Bruder Eberharts Geschichte/7: Unter Verdacht / Brother Eberhart’s Story/7: Under Suspicion

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Auch Stefan sieht sich wegen seiner unkonventionellen Ansichten zu Gott dem Vorwurf der Ketzerei ausgesetzt. Wird auch er noch einmal eine Flucht durch die Zeit antreten müssen?

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Samstag, 2. April 1485, nachts

Wenn ich für immer in dieser Zeit leben müsste, würde ich wahrscheinlich auch in ein Begardenhaus ziehen. So könnte ich mir wenigstens ein Minimum an geistiger Freiheit bewahren.
Ob ich aber dem Uniformitätsdruck der Amtskirche auf Dauer standhalten könnte? Ich weiß es nicht. Was ich aber sicher weiß: Den Gedanken, dass ständig jemand in meinen Kopf hineinregieren möchte, fände ich unerträglich.
Im Grunde geht es hier ja sogar um mehr. Der Glaube betrifft den ganzen Menschen – die Frage, wie er sich zu dem ungeheuren Rätsel verhält, dass der Kosmos für ihn ist. Und kann es ein größeres Verbrechen am Geist geben als den Versuch, diese Frage auf dem Altar der Macht und der Rechthaberei zu opfern?

  1. Unter Verdacht

Stefans Bericht über Cristinas Rettung hatte mich einerseits beeindruckt. Andererseits fragte ich mich, warum er – wenn er doch über solche Einflussmöglichkeiten verfügte – nichts gegen Linas Verhaftung unternommen hatte.
Vorsichtig fragte ich daher: „Warum bist du eigentlich dem Schauprozess gegen Lina ferngeblieben? Und hättest du ihn nicht im Vorfeld verhindern können?“
Stefan seufzte. „Leider kann ich meine Augen nicht überall haben. Außerdem ist das, was ich dir erzählt habe, vor einem Jahr geschehen. Damals war Bruder Heinrich noch nicht so mächtig, wie er heute ist, und ich war noch nicht in Ungnade gefallen.“
Ich sah ihn erstaunt an. „Was soll das heißen – ‚in Ungnade gefallen‘?“
„Hat Albertus dir das nicht erzählt?“ Er dachte kurz nach, dann sagte er wie zu sich selbst: „Aber nein, das sieht ihm nicht ähnlich. – Er hat mich beim Provinzvorsteher des Ordens angeklagt, ‚übertriebene und ungeeignete Subtilitäten vorzutragen, mich unangemessener Worte zu bedienen und unpassende Fragen zu erörtern‘. Angeblich würde ich dadurch ‚Spaltungen in unserem Orden‘ heraufbeschwören. Das war auch der Grund dafür, dass ich bei deiner Ankunft im Kloster nicht da war – ich musste mich gegenüber dem Provinzialkapitel zu diesen Vorwürfen äußern.“
„Verfügt Albertus denn über solche Macht?“ wunderte ich mich.
„Er selbst vielleicht nicht“, schränkte Stefan ein. „Aber sein Vater schon. Außerdem hast du ja wohl selbst die Unterwürfigkeit bemerkt, die Albertus Bruder Heinrich gegenüber an den Tag legt. Er hat eben ein feines Gespür dafür, wem er sich andienen muss, um sich für künftige Führungsaufgaben zu empfehlen. Dir würde ich übrigens auch raten, dich vor ihm in Acht zu nehmen. Seine Großzügigkeit ist bei ihm nur ein Mittel, sich der Loyalität anderer zu versichern. Sobald er merkt, dass er dafür keine entsprechenden Gegenleistungen zu erwarten hat, kann er sehr ungemütlich werden.“
Ich dachte daran, wie feindselig mich nicht nur Bruder Heinrich, sondern auch Albertus bei meinem vorsichtigen Einwand gegen die Prozessführung angeschaut hatte. Auch wenn ich meine Handlungsweise nicht bereute, erhöhte dies für mich doch die Gefahr, selbst in das Visier von Bruder Heinrich zu geraten. Dies galt erst recht, wenn Lina durch die Folter dazu gezwungen würde, ihre Verbindung zu mir einzugestehen. Wenn die Häscher Bruder Heinrichs daraufhin auch mich ergreifen sollten, wären wir beide verloren. Schließlich konnten sie mich ja auch im Schlaf überraschen, so dass ich nicht mehr rechtzeitig an meine Notfalluhr herankäme.
Mit trockenem Mund fragte ich Stefan: „Hast du denn deine Vorgesetzten nicht von deiner Unschuld überzeugen können?“
Stefan lachte müde auf: „Wo denkst du hin? Das Ganze war doch nur ein Scheingefecht, bei dem das Urteil von vornherein feststand. Außerdem hat Albertus über seine Kanäle auch die Kurie in Rom von der Verhandlung in Kenntnis gesetzt. Das Provinzialkapitel hätte sich daher selbst dem Vorwurf der Ketzerei ausgesetzt, wenn es meinen Fall nicht zur endgültigen Klärung der Vorwürfe nach Rom weitergeleitet hätte.“
Wir hielten kurz inne. Eine Zeit lang war nichts zu hören als das kunstvolle Frühlingsgezwitscher der Amseln.
„Und was wirst du jetzt tun?“ fragte ich schließlich. „Meinst du, du musst doch wieder in eine andere Zeit fliehen?“
Wir hatten eine der beiden kürzeren Seiten des von dem Kreuzgang gebildeten Rechtecks erreicht. Stefan trat einen Schritt vor und warf einen nachdenklichen Blick auf den Turm der Klosterkirche, der von hier aus gut zu sehen war. „Vorläufig wohl nicht“, erwiderte er zögernd. „Allerdings bin ich jetzt nur noch ein Prior auf Abruf. Und wenn ich nicht sehr aufpasse, könnte es Albertus sogar gelingen, mich noch vor Beginn des Prozesses in Rom absetzen zu lassen. Damit würde meine Verankerung in dieser Zeit in der Tat ins Wanken geraten.“
Er sah mich ernst an. „Derzeit rechne ich täglich damit, nach Rom beordert zu werden. Spätestens dann werde ich vor der Wahl stehen, mir entweder an einem anderen Ort eine neue Existenz aufzubauen oder in eine andere Zeit auszuwandern. Beides wäre zwar mit zahlreichen Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten verbunden. Dennoch kann ich der Vorladung kaum Folge leisten. Ich glaube nicht, dass ich in Rom mit einem fairen Verfahren rechnen könnte. Die Richter dort sind wahrscheinlich längst entsprechend instruiert und würden sich meine Argumente gar nicht erst anhören.“
„Aber könnte es nicht als Schuldeingeständnis gewertet werden, wenn du nicht vor Gericht erscheinst?“ gab ich zu bedenken.
„Natürlich würde man mich in dem Fall schuldig sprechen“, bekräftigte Stefan. „Aber was bedeutet das schon? Letztlich ist das, was ich in dieser Welt geschaffen habe, für meine Ankläger ja ohnehin nicht greifbar. Was ich in meinen Predigten gesagt habe, ist größtenteils irgendwo schriftlich fixiert und wird damit auf die eine oder andere Weise in der Welt bleiben. Glücklicherweise können diese Leute ja nicht durch die Zeit reisen und alle Worte, die ihnen missfallen, einfach ausradieren oder ungesagt machen. Sonst würden wir wahrscheinlich längst in einer geistigen Einöde leben.“
Die Klosterglocke läutete zum dritten Tagesgebet und dem daran anschließenden Mittagessen. Angesichts der besonderen Beobachtung, unter der wir beide standen, hätten wir es uns nicht leisten können, uns weiterhin dem streng regulierten Tagesablauf zu entziehen.
Schweigend mischten wir uns daher unter die anderen Mönche, die sich mit uns zur Kirche begaben. Als Stefan sich in der ersten Reihe zum Gebet niederließ, war er schon wieder ganz der Prior, der seinen Mönchen mit gutem Beispiel vorangeht. Ich spürte, dass es für mich keinen „Stefan“ mehr geben würde. Jene Hülle aus einer früheren Zeit, die er mir zuliebe bei unserem Gespräch im Kreuzgang noch einmal übergestreift hatte, hatte er nun wohl für immer abgelegt.

English Version

Brother Eberhart’s Story/7: Under Suspicion

Stephen also faces allegations of heresy because of his unconventional views on God. Will he too have to embark on another flight through time?

Saturday, April 2, 1485, at night

If I had to live in this time forever, I would probably also move into a Beghard house. That way I could at least preserve a minimum of spiritual freedom.
But would I be able to withstand the pressure of the official church to abide by its rules in the long run? I don’t know. But what I do know for sure is that I would find the thought of someone constantly wanting to rule over my mind intolerable.
In fact, there is much more at stake here. Faith concerns the whole human being – the question of how we relate to the immense enigma that the cosmos represents for us. And can there be a greater crime against the spirit than the attempt to sacrifice this question on the altar of power and dogmatism?

  1. Under Suspicion

Stephen’s report about Cristina’s rescue had impressed me on the one hand. On the other hand, I wondered why he – given that he had such influence – had done nothing about Lina’s arrest.
So I asked cautiously: „Why did you actually stay away from the show trial against Lina? And couldn’t you have prevented it beforehand?“
Stephen sighed. „Unfortunately, I can’t have my eyes everywhere. Moreover, the events I told you about took place a year ago. Back then, Brother Henry wasn’t yet as powerful as he is today, and I hadn’t fallen from grace yet.“
I looked at him in amazement. „What do you mean by that – ‚fallen from grace‘?“
„Didn’t Albertus tell you about that?“ He pondered for a moment, then said, as if to himself: „No, indeed, such frankness is not like him. – He has accused me to the Provincial Superior of the Order of ‚reciting exaggerated and inappropriate subtleties, using inappropriate words and discussing improper questions‘. Allegedly, I would thereby ‚provoke divisions in our Order‘. That was also the reason why I was not there when you arrived at the monastery – I had to defend myself before the Provincial Chapter on these charges.“
„Does Albertus have such power?“ I wondered.
„He himself may not dispose of as much power as he would like,“ Stephen clarified. „But it’s different with his father. Besides, you have probably noticed how submissive Albertus is towards Brother Henry. He knows very well to whom he has to make himself useful in order to promote his career. By the way, you too should be wary of him. His generosity is only a means of ensuring the loyalty of others. As soon as he realises that he has nothing to expect in return, he can become very unpleasant.“
I thought of how hostilely not only Brother Henry but also Albertus had looked at me when I cautiously objected to the proceedings in the trial. Even though I did not regret what I had done, this increased the danger for me of being targeted by Brother Henry myself – especially if Lina should be forced by torture to admit her connection to me. If Brother Henry’s henchmen then seized me as well, we would both be lost. After all, they could also surprise me in my sleep, so that I would not be able to get to my emergency watch in time.
With a dry mouth I asked Stephen: „Have you not been able to convince your superiors of your innocence?“
Stephen laughed wearily: „What makes you think that? The whole thing was just a mock trial in which the verdict was fixed from the start. Moreover, Albertus also informed the Curia in Rome about the trial. The Provincial Chapter would therefore have exposed itself to the accusation of heresy if it had not forwarded my case to Rome for final clarification of the accusations.“
We paused for a moment. For a while there was nothing to be heard but the artful spring chirping of the blackbirds.
„And what are you going to do now?“ I finally asked. „Do you think you’ll have to escape to another time again?“
We had reached one of the two shorter sides of the rectangle formed by the cloister. Stephen took a step forward and glanced thoughtfully at the tower of the monastery church. „For the time being, I don’t think so,“ he replied hesitantly. „However, I can be relieved of my office at any time now. And if I’m not very careful, Albertus might even succeed in having me deposed before the trial in Rome begins. That would indeed give things a completely different turn.“
He looked at me gravely. „At present I expect daily to be ordered to Rome. Then, at the latest, I will be faced with the choice of either establishing a new existence in another place or emigrating to another time. Both would be connected with numerous difficulties and imponderables. Nevertheless, I can hardly comply with the summons. I do not believe that I could expect a fair trial in Rome. The judges there have probably long since been instructed accordingly and would not even listen to my arguments.“
„But couldn’t it be considered an admission of guilt if you don’t appear in court?“ I objected.
„Of course I would be found guilty in that case,“ Stephen affirmed. „But what does that matter? After all, what I have created in this world is intangible to my accusers anyway. What I have said in my sermons is for the most part written down somewhere and will thus remain in the world in one way or another. Fortunately, these people cannot travel through time and simply erase or render unsaid all the words they disapprove of. Otherwise we would probably have been living in a spiritual wasteland long ago.“
The monastery bell announced the third prayer of the day and the following lunch. In view of the special observation to which we were both subjected, we could not have afforded to keep evading the strictly regulated daily routine.
Therefore, we silently mingled with the other monks and made our way to the church with them. When Stephen initiated the prayer, he quickly transformed back into the exemplary Prior. I clearly felt that there would be no more „Stephen“ for me. That shell from an earlier time, which he had put on once more for my sake during our conversation in the cloister, he had now discarded for good.

Bilder / Images: Thomas Pautz: Kirchenglocke / Church bell (Pixabay; Ausschnitt / detail); Sonja Rieck: Klostergarten / Monastery garden (Pixabay)

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