Der Hexenprozess/4: Der Schatten der Hexe /

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Bruder Heinrich meint unwiderlegbare Beweise für Linas Hexennatur in der Hand zu halten. Er versucht, Lina in die Enge zu treiben, damit sie sich zu ihrer „Buhlschaft mit dem Bösen“ bekennt.

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Freitag, 1. April 1485, früher Morgen

Jetzt bin ich doch für ein paar Stunden eingenickt. Erst das Matutin-Geläute hat mich wieder aufgeweckt. Aber mir steht der Sinn jetzt wirklich nicht nach Morgenandacht! Mir bleiben nur noch wenige Stunden, um Lina zu retten. Darauf muss ich all meine Kraft verwenden.
Sobald die Morgengebetsleier vorüber ist, werde ich Bruder Eberhart um Hilfe bitten. Er ist jetzt meine einzige Hoffnung! Nach allem, was er in der Kirche gesagt hat, kann seine Abwesenheit bei dem Schauprozess gegen Lina kein Zufall sein. Wahrscheinlich hat er genau gewusst, was dort passieren würde, und wollte sich dieser Farce nicht aussetzen. Hat er die Zeit vielleicht sogar genutzt, um schon Maßnahmen für Linas Rettung in die Wege zu leiten?
Fürs Erste bleibt mir nichts anderes übrig, als mich wieder an die Rekonstruktion des Geschehens zu machen – auch wenn ich selbst nicht weiß, wozu das jetzt noch gut sein soll. Das Schreiben wird immer mehr zu einer Beschwörung. Ich schreibe, um das Chaos im Zaum zu halten. Um nicht von ihm überwältigt zu werden. Um nicht den Verstand zu verlieren.

  1. Der Schatten der Hexe

Mir war sofort klar, dass Linas Schattenlosigkeit Bruder Heinrich in die Hände spielte. Ich wusste, dass er diesen Makel nutzen würde, um seine abwegige Argumentation zu untermauern.
In der Tat dauerte es nur wenige Augenblicke, bis er sich aus seiner Erstarrung löste. „Seht doch!“ rief er aus und ließ sich auf die Knie fallen. „Gott gibt uns ein Zeichen!“
Die anderen taten es ihm gleich und murmelten mit ihm die Gebete, die wie eine Zauberformel aus seinem Mund flossen: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund …“
Mir blieb nichts anderes übrig, als mich ebenfalls hinzuknien. Dabei achtete ich allerdings peinlichst genau darauf, von keinem Sonnenstrahl getroffen zu werden. Denn ich wusste: Wenn auch meine Schattenlosigkeit auffliegen würde, wäre die Lage vollends aussichtslos!
Allmählich schwoll das Geraune zu einem lauten Rauschen an, das mich an ein heraufziehendes Gewitter erinnerte. Wie der erste Donnerschlag grollte daraus schließlich die Stimme Bruder Heinrichs an mein Ohr.
Die Arme zum Himmel erhebend, sprach er: „Herr, wir danken dir für deine Weisheit! Wir wissen dein Zeichen wohl zu deuten: Dein Auge meidet diese verstockte Hexe, das Licht deiner Erlösung fließt an ihr vorbei. So wird nun auch sie begreifen, dass ihr die ewige Verdammnis droht, wenn sie sich nicht reuig zu dir bekennt.“
Alle setzten sich wieder hin. Auch Lina wurde von ihren Bewachern wieder zu ihrem Platz geleitet. An sie gewandt, stellte Bruder Heinrich fest: „Du siehst, die Macht des Bösen ist gebrochen, und Gott der Allmächtige hat dich aus seiner Hand fallen lassen. Du solltest jetzt besser gestehen, sonst ist dir ewige Seelenpein gewiss!“
Er griff noch einmal nach der Tube mit Linas Make-up und hielt sie ihr hin. „Gibst du also zu, dass du mit deinen Gefährtinnen diese Salbe angerührt und damit Hagel, Stürme und sonstiges Unwetter herbeigezaubert hast?“
Lina schüttelte nur den Kopf. Sie hielt die Arme noch immer vor den Bauch gepresst – offenbar litt sie unter starken Krämpfen.
„Sie versucht unser Mitleid zu erregen“, erläuterte Bruder Heinrich den Ratsherren. „Das ist eines ihrer letzten Mittel, das sie gebrauchen, wenn sie sich anders nicht mehr zu helfen wissen. Man darf sich davon nicht beeindrucken lassen.“
„Sprich nun!“ herrschte er Lina an. „Woher habt ihr die Kinder genommen, die ihr für die Zubereitung der Salbe brauchtet? Auf welche Weise habt ihr sie zu Menschenschmalz verarbeitet, und was habt ihr mit dem Rest gemacht? Habt ihr es nicht gesotten und gebraten, wie es bei euch Hexen Brauch ist?“
Lina sah ihn gar nicht mehr an. Angestrengt fixierte sie einen Punkt auf dem Boden, sichtlich darum bemüht, ihre Übelkeit unter Kontrolle zu halten. Offensichtlich wollte sie sich nicht ein weiteres Mal unter den demütigenden Blicken all der feinen Herrschaften übergeben müssen.
Bruder Heinrich deutete ihr Verhalten allerdings ganz anders. Für ihn war Linas Geistesabwesenheit ein Zeichen dafür, dass sein Opfer nun endlich zum Geständnis bereit sei.
Wie bei einem Boxer, der seinen Gegner am Rande des Zusammenbruchs weiß und ihn mit präzise gesetzten Schlägen zu Boden befördern will, prasselten seine Fragen jetzt auf Lina ein: Wie viele Menschen sie getötet habe, wie viele schwangere Frauen darunter gewesen seien, welches Mittel sie benutze, um zu dem Hexensabbat zu gelangen, wie oft ihr Buhle ihr auf diesen Versammlungen beigewohnt habe, wer sonst noch dabei gewesen sei, wie oft und mit welchen Worten sie Gott geschmäht habe, ob sie dabei auch Frevel an geweihten Hostien begangen habe – und noch etliche weitere Fragen dieser Art.
Da Lina zu allem schwieg, wurden die Fragen des Predigers schließlich immer rhetorischer und gingen am Ende ganz in Feststellungen über. Diese trug er vor, als verlese er Linas Geständnis.
Als Lina aber auch auf seine abschließende Frage, ob sie nun endlich gestehen wolle, dass dies alles so und nicht anders gewesen sei, keinerlei Reaktion zeigte, ging er wieder zu seinem vorherigen dozierenden Ton über und konstatierte: „Offensichtlich bedient sie sich eines Schweigezaubers. So bleibt uns denn keine andere Wahl, als eine Hexenprobe mit ihr durchzuführen.“
Er blickte zu dem Tisch mit den Utensilien, die er für den Prozess vorbereitet hatte. Ich meinte ein Leuchten in seinen Augen zu erkennen, wie bei einem Kind, dem die Lieblingstante ein neues Spielzeug mitgebracht hat.

English Version

The Witch Trial/4: The Shadow of the Witch

Brother Henry thinks he has undeniable proof of Lina’s witchcraft in his hand. He tries to corner Lina in order to get her to confess her fornication with the Evil One.

Friday, April 1, 1485, early morning

Despite everything, I dozed off for a few hours. It was only when the bell called for Matins that I woke up. But I’m really not in the mood for morning prayers now! There are only a few hours left for me to save Lina. This is what I need to focus on now.
As soon as the morning murmur is over, I will ask Brother Eberhart for help. He is my only hope now! Judging by his sermon in church, his absence from the show trial against Lina cannot be a coincidence. He probably knew exactly what would happen there and did not want to expose himself to this farce. Did he perhaps even use the time to already initiate measures for Lina’s rescue?
For the time being, I have no choice but to get back to reconstructing what happened – even if I don’t know myself what good that will do now. The act of writing resembles more and more an incantation. I write to keep the chaos in check; so as not to be overwhelmed by it – ultimately, in order not to lose my mind.

  1. The Shadow of the Witch

It was immediately clear to me that Lina’s shadowlessness was playing into Brother Henry’s hands. I knew that he would use this flaw to support his absurd reasoning.
Indeed, it took only a few moments for him to break free from his torpor. „Look!“ he exclaimed, falling to his knees. „God is giving us a sign!“
The others did likewise and murmured with him the prayers that flowed from his mouth like a magic formula: „Lord, I am not worthy that you should enter under my roof, but speak but one word and my soul shall be healed …“
I had no choice but to kneel down as well. In doing so, however, I took great care not to be hit by any rays of sunlight. For I knew that if my shadowlessness were to be discovered as well, the situation would be completely hopeless!
Gradually the murmuring swelled into a loud roar that reminded me of an approaching thunderstorm. Finally, like the first thunderclap, Brother Henry’s voice rumbled to my ear.
Raising his arms to the sky, he addressed the Almighty: „Lord, we thank you for your wisdom! We know how to interpret your sign: Your eye avoids this stubborn witch, the light of your salvation flows past her. Now she too will understand that she is threatened with eternal damnation unless she repents and turns her mind to you.“
Everyone sat down again. Lina was also led back to her seat by the guards. Staring her straight in the face, Brother Henry stated: „You see, the power of evil is broken, and the Almighty has let you fall from His hand. You should better admit to your sins now, or your soul will suffer eternal torment!“
He reached for the tube of Lina’s make-up again and held it out to her. „So I ask you once again: Do you confess that you and your companions have mixed this ointment and used it to conjure up hailstorms, tempests and other forms of severe weather?“
Lina just shook her head. She was still pressing her arms against her stomach, obviously suffering from severe cramps.
„She is trying to arouse our pity,“ Brother Henry explained to the councillors. „That is one of their last remedies, which they use when they can’t get out of a precarious situation any other way. Don’t let yourself be impressed by it!“
„Speak up now!“ he urged Lina. „Where did you get the children you needed to prepare the ointment? In what way did you turn them into human lard, and what did you do with the leftovers? Did you not boil and fry it, as it is customary among you witches?“
Lina did not look at him anymore. She fixed her gaze on a spot on the floor, apparently trying to keep her nausea under control. Obviously she did not want to throw up again under the humiliating gaze of all the noble dignitaries.
Brother Henry, however, interpreted her behaviour quite differently. For him, Lina’s absent-mindedness was a sign that his victim was finally ready to confess.
Like a boxer who sees his opponent on the verge of collapse and wants to knock him down with precisely placed blows, his questions now poured in on Lina: How many people had she killed, how many pregnant women were among them, what means did she use to get to the coven, how often had her paramour fornicated with her at the Witches‘ Sabbaths, who else had been there, how often had she reviled God and with what words, how many consecrated Hosts did she defile – and many more questions of this kind.
Since Lina didn’t say anything, the preacher’s questions became more and more rhetorical and finally turned into statements. He listed them as if he were reciting Lina’s confession.
But when Lina showed no reaction to his final appeal to admit her sins, he returned to his previous lecturing tone and stated: „Obviously she is using a spell of silence. So we have no choice but to perform a witch test on her.“
He glanced at the table with the utensils he had prepared for the trial. A gleam appeared in his eyes, like that of a child gifted with a new toy by his favourite aunt. 

Bilder / Images: James Torrance (1859 – 1916): Illustration zu dem schottischen Märchen Die Hexen von Delnabo (1901; modifiziert); Wikimedia commons / Illustration to the Scottish fairy tale TheWitches of Delnabo (1901; modified); Wikimedia Common; Hexen / Witches (Iconographic Collections / Wikimedia Commons)

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