Stefan alias Bruder Eberhart erzählt Theo, wie es ihm nach der schändlichen Tat der „Schwarzstrümpfe“ ergangen ist. Manches an seiner Geschichte kommt Theo seltsam bekannt war.
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Freitag, 1. April 1485, nachts
Warum habe ich eigentlich nichts gesagt, als Stefan von seinem Gang durch den Rotlichtbezirk erzählte? Weshalb habe ich ihm nicht gestanden, dass seine Erlebnisse fast bis ins Detail dem entsprachen, was mir selbst einst widerfahren war?
Ich glaube, es lag an dem Schwindelgefühl, das mich in dem Moment überkam. Auf einmal sah ich wieder das Mädchen mit den grünen Augen vor mir, diesen Augen, in denen ich vor so langer Zeit versunken war. Ich hatte das Gefühl, im Grunde nie wieder aus dem Strudel aufgetaucht zu sein, in den ich damals hinabgezogen worden war.
Bei dem Gedanken aber, dass Stefan in denselben Strudel hineingeraten war und dass ich ihm nur deshalb wieder begegnet bin, begann sich alles um mich zu drehen. Ich musste mich sogar kurz an einer der Säulen auf dem Kreuzgang abstützen, um nicht den Halt zu verlieren.
- Das Mädchen mit den grünen Augen
Stefan war so versunken in seine Erzählung, dass er meinen bestürzten Blick gar nicht bemerkte. Vorsichtig tastete er sich durch den Wald seiner Erinnerungen. In Gedanken durchlebte er noch einmal den schicksalhaften Abend, der ihn in das mir nur allzu gut bekannte Rotlichtviertel am Hafen geführt hatte.
„Am Ende bin ich“, erzählte er weiter, „einfach mitten durch den Rotlichtbezirk hindurchgegangen. Als mich dort jedoch von allen Seiten die grellbunt bemalten Damen ansprachen, die in ihrer knappen Bekleidung dem nächsten Freier entgegenbibberten, habe ich mich doch recht unwohl gefühlt in meiner Haut. Deshalb bin ich in eine der Seitengassen ausgewichen, wo die Lichter nicht ganz so aufdringlich zuckten wie in der Hauptstraße.
Je weiter ich ging, desto dichter wurde der Nebel, bis er schließlich die Leuchtreklamen ganz verschluckt hatte. Zuletzt verklang auch das werbende Flüstern der frierenden Damen. Es war ein bisschen wie in den Bergen, wenn man die Wolkenwand durchwandert, die das Tal vom Gipfel trennt. Nur meine unsicher tastenden Schritte, die auf dem feuchten Kopfsteinpflaster widerhallten, durchbrachen dieses eigenartige Gefühl von Schwerelosigkeit, das mich mehr und mehr erfüllte.“
Stefan machte eine kurze Pause. Dabei sah er jedoch nicht mich an, sondern ließ seinen Blick über den Kräutergarten in der Mitte des Klosterhofs wandern, wo die Bienen der klostereigenen Imkerei eifrig die ersten Blüten umschwirrten. Ich war schon ganz angespannt, als er den Faden seiner Erzählung wieder aufnahm. Natürlich ahnte ich, was nun kommen würde. Schließlich hatte ich selbst ja etwas ganz Ähnliches erlebt.
„Plötzlich hat mir durch den Nebel eine junge Frau zugewunken“, fuhr er fort. „Seltsamerweise kann ich mich an ihr Aussehen so gut wie gar nicht mehr erinnern – nur dass sie grüne Augen hatte, weiß ich noch. Damals hatte ich allerdings das Gefühl, ich würde sie schon ewig kennen. Obwohl ich bis dahin nicht sonderlich für Frauen interessiert hatte, bin ich ihr ohne jedes Zögern gefolgt. Durch einen langen, dunklen Flur sind wir an eine altersschwache Treppe gelangt, über die sie mich ins obere Stockwerk geführt hat.
Am Ende fand ich mich in einer Kammer mit einer – wie mir damals schien – altmodischen Einrichtung wieder. Dort hat das Mädchen mich mit der größten Selbstverständlichkeit ausgezogen. Dann hat sie mich liebkost, bis ich einschlief wie ein Säugling, dem die Mutter die Brust gereicht hat.
Als ich wieder erwachte, war die grünäugige Schönheit nicht mehr da. Ich dachte zuerst, sie wäre nur kurz nach draußen gegangen und würde gleich wiederkommen. Sie blieb aber verschwunden. Während ich auf sie wartete, fiel ich in eine Art Halbschlaf. Im Traum sah ich mich auf einer abschüssigen Eisfläche spazieren, die – wie ich sicher wusste – am Ende meines Weges einbrechen würde. Da hat mich eine ungeheure Unruhe gepackt. Hals über Kopf bin ich aus dem Bett gesprungen und habe meine Kleider zusammengerafft, als würde ich von jemandem verfolgt.
Durch die Tür der Kammer gelangte ich direkt an den Fluss. Zunächst habe ich angenommen, ich wäre durch die falsche Tür gegangen. Also bin ich wieder umgekehrt, um den richtigen Ausgang zu suchen – aber da war das Haus bereits verschwunden. Möglich, dass ich mich in meinem Dämmerzustand schon zu weit davon entfernt hatte und dann nicht mehr zurückgefunden habe. Vielleicht hat mich auch der Vollmond verwirrt, der mittlerweile den Nebel verscheucht hatte. Jedenfalls war plötzlich nichts mehr von dem Rotlichtbezirk zu sehen.“
Ein Mönch kam uns auf dem Kreuzgang entgegen. Abrupt hielt Stefan in seiner Rede inne. Unser Mitbruder beäugte uns argwöhnisch – offenbar hatte er gemerkt, dass wir unser Gespräch seinetwegen unterbrochen hatten. Dennoch grüßte er seinen Prior mit einem ehrfürchtigen Kopfnicken. Dann verschwand er im Inneren des Klosters.
Stefan wartete, bis der Mönch sich weit genug von uns entfernt hatte. Als er weiterredete, senkte er unwillkürlich die Stimme: „Es war eine dieser Vollmondnächte, in denen die Schatten der Dinge sich zu verselbständigen und die Verhältnisse zwischen beiden sich umzukehren scheinen. So hat es nicht lange gedauert, bis ich begriff, woher diese seltsame Unruhe in mir kam. Als ich an den breiten Mauern des Werftgeländes vorbeiging, war es nicht mehr zu übersehen. Der Vollmond schien mitten durch mich hindurch: Ich hatte keinen Schatten mehr!“

English Version
Brother Eberhart’s Story/3: The Girl with the Green Eyes
Stephen, alias Brother Eberhart, tells Theo how his life has turned out after the shameful deed of the „Black Stockings“. Certain elements of his story seem disturbingly familiar to Theo.
Friday, April 1, 1485, at night
Why didn’t I actually say anything when Stephen told me about his walk through the red light district? Why didn’t I confess to him that his account corresponded almost in every detail to what I had once experienced myself?
I think it was because of the dizziness that overcame me at that moment. Suddenly I saw the girl with the green eyes before me again, those eyes in which I had sunk so long ago. I had the feeling that I had never really emerged from the maelstrom into which I had been sucked back then.
At the thought that Stephen had fallen into the same maelstrom and that I had only met him again because of that, everything began to spin around me. I even had to hold on to one of the columns in the cloister for a moment so as not to lose my footing.
- The Girl with the Green Eyes
Stephen was so immersed in his story that he didn’t even notice my dismayed look. Carefully, he felt his way through the forest of his memories. In his mind, he experienced once again the fateful evening that had led him to the red light district at the harbour, which I knew only too well.
„In the end,“ he continued, „I just walked right through the middle of the red light district. However, when the garishly painted ladies approached me from all sides, jittering in their skimpy dresses as they waited for the next john, I felt quite uncomfortable in my skin. That’s why I turned into one of the side streets, where the lights were not as obtrusive as in the main street.
The further I walked, the thicker the fog became, until it finally swallowed the neon lights completely. Finally, even the wooing whispers of the freezing ladies ebbed away. It was a bit like in the mountains when you walk through the wall of clouds that separates the valley from the summit. Only my groping footsteps, echoing on the damp cobblestones, broke through this strange feeling of weightlessness that was spreading more and more inside me.“
Stephen paused for a moment. He did not look at me, however, but let his gaze wander over the herb garden in the middle of the courtyard, where the bees of the monastery’s own apiary were busily buzzing around the first flowers. Eagerly I waited for him to pick up the thread of his account again. Of course I guessed what was to come next. After all, I had experienced something very similar myself.
„Suddenly a young woman beckoned to me through the mist,“ he continued. „Strangely enough, I can hardly recall her face. All I remember is that she had green eyes. At the time, however, I felt like I had known her for ages. Although I had not been particularly interested in women until then, I followed her without any hesitation. Through a long, dark corridor we reached a decrepit staircase, over which she led me to the upper floor.
Eventually I found myself in a chamber with furnishings that seemed old-fashioned to me at the time. There the girl undressed me quite naturally. Then she caressed me until I fell asleep like an infant to whom the mother had given the breast.
When I woke up again, the green-eyed beauty was no longer there. At first I thought she had only gone outside for a moment and would be right back. But she remained missing. While I waited for her, I fell into a kind of half-sleep. I dreamt I was walking on a sloping surface of ice which – as I knew for sure – would collapse at the end of my path. At that point, a tremendous restlessness seized me. Head over heels, I jumped out of bed and gathered up my clothes as if I were being pursued by someone.
The door of the chamber led directly to the river. At first I assumed I had chosen the wrong door. So I turned back to look for the right exit – but by then the house had already disappeared. Possibly, in my twilight state, I had already strayed too far from it and then couldn’t find my way back. I could also have been confused by the full moon, which in the meantime had chased away the fog. In any case, all of a sudden there was nothing left of the red light district.“
A monk came towards us in the cloister. Abruptly, Stephen paused in his speech. Our confrere eyed us suspiciously – obviously he had noticed that we had interrupted our conversation because of him. Nevertheless, he greeted his Prior with a reverent nod. Then he disappeared inside the monastery.
Stephen waited until the monk had moved far enough away from us. As he continued to speak, he involuntarily lowered his voice: „It was one of those full moon nights when the shadows seem to take on a life of their own and the relationships between objects and reflections appear to be reversed. So it didn’t take long for me to find out the reason for this strange restlessness inside me. As I walked past the broad walls of the shipyard, it was impossible to ignore. The full moon shone right through me: I had lost my shadow!“
Bilder / Images: Jahidul Islam Jahid: Frau in Burggang / Woman in castle passage (Pixabay); ID 5187396: Glitch Art: Verzerrung / Distortion (Pixabay)