Endlich erkennt Theo, warum ihm Bruder Eberhart so bekannt vorkommt! Gleichzeitig versteht er, weshalb ihm die damit verbundenen Erinnerungen unangenehm waren.
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Freitag, 1. April 1485, abends
„Notfalluhr …“ Als der Mann, der heute Morgen noch „Bruder Eberhart“ für mich war, dieses Wort aussprach, stand für ein paar Sekunden die Zeit still.
Ich weiß nicht, ob ich mich in dem Moment gefragt habe, woher er von der Notfalluhr wusste und inwieweit er über ihre Funktionsweise im Bilde war. Ich erinnere mich auch nicht daran, ob ich mich in meiner Verblüffung zum Echo seiner Worte gemacht habe oder ob diese einfach ein paar Augenblicke lang in mir nachgehallt sind.
Wenn ich jetzt an diesen Moment außerhalb der Zeit zurückdenke, ist es mir, als würde ich mich an einen Traum erinnern – an einen dieser Träume, in denen etwas von einer Sekunde zur anderen seine Gestalt verändert. Dabei weiß ich natürlich, dass das Ungeheuerliche keineswegs ein Traum war. Anders als im Schlaf, wo einem das Absonderlichste als das Normalste von der Welt erscheint, fühle ich mich daher noch immer als Fremder in meiner eigenen Wirklichkeit.
- Die Schwarzstrümpfe
Für einen endlosen Augenblick blieben meine Augen fest mit denen des Priors verwoben. Ich versank darin wie in einem Strudel, der mich auf den Grund der Zeit hinabzog, in eine Vergangenheit, die für mich unendlich weit zurücklag.
In jener fernen Vergangenheit war ich ein Schuljunge, ich gehörte einer Bande an, die sich „Die Schwarzstrümpfe“ nannte und ihre Stärke dadurch demonstrierte, dass sie Schwächere mit Fäusten traktierte. Eines unserer Opfer war unser Mitschüler Stefan, der einmal mein bester Freund gewesen war.
In den Augen des Priors sah ich, wie ich diesen Jungen zu Boden warf und wie unsere Bande sich im Kreis um ihn aufstellte, so dass unsere Beine ihn wie ein schwarzes Spalier umstanden. Und ich sah auch, wie wir alle unser Geschlecht entblößten und unseren Urin als eine Fontäne der Schande auf den am Boden Liegenden herabregnen ließen.
Je länger ich aber in die Augen des Priors schaute, desto mehr vermischten sich die Gesichtszüge dieses Jungen mit denen des Mannes, der mir gegenüberstand.
„Stefan?“ fragte ich schließlich zögernd. „Aber … wie ist das möglich?“
„Warum sollte es nicht möglich sein?“ fragte er ruhig zurück. „Du bist doch auch hier.“
Eine Zeit lang gingen wir schweigend nebeneinander her. Stefan gönnte sich die kleine Rache, mich für eine Weile den in mir aufsteigenden Bildern zu überlassen. Dann aber legte er doch wieder jene Milde an den Tag, die er sich als Klostervorsteher angeeignet hatte.
An die unausgesprochen bleibenden Erinnerungen anknüpfend, begann er, seine Geschichte zu erzählen: „Ich weiß natürlich, was dir jetzt durch den Kopf geht. Wie du dir denken kannst, habe auch ich dieses schmachvolle Ereignis bis heute nicht vergessen. Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins, der völligen Hilflosigkeit – das war ein echtes Trauma für mich. Lange Zeit habe ich mich danach nicht mehr unter Menschen getraut. Obwohl meine Eltern mich an einer anderen Schule angemeldet hatten, musste ich mich regelmäßig morgens übergeben und konnte den Unterricht nur sporadisch besuchen. Am Ende des Jahres bin ich natürlich sitzengeblieben, aber das war mir ganz egal.“
„Seltsam“, merkte ich an. „Ich hatte dich ganz anders in Erinnerung. Warst du nicht immer ein Musterschüler, mit Bestnoten in allen Fächern?“
Stefan nickte melancholisch. „Vor jenem Ereignis schon. Danach habe ich aber jedes Vertrauen zu mir und anderen verloren. Und dann setzt eben der typische Teufelskreis ein: Je weniger du selbst in deine Fähigkeiten vertraust, desto weniger trauen dir auch die anderen zu – was sich dann wieder negativ auf dein Selbstvertrauen auswirkt.“
Er fuhr sich durch seinen Haarkranz, als wollte er die unangenehmen Erinnerungen verscheuchen. „Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn mein Vater damals nicht eine Auslandstätigkeit angenommen hätte. Die fremde Sprache, die unbekannte Kultur, das neue Umfeld – all das hat mir geholfen, meine Ängste zu überwinden und mich wieder ein Stück weit für andere zu öffnen. Bald habe ich es auch wieder geschafft, regelmäßig zur Schule zu gehen. Partys, Jahrmärkte oder andere Ereignisse, bei denen viele Menschen zusammenkommen, waren aber nach wie vor eine unüberwindbare Hürde für mich.“
Die Sonne stand jetzt schon so hoch am Himmel, dass sie den gesamten Kräutergarten mit ihren Strahlen durchdrang. Es wurde mir allmählich zu warm in dem dichten Umhang meines Skapuliers, doch traute ich mich nicht, es einfach abzulegen. Für einen Mönch gehörte sich so etwas nicht, und ich war mir nicht sicher, ob wir nicht vielleicht von irgendwoher beobachtet wurden.
Stefan sog die würzige Frühlingsluft ein. Ausatmend sagte er: „Nach dem Ende meiner Schulzeit hat mein Vater mich für ein halbes Jahr zurück in die Stadt meiner Kindheit geschickt. Er meinte, dass ich den Angststrudel, als der sie in meiner Erinnerung präsent war, auf diese Weise am ehesten überwinden könnte.
Die Idee war, dass ich ein Praktikum in der Zentrale jener Bank absolvieren sollte, in der mein Vater mittlerweile zum Leiter der Auslandsabteilung aufgestiegen war. Die Aussicht auf eine macht- und verantwortungsvollere Position würde mir, so hoffte mein Vater, zu mehr Sicherheit im Umgang mit mir selbst und anderen verhelfen.
Natürlich habe ich mich nach Kräften bemüht, meinen Vater nicht zu enttäuschen. Nach außen hin habe ich wohl auch einen eifrigen und wissbegierigen Eindruck gemacht. Alle privaten Einladungen, die ich als Sohn eines so bedeutenden Mitarbeiters der Bank erhielt, habe ich aber konsequent ausgeschlagen. Stattdessen habe ich mir angewöhnt, halbe und manchmal auch ganze Nächte lang ziellos in der Stadt umherzustreunen – am liebsten in dunklen, abgelegenen Gassen.
Auf einer dieser nächtlichen Wanderungen bin ich ins Hafenviertel geraten. Der Nebel war in jener Nacht so dicht, dass ich mich hoffnungslos in den verwinkelten Gassen verirrte. Wieder und wieder bin ich an den Ausgangspunkt zurückgelangt. So sehr ich auch versuchte, den gierig blinkenden Reklamen und den irrlichternden Fenstern der zahlreichen Bordelle zu entgehen – mein Weg endete immer im Rotlichtbezirk.“
Ich erschrak heftig, als Stefan bei diesem Teil seiner Erzählung angelangt war. Ich fühlte mich, als würde er meine eigene Geschichte erzählen.

English Version
Brother Eberhart’s Story/2: The Black Stockings
Finally Theo realises why Brother Eberhart looks so familiar to him! At the same time, he understands why the associated memories made him feel uncomfortable.
Friday, April 1, 1485, in the evening
„Emergency watch …“ When the man who until this morning was „Brother Eberhart“ to me uttered this word, time stood still for a few seconds.
I don’t know whether I asked myself at that moment how he knew about the emergency watch and to what extent he was aware of how it worked. I also don’t remember if I echoed his words in my stupefaction or if they simply resonated within me for a few moments.
When I think back to that moment outside of time now, I feel as if I am recalling a dream – one of those dreams in which something changes shape from one second to the next. Of course, I know that the incredible was not a dream at all. Unlike in sleep, where the most bizarre occurrences appear to us as the most normal thing in the world, I therefore still feel like a stranger in my own reality.
- The Black Stockings
For an endless moment, my eyes remained firmly interwoven with those of the Prior. I sank into them as if in a maelstrom that pulled me down to the bottom of time, into a past that was infinitely far away.
In that distant past, I was a schoolboy, I belonged to a gang that called themselves „The Black Stockings“ and demonstrated their strength by maltreating the weaker ones with their fists. One of our victims was our classmate Stephen, who had once been my best friend.
In the mirror of the Prior’s eyes I saw how I threw this boy to the ground and how our gang formed a circle around him so that our legs surrounded him like a black cordon. And I also saw how we all exposed our private parts and let our urine rain down as a fountain of shame on the one lying on the ground.
But the longer I looked into Prior’s eyes, the more this boy’s features blended with those of the man standing opposite me.
„Stephen?“ I finally asked hesitantly. „But … how is that possible?“
„Why shouldn’t it be possible?“ he asked back calmly. „After all, you are here too.“
For a while we walked side by side in silence. Stephen allowed himself the small revenge of abandoning me for a while to the images rising in me. Then he returned to the mildness he had adopted as the head of the monastery.
Taking up the unspoken memories, he began to tell his story: „Of course I know what is running through your mind now. As you can imagine, I too have not forgotten that shameful incident to this day. This feeling of being at the mercy of others, of complete helplessness – that was a real trauma for me. For a long time, I didn’t dare go out among people after that. Although my parents had enrolled me at another school, I was regularly throwing up in the morning and could only attend classes sporadically. So I failed almost every exam, but I didn’t care at all.“
„That’s not like you at all,“ I remarked. „I had a completely different image of you. Weren’t you always a straight-A student, with top marks in all subjects?“
Stephen nodded melancholically. „In fact, that’s how it was before that incident. But after that I lost all confidence in myself and others. And in such a situation, the typical vicious circle sets in: The less you believe in your abilities, the less others believe in you – which then again has a negative effect on your self-confidence.“
He ran his fingers through his hair as if to chase away the unpleasant memories. „Who knows what would have become of me if my father hadn’t gone to work abroad. The foreign language, the unfamiliar culture, the new environment – all that helped me overcome my fears and open up a bit to others again. Soon I also managed to go to school regularly again. Parties, fairs or other events where many people come together, though, were still an insurmountable hurdle for me.“
The sun was already so high in the sky that it penetrated the entire herb garden with its rays. I was beginning to feel too warm in my thick cloak, but I didn’t dare simply take it off. It was not proper for a monk, and I was afraid we might be observed from somewhere.
Stephen took a deep breath of the spicy spring air. Exhaling, he said: „After I had finished school, my father sent me back to the town of my childhood for half a year. He thought that this would be the best way for me to overcome the vortex of fear as which the town was present in my memory.
I was to do an internship at the head office of the bank where my father was in charge of the foreign department. The prospect of a more powerful and responsible position would, as my father hoped, help me to feel more confident in dealing with myself and others.
Of course, I did my best not to disappoint my father. To the outside world, I probably also made an eager and inquisitive impression. However, I consistently declined all private invitations that I received as the son of such an important employee of the bank. Instead, I got into the habit of wandering aimlessly through the town at night – preferably in dark, secluded alleys.
On one of these nocturnal walks, I stumbled into the harbour district. The fog was so thick that I got hopelessly lost in the narrow alleys. Again and again I got back to the starting point. No matter how hard I tried to avoid the greedily flashing advertisements and the wooing windows of the numerous brothels – my way always ended in the red light district.“
I shuddered violently when Stephen reached this part of his account. I felt as if he were telling my own story.
Bilder / Images: Peter H. (Tama66): Kreuzgang / Cloister (Pixabay); Prawny: Buntes Aquarell / Colourful watercolour (Pixabay; Ausschnitt/detail)