Der Hexenprozess/5: Die Nadelprobe / The Witch Trial/5: The Needle Test

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Eine Hexenprobe soll den endgültigen Beweis für Linas Schuld liefern. So muss die scheinbare Hexe eine äußerst demütigende Prozedur über sich ergehen lassen.

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Freitag, 1. April 1485, morgens

Irgendwann hat mal jemand zu mir gesagt, die Inquisition sei zwar eine schreckliche Sache gewesen – wenigstens habe sie aber die Idee fester Verfahrensregeln in die Strafgerichtsbarkeit eingeführt.
Mit anderen Worten: Der Inhalt war schlecht, die Form aber gut.
Wenn ich mir die Prozess-Farce vor Augen führe, deren Zeuge ich hier geworden bin, frage ich mich, ob nicht das genaue Gegenteil der Fall ist. Muss nicht die Sakralisierung bestimmter Abläufe zwangsläufig dazu führen, dass die Gerechtigkeit unter die Räder kommt? Hat dies nicht unausweichlich zur Folge, dass der Zweck, dem die formalisierten Prozeduren der Idee nach dienen sollen – die Wahrheitssuche – ad absurdum geführt wird?
Sind die Fragen von Recht und Unrecht, Wahrheit und Lüge, Schuld und Sühne nicht viel zu komplex, als dass sie sich im Korsett ritualisierter Gerichtsverfahren entfalten könnten oder gar klären ließen? Provoziert dies nicht sogar die Gefahr der Anwendung fragwürdiger Mittel, durch die zwar der Form Genüge getan, das Recht – dessen Durchsetzung der Prozess doch eigentlich sicherstellen soll – aber mit Füßen getreten wird?

  1. Die Nadelprobe

Für die Durchführung der Hexenprobe rief Bruder Heinrich zunächst einen der beiden Bewacher Linas zu sich an den Richtertisch. Nachdem er dem Schergen seine Anweisungen gegeben hatte, wandte er sich wieder an die Prozessbeobachter: „Für das, was nun folgt, müssen wir uns des besonderen Unterstützung des Herrn versichern. Ihr müsst nämlich wissen, dass der böse Feind bei den Hexenproben seinen Buhlen nicht nur Beistand zu leisten pflegt, sondern für gewöhnlich auch die Sinne der Beobachter zu verwirren sucht. So lasset uns also beten, wie unser Schöpfer selbst es uns gelehrt hat!“
Mit gesenktem Haupt murmelten alle Anwesenden das Vaterunser. Danach hielt Bruder Heinrich zunächst einen kurzen akademischen Vortrag über Arten, Sinn und Ablauf von Hexenproben. Zum Schluss erläuterte er die von ihm ausgewählte Probe: „Die Nadelprobe, deren Zeugen Ihr nun gleich sein werdet, hat gegenüber der Wasser- und der Feuerprobe den Vorteil, einfach und an jedem Ort durchführbar zu sein. Sie beruht auf der Erkenntnis, dass der böse Feind seine Buhlen durch ein stigma diabolicum zu kennzeichnen pflegt. Ein solches Hexenmal ist daran zu erkennen, dass die Hexe an dieser Stelle völlig unempfindlich ist und dass kein Blut fließt, wenn man in es hineinsticht.“
Auf ein Zeichen Bruder Heinrichs machten sich nun die beiden Schergen über Lina her. Einer hielt sie von hinten fest, während der andere ihr das am Rücken zusammengeschnürte Hemd öffnete und herunterstreifte. Da der Rosenkranz mit dem daran befestigten Kreuz dabei zu Boden fiel, hängten sie ihr diesen wie eine Kette um den Hals. Dadurch baumelte das Kreuz, auf dem sich deutlich die Konturen des gemarterten Christus abzeichneten, nun zwischen ihren entblößten Brüsten herab.
Unwillkürlich musste ich bei diesem Anblick an Mechildis denken. Zu meinem Erstaunen verursachte mir das keinerlei Gewissensbisse. Anstatt mich für meine Untreue gegenüber Lina zu schämen, erfüllte mich der Gedanke an das Zusammensein mit Mechildis mit einer mir selbst ganz unerklärlichen Zuversicht, das Ganze zu einem guten Ende bringen zu können.
Lina leistete zwar heftigen Widerstand. Gegen die vereinte Kraft der beiden hochgewachsenen Männer war sie jedoch machtlos. Anfangs gelang es ihr wenigstens noch, ihre Arme schützend vor ihren Brüsten zu verschränken. Als ihr jedoch von zwei Seiten die Hände nach hinten gerissen wurden, zappelte sie schließlich nur noch wie ein gefangener Fisch.
„Lasst mich los!“ rief sie. „Ich habe doch nichts getan!“ Aber ihre Rufe waren ebenso sinnlos wie die Schreie von zur Schlachtbank geführten Tieren. Akribisch führten die Schergen den ihnen erteilten Befehl aus.
Von seinem Richterthron herab ermahnte sie Bruder Heinrich: „Je länger du dich wehrst, desto länger dauert die Prozedur!“
Den Ratsherren erläuterte er: „Sie muss stillhalten, sonst ist das Ergebnis nicht eindeutig.“
Lina blickte mich erneut voller Verzweiflung an. Ich begriff, dass ich nun etwas unternehmen musste, so riskant es auch sein mochte. So trat ich vor und fragte den Prediger, akademisches Interesse heuchelnd: „Verzeiht die Unterbrechung, hochgeschätzter Bruder Heinrich! Aber ist es nicht so, dass zwischen Befragung und Hexenprobe der Beklagten Zeit zur Besinnung gegeben werden sollte, damit sie ihre Taten nach Möglichkeit freiwillig bekenne?“
Die Ratsherren und die Mönche blickten mich mit deutlicher Missbilligung an. Bruder Heinrich selbst reagierte erstaunt, war sich jedoch seiner Sache zu sicher, um sich von meinem Einspruch aus der Fassung bringen zu lassen: „Ich wusste gar nicht, dass sich unter uns noch weitere Spezialisten für das Hexenwesen befinden“, bemerkte er spitz. „Gerne werde ich mit Euch in einen Diskurs über die Vor- und Nachteile des Verfahrens eintreten. Doch gestattet bitte, dass ich zunächst diesen Teil des Prozesses zu Ende bringe.“
Damit richtete er das Wort an die beiden neben mir stehenden Mönche, die mit unverhohlener Gier auf Linas nackten Oberkörper starrten: „Leider muss ich Euch bitten, den Wachen bei ihrem Werk behilflich zu sein. Die Beklagte könnte unsere Blicke sonst mit ihrer Gegenwehr von dem Hexenmal ablenken.“
Als hätten sie nur auf diese Gelegenheit gewartet, das vor ihnen glänzende nackte Fleisch zu befingern, eilten die Mönche zu Lina und schraubten ihre Hände um deren Arme.
Jetzt gab Lina ihren Widerstand endgültig auf. „Sehr gut!“ lobte Bruder Heinrich. „Die Macht der heiligen Hände ist eben größer als die der stärksten Hexenarme.“
An die beiden Schergen gewandt, verfügte er dann: „Sucht nun nach den Leberflecken auf dem Rücken der Hexe. In jeden davon sollt ihr mit der Nadel hineinstechen, die auf diesem Tisch bereitliegt.“
Linas Rücken kannte ich nur zu gut. Ich wusste, dass es dort ein ganzes Meer von Leberflecken gab! Mit bürokratischer Sorgfalt tasteten die Schergen sich von einem zum anderen vor und durchbohrten die kleinen braunen Punkte mit ihrer Nadel. Lina zuckte jedes Mal heftig zusammen, zuweilen entfuhr ihr auch ein erstickter Schrei.
Schließlich waren alle Leberflecken auf dem Rücken abgearbeitet. Auf jeden Einstich hatte Lina eine mehr oder wenige heftige Reaktion gezeigt. Missmutig schüttelte Bruder Heinrich den Kopf. „Das stigma diabolicum scheint sich doch an einer anderen Stelle zu befinden. Vielleicht hat der böse Feind seine Buhle ja auch vorne, an seiner Lieblingsstelle, mit einem Mal versehen.“
Bruder Heinrichs Helfershelfer setzten den Wink umgehend in die Tat um. Routiniert gingen sie dazu über, die Brust der Angeklagten zu durchstechen. Lina versuchte daraufhin zwar noch einmal, sich ihren Zugriff zu entziehen, doch gegen die geballte Gehilfenmacht hatte sie keine Chance. So musste sie auch diesen demütigendsten Teil der Prozedur klaglos über sich ergehen lassen.
Kein noch so kleiner Leberfleck wurde von den Gerichtsdienern ausgelassen. Auch in die kleine Warze unterhalt ihres rechten Busens stachen sie dienstbeflissen hinein. Jedes Mal zuckte Lina zusammen, auch wenn die Heftigkeit ihrer Reaktionen – wohl als Folge einer allmählichen Gewöhnung des Körpers an den immer gleichen Schmerz – mit der Zeit abnahm.
Als die Gehilfen sich daranmachten, auch Linas Unterleib zu entblößen, wurde die Öffentlichkeit der Prozedur anscheinend selbst dem Prediger zu heikel. „Haltet ein!“ gebot er mit hoheitsvoller Geste. „Ich fürchte fast, wir müssen den Prozess an dieser Stelle unterbrechen. Es ist wohl davon auszugehen, dass es sich bei dieser Hexe um eine besondere Vertraute des Bösen handelt.“
An die Ratsherren gewandt, führte er aus: „Es ist nämlich so, dass der böse Feind das stigma diabolicum nur solchen Hexen einbrennt, bei denen er sich nicht sicher ist, ob sie ihm treu ergeben sind. In unserem Fall scheint er von der Treue seiner Buhle voll und ganz überzeugt zu sein – und wirklich enttäuscht sie ihn ja auch nicht! Ich schlage daher vor, dass wir nun die peinliche Befragung einleiten. Anders scheint in diesem hartnäckigen Fall die Macht des Bösen nicht gebrochen werden zu können.“
Dies war das Stichwort, auf das der Mann mit der grellbunten Kleidung gewartet hatte. Während Lina ihr Hemd wieder zuschnüren durfte, verließ er die Ecke, in der er als Scharfrichter hatte ausharren müssen, und trat unaufgefordert nach vorn. Sein Schritt war langsam, wie bei einem Jäger, der sein Opfer bereits sicher in der Falle weiß und nun schon mehr an die Arbeit des Tötens und Ausweidens der Beute denkt als an die Lust der Jagd.
Entsprechend schleppend klang seine Stimme, als er Lina halblaut zuraunte: „Du sollst so dünn gefoltert werden, dass die Sonne durch dich hindurchscheint.“

English Version

The Witch Trial/5: The Needle Test

A witch test is supposed to provide the final proof of Lina’s guilt. So the alleged witch has to endure an extremely humiliating procedure.

Friday, April 1, 1485, morning

Someone once said to me that the Inquisition was, of course, a terrible thing – but at least it introduced the idea of fixed rules of procedure into criminal justice.
In other words: the content was bad, but the form was good.
When I consider the farce of a trial I have witnessed here, though, the question arises as to whether the exact opposite is the case. Doesn’t the sacralisation of certain proceedings necessarily lead to the erosion of justice? Doesn’t this inevitably have the consequence that the purpose the formalised procedures are meant to serve – the search for truth – is reduced to absurdity?
Aren’t the questions of right and wrong, truth and deceit, guilt and atonement far too complex to be resolved in the corset of ritualised court proceedings? Doesn’t this even provoke the danger of using questionable means to comply with form, while trampling on the law that the trial is supposed to enforce?

  1. The Needle Test

To carry out the witch test, Brother Henry first called one of Lina’s two guards to him at the judge’s table. After he had given his instructions to the henchman, he turned again to the trial observers: „For the following step we must assure ourselves of the Lord’s special support. Only in this way can we arm ourselves against the peculiarity of the Evil One not only to assist his paramours in the witch trials, but also to confuse the senses of the observers. So let us pray as our Creator Himself has taught us!“
With bowed heads, all those present murmured the Lord’s Prayer. Afterwards, Brother Henry gave a short academic lecture on the types, meaning and procedures of witch tests. At the end, he explained the test he had chosen: „The needle test, which you are about to witness, has, compared to the water and the fire test, the advantage of being simple and feasible in any place. It is based on the knowledge that the evil enemy tends to mark his paramours with a stigma diabolicum. Such a witch’s mark can be recognised by the fact that the witch is completely insensitive at this spot and that no blood flows when it is pricked.“
At a sign from Brother Henry, the two henchmen grabbed Lina by the arms. One of them held her from behind while the other opened her shirt, tied at the back, and pulled it down. As the rosary with the cross attached to it fell to the ground due to their impetuous proceeding, they hung it around her neck like a chain. This caused the cross, on which the contours of the martyred Christ were clearly visible, to dangle down between her exposed breasts.
Involuntarily, I had to think of Mechildis at this sight. To my surprise, this did not trigger any remorse in me. Instead of feeling ashamed of my infidelity towards Lina, the thought of the time spent with Mechildis filled me with an inexplicable confidence of being able to bring the whole thing to a good end.
Although Lina offered fierce resistance, she was powerless against the combined strength of the two tall men. At first, she at least managed to protectively cross her arms in front of her breasts. But when her hands were pulled back from two sides, she finally just wriggled like a trapped fish.
„Let me go!“ she cried. „I haven’t done anything!“ But her screams were as futile as the shrieks of animals led to the slaughter. Undeterred, the henchmen carried out the order given to them.
From his judge’s throne, Brother Henry admonished her: „The longer you resist, the longer the procedure will take!“
To the councillors he explained: „She must keep still or the result will not be unambiguous.“
Once again Lina looked at me with despair. I realised that I had to do something now, risky as it might be. So I stepped forward and asked the preacher, feigning academic interest: „Excuse me for interrupting, esteemed Brother Henry! But is it not the case that between the interrogation and the witch test, the defendant should be given time to reflect, so that she might confess her deeds voluntarily?“
The councillors and the monks looked at me with clear disapproval. Brother Henry himself reacted with astonishment, but was too sure of himself to be upset by my objection: „I didn’t know that there were other specialists in witchcraft among us,“ he remarked sarcastically. „I will be happy to discuss the advantages and disadvantages of the procedure with you. But first let me finish this part of the trial.“
With that, he addressed the two monks standing next to me, who were staring with undisguised greed at Lina’s naked breasts. „Unfortunately, I must ask you to assist the guards in their work. The defendant might otherwise divert our gaze from the witch’s mark with her resistance.“
As if they had only been waiting for this opportunity to finger the naked flesh gleaming before them, the monks hurried to Lina and wrapped their hands around her arms.
Now Lina finally gave up her resistance. „Very well done!“ praised Brother Heinrich. „As we can see, the power of the holy hands is greater than that of the strongest witch’s arms.“
Turning to the two henchmen, he then ordered: „Now look for the moles on the witch’s back. In each of them you shall pierce with the needle lying on this table.“
Lina’s back was quite familiar to me. I knew there was a whole sea of moles on it! Painstakingly, the henchmen felt their way from one to the other, piercing the little brown dots with their needle. Lina winced sharply each time, sometimes letting out a stifled scream.
Finally, all the moles on her back had been examined. Lina had shown a more or less strong reaction to each puncture. Disgruntled, Brother Henry shook his head. „The stigma diabolicum seems to be in a different place. Perhaps the wicked enemy has put his mark on the front part of the body, in his favourite place.“
Brother Henry’s aides immediately responded to the hint. Routinely, they proceeded to pierce the accused’s chest. Once again, Lina tried to escape their grasp, but she had no chance against the combined power of the assistants. So she had to endure this most humiliating part of the procedure as well.
No mole, no matter how small, was left out by the henchmen. Even the tiny wart under her right breast was pricked with bureaucratic accuracy. Each time, Lina flinched, even though the intensity of her reactions diminished over time – probably her body was gradually getting used to the repeated pain.
When the henchmen set about exposing Lina’s abdomen as well, the publicity of the procedure apparently became too delicate even for the preacher. „Let us pause here!“ he commanded with a majestic gesture. „I am afraid we must interrupt the trial at this point. I think it is safe to assume that this witch is a special confidant of the Evil One.“
Turning to the councillors, he explained: „You must understand that the evil enemy only burns the stigma diabolicum into witches if he is not convinced of their loyalty. In our case, he seems to be fully confident of his paramour’s fidelity – and indeed, she doesn’t disappoint him! I therefore suggest that we now initiate the painful interrogation. There seems to be no other way to break the power of evil in this case.“
That was the cue the man with the garishly coloured clothes had been waiting for. While Lina was allowed to lace up her shirt again, he left the remote corner assigned to him as a person practising a dishonourable profession.
Unprompted, the servant of death approached the defendant. His step was slow, like that of a hunter who already sees his victim safely in the trap and now thinks more of the work of killing and gutting the prey than of the lust of hunting.
His voice sounded correspondingly sluggish as he whispered half aloud to Lina: „You will grow so thin from torture that the sun’s rays will penetrate you.“

Bilder /Images: Tompkins Harrison Matteson (1813 – 1884): Untersuchung einer Frau auf ein Hexenmal / Examination of a woman for a witch’s mark (1853; Ausschnitt / detail); Peabody Essex Museum, Salem, Massachusetts (Wikimedia commons); Efes: Frau mit feuerroten Haaren / Woman with fiery red hair (Pixabay)

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