Bruder Eberharts Geschichte/6: Wundersame Rettung / Brother Eberhart’s Story/6: Miraculous Rescue

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Stefan kommt auf die Begine zu sprechen, die Bruder Heinrich auf den Scheiterhaufen gebracht hat. Offenbar war hier manches anders, als es nach außen hin zu sein schien.

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Samstag, 2. April 1485, abends

Stefan hat noch einmal kurz bei mir vorbeigeschaut. Für morgen Vormittag hat er ein Treffen mit Lina arrangiert. Er meint, dass zu der Zeit die meisten bei der feierlichen Kirchweihmesse sein werden. Das sei eine gute Gelegenheit, um ungestört mit Lina zu reden. Mit dem Aufseher habe er auch schon gesprochen. Das sei ein ehemaliger Firmling von ihm – den habe er leicht davon überzeugen können, ein Auge zuzudrücken.
Ich muss gestehen, dass ich ein wenig enttäuscht bin. Insgeheim hatte ich doch gehofft, Lina schon heute sehen zu können. Je weniger Zeit uns bis Montag bleibt, desto schwieriger wird es, die Flucht zu organisieren. Und ob die Folterknechte ihr blutiges Werkzeug wirklich am Sonntag in der Ecke stehen lassen, ist auch noch nicht sicher. Bruder Heinrich scheint seine Marterlust ja gerade als Ausweis besonderer Gottesfürchtigkeit anzusehen!

  1. Wundersame Rettung

Angesichts dieser ungezügelten Gewalt gegen andere empfinde ich doch allmählich so etwas wie Heimweh nach meiner ehemaligen Gegenwart. Immerhin war ich dort den Mordbrennern nicht unmittelbar ausgesetzt und hatte auch als Schattenloser meine Nische gefunden. Musste es Stefan nicht ähnlich ergehen?
„Sag mal“, hatte ich ihn daher bei unserem Gespräch gefragt, „hast du eigentlich nie das Bedürfnis verspürt, noch einmal in deine ehemalige Heimat-Zeit zurückzureisen?“
Stefan blieb kurz stehen und ließ seinen Blick über den Kräutergarten wandern. „Ich weiß nicht … Vielleicht am Anfang, als ich noch nicht so gut in diese Zeit hineingefunden hatte. Aber je länger ich an diesem Scharnier der Zeiten gelebt habe, desto mehr habe ich von der Illusion gezehrt, dass sich alles ganz anders entwickeln könnte, als ich es kannte. Dadurch hatte ich schließlich eher Angst davor, in meine ehemalige Gegenwart zurückzureisen und dort doch wieder alles unverändert vorzufinden. Außerdem ist es ja auch so, dass man, wenn man sich erst einmal in einer Zeit beheimatet hat, auch eine gewisse Verantwortung für diejenigen trägt, mit denen man dort Umgang hat.“
„Dafür hast du dann aber die Verantwortung für die Zeit, aus der du hierher geflohen bist, aufgegeben“, gab ich zu bedenken.
Stefan seufzte. „Es wird sich immer ein Argument dafür finden, dass man in einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort mehr bewirken könnte. Aber ist nicht schon ein solches Denken menschenunwürdig – weil es die Hilfe, die man anderen im Alltag leisten kann, zum Gegenstand abstrakter Rechenoperationen macht? Immerhin konnte ich Bruder Heinrich im letzten Jahr, als er hier zum ersten Mal öffentlich gegen die Beginen gehetzt hat, sein Opfer noch aus der Hand schlagen.“
„Wie?“ rief ich aus, senkte meinen Ton aber sofort wieder. „Ich dachte, die Begine wäre damals auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.“
Stefan drehte sich um, um sicher zu sein, dass uns niemand zuhörte. „Was vor einem Jahr auf dem Scheiterhaufen verbrannt ist“, erklärte er mir dann im Flüsterton, „war lediglich ein als Begine verkleideter Strohsack. Der echten Begine – sie hieß Cristina – hatte ich vorher zur Flucht verholfen.“
„In eine andere Zeit oder nur an einen anderen Ort?“ fragte ich nach.
„An einen anderen Ort“, präzisierte Stefan. „Sie lebt heute in einer Stadt, die so weit von hier entfernt ist, dass eine Begegnung mit Menschen aus ihrer Vergangenheit so gut wie ausgeschlossen ist. Außerdem habe ich dir ja schon gesagt, dass meine eigenen Erfahrungen mich nicht gerade zu dem Schluss geführt haben, dass Zeitreisen dem inneren förderlich sind. Hinzu kommt, dass Cristina den Beginen nicht aufgrund widriger Umstände beigetreten war, sondern aus einer tief empfundenen geistigen Sehnsucht und einem intensiven Ringen mit dem Glauben heraus. Eben deshalb hatte sich der Zorn von Bruder Heinrich ja auch gerade gegen sie gerichtet.“
Ich musste an Mechildis denken. Ob Stefan ihr absichtlich nichts von dem Täuschungsmanöver erzählt hatte, um sie nicht zu gefährden? Oder wusste er schlicht nichts von ihrer Freundschaft zu Cristina?
Stefan betrat einen der Trampelpfade zwischen den Kräuterbeeten und zupfte zwei Blättchen von der Pfefferminzstaude ab. Eines reichte er mir, das andere steckte er sich selbst in den Mund.
Während sich der frühlingsfrische Minzgeschmack in meinem Mund ausbreitete, fuhr Stefan mit seinem Bericht fort. „Wie gesagt – ich hatte den Eindruck, dass eine Zeitreise Cristina von dem abgehalten hätte, was sie suchte. Außerdem wollte ich die Notfalluhr aber auch nicht ganz aus der Hand geben. Dadurch hätte ich mich dann doch zu sehr an diese Zeit gebunden. Somit hätte ich Cristina schon selbst in eine andere Zeit bringen und dann wieder hierher zurückkommen müssen. Ich bin mir aber gar nicht sicher, ob die Notfalluhr überhaupt darauf ausgelegt ist, zwei Personen auf einmal in eine andere Zeit zu bringen. – Hast du das schon ausprobiert?“
„Nein“, sagte ich rasch, „und ich hoffe, das wird auch nicht nötig sein.“
Stefans Bemerkung führte mir schlagartig die Schwachstellen in meinem Fluchtplan vor Augen. Was, wenn Linas Notfalluhr bei der Durchsuchung ihrer Kammer abhandengekommen wäre? Und selbst wenn dies nicht der Fall war: Wie sollte ich eigentlich unbemerkt in das Beginenhaus gelangen, um die Uhr an mich zu bringen?
Auch Stefan wirkte besorgt. „Heute denke ich, dass es trotz allem vielleicht besser gewesen wäre, Cristina in eine andere Zeit zu bringen. Ich habe wohl die Dynamik der Mordbrennerei unterschätzt, die Bruder Heinrich und seine Helfershelfer entfacht haben. Es mag ja sein, dass die geistigen Bedingungen für Cristinas Bedürfnisse hier günstiger sind als in einer anderen Zeit. Aber was nützen einem die schönsten geistigen Höhenflüge, wenn sie auf dem Scheiterhaufen enden?“
„Bist du dir eigentlich sicher, dass es wirklich niemand gemerkt hat, als statt der Begine ein Strohsack in Flammen aufgegangen ist?“ fragte ich nach.
Frische Schweißperlen glänzten auf Stefans Stirn. Dieses Mal waren sie wohl nicht allein der Sonne geschuldet. „Bruder Heinrich war zum Glück schon vorher abgereist“, erläuterte er. „Sonst wäre das Ganze wohl nicht so glatt über die Bühne gegangen. Er war im Groll von hier geschieden, weil ich für die Angeklagte etwas durchgesetzt hatte, was nach den Maßstäben dieser Zeit als Gnade gilt: vor dem Verbrennen erwürgt zu werden und dabei ein Tuch über den Kopf gehängt zu bekommen. Dadurch konnte niemand unser Täuschungsmanöver bemerken. Trotzdem wäre mein Plan natürlich nicht durchführbar gewesen, wenn der Henker nicht mitgespielt hätte.“
„Wie bitte?“ fragte ich ungläubig. „Er hat das Spiel durchschaut und trotzdem mitgemacht?“
Stefan nickte. Unwillkürlich tasteten seine Finger nach dem Kreuz, das er um den Hals trug. „Der Scharfrichter, den du gesehen hast, ist erst vor ein paar Monaten ernannt worden. Er hat das Amt von seinem Vater übernommen und ist jetzt begierig darauf, sich darin zu bewähren.“
Beim Gedanken an Lina, die zum Opfer dieser perversen Bewährung auserkoren war, begann mein Herz wild zu rasen. Unterdessen fuhr Stefan mit seinen Erläuterungen zu der Scharfrichter-Dynastie der Stadt fort: „Der Vater der jetzigen Henkers war sogar nach der Schein-Hinrichtung wochenlang zu mir in die Beichte gekommen, weil ihn die mordlüsternen Blicke der Zuschauer bis in den Schlaf verfolgt hatten. Er ist dann wie Cristina in eine andere Stadt gezogen und lebt dort jetzt in einer Gemeinschaft von Begarden – dem männlichen Äquivalent zu den Beginen.“
Während ein leichter Wind um unsere Wangen strich, hallte das Wort „Begarden“ in mir nach. Es weckte unbestimmte Assoziationen einer Gemeinschaft Gleichgesinnter in mir, die in das Haus des Geistes einziehen, um sich dort eine bessere Welt zu erträumen. Wahrscheinlich erinnerte es mich an „Kommunarden“.

English Version

Brother Eberhart’s Story/6: Miraculous Rescue

Stephen brings up the subject of the Beguine who had been put to the stake by Brother Henry. As it seems, things were quite different here than they appeared on the outside.

Saturday, April 2, 1485, in the evening

Stephen dropped in on me again briefly. He has arranged a meeting with Lina for tomorrow morning. He thinks that most of the people will be at the solemn Mass on the occasion of the church consecration festival at that time. That would be a good opportunity to talk to Lina undisturbed. Fortunately, the jailer is a former confirmand of his. So he could easily convince him to turn a blind eye.
To be honest, I am a little disappointed. Secretly, I had hoped to see Lina already today. The less time we have until Monday, the more difficult it will be to organise our escape. Moreover, it is not yet certain whether the torturers will really stay away from their bloody tools on Sunday. After all, Brother Henry seems to regard his lust for torture as a sign of particular godliness!

  1. Miraculous Rescue

In view of this unbridled violence against others, I am beginning to feel something like homesickness for my former present. After all, I was not directly exposed to the murderers there and had also found my niche as a shadowless person. Didn’t Stephen have to feel the same way?
„Tell me,“ I had therefore asked him during our conversation, „have you never felt the need to travel back to your former home time?“
Stephen stopped for a moment and let his gaze wander over the herb garden. „I don’t know … Maybe in the beginning, when I hadn’t found my way into this time very well yet. But the longer I lived at this hinge of time, the more I indulged in the illusion that everything could develop quite differently from what I knew. As a result, I was more afraid of travelling back to my former present and finding everything unchanged. Besides, once you’re at home in one time, you also have a certain responsibility for those you’re dealing with there.“
„But in return you have given up the responsibility for the time from which you fled to this place,“ I pointed out.
Stephen sighed. „No question, you can always argue that you could make more of a difference in another time or place. But isn’t such thinking already contrary to human dignity – because it turns the help you can give others in everyday life into an object of abstract arithmetic? After all, last year, when Brother Henry first publicly railed against the Beguines here, I was able to save his victim from his rage.“
„I beg your pardon?“ I exclaimed, but immediately lowered my tone again. „I thought the Beguine was burned at the stake.“
Stephen turned around to make sure no one was listening to us. „What was burnt at the stake last year,“ he then explained to me in a whisper, „was merely a sack of straw disguised as a Beguine. For the real Beguine – her name was Cristina – I arranged an escape beforehand.“
„To another time or just to another place?“ I asked.
„To another place,“ Stephen specified. „She now lives in a town so far away from here that an encounter with people from her past is as good as impossible. Apart from that, I have already told you that my own experiences have not exactly convinced me that time travelling is conducive to inner peace. What is more, Cristina had not joined the Beguines because of adverse circumstances, but out of a deeply felt spiritual longing and an intense preoccupation with faith. It was precisely for this reason that Brother Henry’s anger was directed at her.“
My thoughts drifted to Mechildis. Had Stephen deliberately refrained from telling her about the deception so as not to endanger her? Or did he simply not know about her friendship with Cristina?
Stephen stepped onto one of the paths between the herb beds and plucked two leaves from the peppermint that was freshly bursting out of the ground. One of them he handed to me, the other he put in his own mouth.
While the spring-fresh minty taste spread in my mouth, Stephen continued with his report. „As I said – I had the impression that time travelling would have kept Cristina from what she was looking for. But I also didn’t want to let the emergency watch completely out of my hands, since that would have tied me too much to this time. The only way out would have been to take Cristina to another time myself and then come back here again. But I’m not at all sure whether the emergency watch is designed to take two people to another time at once. – Have you tried that yet?“
„No,“ I said quickly, „and I hope that won’t be necessary either.“
Stephen’s remark abruptly made me realise the weaknesses in my escape plan. What if Lina’s emergency watch had been lost during the inspection of her chamber? And even if that wasn’t the case, how was I supposed to get into the Beguine house unnoticed in order to get hold of the watch?
Stephen also looked worried. „Today I think that, despite everything, it might have been better to take Cristina to another time. I probably underestimated the dynamics of the murderous frenzy unleashed by Brother Henry and his accomplices. It may well be that the spiritual conditions for Cristina’s needs are more favourable here than in another time. But what good are even the most beautiful spiritual flights of fancy if they end up at the stake?“
„Are you actually sure that no one noticed when instead of the Beguine a sack of straw went up in flames?“ I inquired.
Fresh beads of sweat glistened on Stephen’s forehead. This time they were probably not due to the sun alone. „Brother Henry had fortunately already left beforehand,“ he explained. „Otherwise the whole thing probably wouldn’t have worked out so smoothly. He had left here in a huff because I had obtained something for the accused that is considered a mercy by the standards of this time: being strangled before being burned and having a cloth hung over her head in the process. This way, no one could notice our deception. Nevertheless, of course, my plan would not have been feasible if the executioner had opposed to it.“
„Excuse me?“ I asked incredulously. „He saw through the game and still played along?“
Stephen nodded. Involuntarily, his fingers groped for the cross he wore around his neck. „The executioner you came across was appointed only a few months ago. He took over the office from his father and is now eager to prove himself in it.“
At the thought of Lina being chosen as the victim of this perverse display of bureaucratic strength, my heart began to beat wildly. Meanwhile, Stephen continued with his explanations of the town’s executioner dynasty: „The father of the current executioner had even come to me in confession for weeks after the mock execution because the murderous stares of the onlookers had haunted him in his sleep. Eventually, like Cristina, he moved to another town and now lives there in a community of Beghards – the male equivalent of the Beguines.“
While a gentle breeze stroked our cheeks, the word „Beghards“ echoed in my mind. It evoked vague associations in me of a community of like-minded people moving into the house of the spirit to work on the dream of a better world. Perhaps that was also because it reminded me of „communards“.

Bilder / Images: François Chifflart (1825 – 1901): Jeanne d’Arc / Joan of Arc (Wikimedia commons); Peggychoucair: Kreuzgang / Cloister (Pixabay)

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