarbeitet?“ fragte ich halb im Scherz.
Linas Lippen zuckten. Es war nicht klar, ob sie in Tränen ausbrechen oder einen hysterischen Lachanfall bekommen würde. „Das ist wirklich ein völlig absurdes Detail“, bekräftigte sie, nachdem sie sich wieder gefangen hatte. „Bevor ich hierhergekommen bin, hatte ich direkt auf der Nase einen hässlichen Pickel. Also hatte ich immer eine kleine Tube Make-up dabei, um den Schandfleck zu überdecken. Und diese Tube hat die Meisterin dann zusammen mit Neses Sachen in meiner Kammer gefunden!“
Damit waren die Fakten also auf dem Tisch. Da Lina keine Notfalluhr mehr hatte, würde uns nichts anderes übrig bleiben, als zu versuchen, gemeinsam mit meiner Notfalluhr durch die Zeit zu springen. Ob uns das gelingen kann, ist völlig offen.
Am liebsten wäre ich gleich nach meiner Rückkehr ins Kloster wieder zu Lina in den Kerker gegangen, um die Probe aufs Exempel zu machen. Davon hat mir Stefan jedoch dringend abgeraten. Die Gefahr, sich durch einen erneuten Besuch verdächtig zu machen, hält er für zu groß. Seiner Meinung nach ist es besser, die Dunkelheit abzuwarten. Bis dahin will er über den ihm bekannten Wärter auch die nötigen Schlüssel beschafft haben.
Tatsächlich können wir so auch gleich meinen zweiten Trumpf ausprobieren: die Flugdüse, die ich ja noch immer als Souvenir aus der Zukunft bei mir aufbewahre. Wenn sie zwei Personen trägt, könnten Lina und ich damit wenigstens die Stadtmauern überwinden. Dadurch wäre uns eine Flucht auch dann möglich, wenn die Notfalluhr immer nur für eine einzige Person das Tor zu einer anderen Zeit öffnen sollte.

English Version

Creating a Witch/2: Betrayal

Lina tells Nese – the Beguine who stood by her side when she arrived in 1485 – about the true background of her stay in the foreign time. This later turns out to be a mistake.

Sunday, April 3, 1485, late afternoon

What a terrible feeling to sit in this chamber, which in its simplicity radiates contemplation and peace, while a few houses away Lina is waiting to be burned alive!
Of course, this is basically the normal state of affairs. While in one place someone is enjoying his life, in another place a woman is being raped, a child is being beaten, a house is being hit by a rocket, an opponent is being stabbed in the back. It is just that we only become aware of this obscenity of life when someone close to us is affected by it.

  1. Betrayal

I had a bad feeling right away when Lina mentioned Sister Hildegardis, the head of the Beguine convent. It was immediately clear to me that she would not accept her defeat in the vote on Lina’s admission to the beguinage without complaint.
„Maybe I wouldn’t even be sitting in this dungeon now if I hadn’t told Nese about the emergency watch,“ Lina finally confessed to me.
This sentence made me fear the worst. In fact, what she now told me considerably complicated my plans for her liberation.
As if apologetically, Lina added: „I simply didn’t know how else to explain my strange outfit to her. Besides, I was infinitely relieved when she smuggled me into the Beguine house that evening! So I just couldn’t bring myself to lie to her. And ultimately, I had no choice but to trust her – how else could I have found my way into this alien world?
„That doesn’t sound like she justified your trust,“ I suspected.
Lina shrugged her shoulders hesitantly. „Honestly – I don’t know. At first she didn’t believe me at all. She looked at me like I was one of those fairy tale tellers at the fairs, in whose stories the stones can fly and the trees turn into the most fantastic fabulous creatures. After a while, however, she became curious. After all, the clock was there, she could touch it, there was no denying its reality.“
I briefly considered what other explanation Nese could have found for Lina’s sudden appearance in town. From her perspective, it was probably most likely that Lina belonged to the „travelling people“, that is, that she was a person who was at home everywhere and nowhere and for whom the conventions of everyday life did not apply. Or did she see her as an outcast noblewoman and expected certain benefits from being of service to her?
„At some point,“ Lina continued, „Nese asked me to let her try out the watch.“
I looked at her aghast. „You didn’t comply with her wish, did you?“
Lina hesitated, her gaze fixing the darkness of the dungeon. „Of course I refused her request. It’s too dangerous, I told her, just look at me, you can see what such time travels can do to people, the watch is really only something for an absolute emergency! But with my torrent of words I only made her more curious, because the unbelievable became believable through my speech.“
„So you finally gave in,“ I muttered tonelessly.
Lina nodded weakly. „Nese just wanted to hop through time for a moment. ‚Only for a moment,‘ she begged. ‚I’ll just dive into another time, and then I’ll be right back. I feel comfortable here,‘ she assured me. ‚Why should I want to live in another time?'“
Lina sighed. Her eyes were still staring into space. „And now she’s gone – and the emergency watch with her.“
It is idle to speculate whether Nese deliberately deceived Lina or whether she intended to keep her promise. I myself know how easily it can happen to get caught up in the vortex of another time. After all, the tricky thing about time travelling is that it makes you forget time. The commuting between times just makes any sense of time die away.
However, it is also conceivable that Nese has landed in a time where women enjoy much greater freedom – and that this has caused her to abandon her plan to return.
But even if Nese has extended her stay in the other time longer than she had planned, she can still return at any moment. The crazy thing about the emergency watch is that it should actually send Nese back to the point in time from which she started her time travel. How short or long she stays in another time doesn’t matter at all for that.
What would happen in such a case to the events triggered by her temporary absence from this time is still unclear to me. Would they simply be erased? Would the problems that now seem almost insoluble to me simply vanish into thin air? Or would time then divide into several tracks on which different evolutionary dynamics unfold parallel to each other?
These are obviously thoughts that can make you lose your mind – speculations that lead nowhere. That’s why I didn’t pursue them any further in my conversation with Lina.
„Well then,“ I summed up instead, „the emergency watch is lost. But that still doesn’t explain how you could have fallen under the suspicion of witchcraft.“
Lina took a deep breath. „Ultimately, it was simply a chain of unfavourable circumstances. After Nese’s sudden disappearance, Sister Hildegardis asked me if I had any idea where she was. After all, she knew that I was well acquainted with her. As I couldn’t give her an adequate answer, she became suspicious. Shortly afterwards, that inflammatory preacher Brother Henry came to town and got people to denounce anything unusual as witchcraft.“
„And thereupon Sister Hildegardis suspected you of being a witch,“ I guessed.
„Exactly,“ Lina confirmed. „From her point of view, that was indeed logical. Because I was a witch, I had appeared in town out of nowhere – riding my witch’s broom, of course! And then, as witches do, I had chopped up Nese into little pieces and ground them into powder, which I then used to create a magic ointment. Suddenly there was an explanation for everything!“
„But that’s a long way from proof,“ I objected.
Lina laughed bitterly. „From the perspective of my accusers, my guilt is very well proven. Unfortunately, Sister Hildegardis rummaged through my chamber in my absence – and discovered Nese’s clothes in it. Nese had stowed them away in my chest because she naturally assumed she would end up in my former present. So of course she preferred to put on the clothes I was wearing when I arrived here. But to Sister Hildegardis it looked as if I had hidden Nese’s clothes after I had processed her corpse into witch’s ointment. Whoever wanted to see a witch in me thus had confirmation that I had killed Nese for my diabolical purposes.“
Now I realised what Brother Henry had alluded to when he had presented Lina’s make-up at the witch trial! „So the accusation is that you turned Nese into make-up?“ I asked half-jokingly.
Lina’s lips twitched. It was not clear whether she was about to burst into tears or break into a hysterical fit of laughter. „That’s really a completely absurd detail,“ she affirmed after she had regained her composure. „Before I came here, I had a nasty pimple right on my nose. So I always kept a small tube of make-up with me to cover the blemish. And that tube was then found by Sister Hildegardis in my chamber along with Nese’s clothes!“
So the facts were on the table. Since Lina no longer had an emergency watch, we had no choice but to try to jump through time together with my emergency watch. Whether we can succeed in this is completely unclear to me.
Actually, I would have preferred to fetch my emergency watch and return to Lina immediately to try things out. However, Stephen strongly advised me not to do that. He thinks the danger of making myself suspicious by visiting Lina again is too great. In his opinion, it is better to wait for darkness. By then he wants to have procured the necessary keys through the guard he knows.
In fact, this way we can also try out my second trump card: the flight engine, which I still keep with me as a souvenir from the future. If it carries two people, Lina and I could at least use it to get over the town walls. This would enable us to escape even if the emergency watch were to open the gate through time for only one person at a time.

Bilder / Images: Merlin Lightpainging: Magisches Mädchen / Magic girl (Pixabay); Merlin Lightpainging: Mädchen in Neon-Rauch / Girl in neon smoke (Pixabay)

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