Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels
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Bruder Heinrich präsentiert einen scheinbaren Beweis für Linas Hexenwerk. Diese liefert ihm aber ungewollt einen viel stichhaltigeren Beleg für ihr angebliches Bündnis mit dem Bösen.
Donnerstag, 31. März / Freitag, 1. April 1485, nachts
Noch ein paar Zeilen, und ich werde das Boccaccio-Büchlein vollgekritzelt haben. Nachdem ich die Geschichte zu Ende gelesen habe, bedaure ich es doch nicht mehr, das Buch mit meinen Notizen verunstaltet zu haben. Das Verhalten des Protagonisten finde ich einfach abstoßend: Erst nachdem er seine Frau nach allen Regeln der Kunst gedemütigt und sie dies geduldig ertragen hat, ist er von ihrem anständigen Charakter überzeugt.
Bezeichnend ist auch die Rechtfertigung, die der nicht sehr heldenhafte Held am Ende für sein Tun in Anspruch nimmt: Weil er seine Frau erfolgreich gelehrt habe, „wie ein Weib sein soll, und die andern, wie man ein Weib nehmen und halten soll“, sollen die im Irrtum sein, die sein Verhalten „für grausam und ungerecht und töricht gehalten haben“.
Und dabei ist er auch noch stolz auf die eigene Leidensfähigkeit, die er beim Anblick seiner gequälten Frau um deren Erziehung willen beweist! Erinnert das nicht an den Sadomasochismus, den sittenstrenge Eiferer wie Bruder Heinrich bei ihrem menschenverachtenden Tun offenbaren?
- Die Hexensalbe
Gegen die pharisäerhafte Selbstgewissheit Bruder Heinrichs hatte Lina keine Chance. Jede ihrer Lebensäußerungen wertete er als Bestätigung seiner abstrusen Theorien. Selbst ihre Verunsicherung war ihm ein Beweis für ihre Hexennatur.
„Seht Ihr“, dozierte er, an die Ratsherren gewandt, „das Mittel wirkt schon. Man merkt deutlich, wie sie nach dem bösen Feind sucht, dieser aber wegen der für ihn unangenehmen Ausdünstungen seiner Buhle nicht mehr in ihre Nähe kommen kann.“
Zu Lina gewandt, stellte er voller Genugtuung fest: „Du kannst lange auf deinen Buhlen warten – er wird dir nicht beistehen! Es ist also besser, du befiehlst deine Seele Dem, der allein dir in Seiner unermesslichen Güte jetzt noch helfen kann, und gestehst deinen Frevel. Wohlan denn: Wie lange treibst du schon dein Hexenwerk, und wen hast du in dieser schimpflichen Kunst unterrichtet?“
Lina atmete tief ein und schloss kurz die Augen. Dann erklärte sie mit zitternder Stimme, der die Mühe der Selbstbeherrschung deutlich anzumerken war: „Ich habe nie ‚Hexenwerk‘, wie Ihr es zu nennen beliebt, getrieben, und ich habe auch niemanden darin unterrichtet. Ich glaube auch nicht, dass es möglich ist, Hexenwerk zu treiben, da dies dem Ratschluss des Allmächtigen zweifellos zuwiderlaufen würde.“
Die Ratsherren und auch die geladenen Mönche horchten bei diesen Worten auf. Linas Strategie, die Gerichtsverhandlung in einen theologischen Disput umzuwandeln, schien recht erfolgversprechend zu sein.
Bruder Heinrich indes ließ sich davon nicht aus dem Konzept bringen. Unbeirrt stellte er weiter seine Fragen, als arbeite er eine vorbereitete Liste ab: „Du willst also leugnen, dass du dich dem Teufel verschrieben hast, dass du in schändlicher Weise der Heiligen Dreifaltigkeit abgeschworen und dich von dem bösen Feind hast taufen lassen?“
„Ja“, bekräftigte Lina. „Denn ich kann mich nicht zu etwas bekennen, das ich nicht getan habe.“
„Ein hartnäckiger Fall“, murmelte der Prediger, sich zu den Ratsherren umwendend, „aber Ihr werdet sehen, das Leugnen wird bald ein Ende haben.“
Er richtete sich auf und fragte Lina mit lauerndem Unterton: „Wenn man nun aber einen unwiderleglichen Beweis vorlegte, dass du auf den Hexensabbat gefahren bist – würdest du dann wohl deine Untaten gestehen?“
Lina hüstelte – offenbar war ihr von dem vermeintlichen Reinigungstrank schlecht geworden. Durch das Aufmerken der Ratsherren und der Mönche auf ihre letzte Antwort ermutigt, antwortete sie dennoch mit fester Stimme: „Einen solchen Beweis kann es nicht geben. Ich habe nie an derartigen Versammlungen teilgenommen – und ich bezweifle auch, dass es sie überhaupt gibt.“
Bruder Heinrich winkte wieder einen der beiden Mönche zu sich und ließ sich von ihm einen der auf dem Tisch liegenden Gegenstände reichen. Dieses vermeintlich unerschütterliche Beweismittel hielt er nun feierlich in die Höhe. Als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass es sich um eine kleine Tube Make-up handelte.
„Ist dies deine Salbe?“ fragte er die Angeklagte.
Lina sah ihn entgeistert an. „Ja, aber …“
Der Prediger ließ sie nicht ausreden. „Diese Salbe“, erläuterte er den Ratsherren, „haben meine Gehilfen in der Kammer der Beklagten sichergestellt. Sie ist auch für das ungeübte Auge als Hexensalbe erkennbar, da das Gefäß, in dem sie aufbewahrt wird, ganz mit Zauberzeichen bedeckt ist. Ich lese diese nun für das Protokoll vor.“
Er blickte kurz zu Albertus herüber, um sich zu vergewissern, dass dieser auch mitschrieb. Dann las er mit lauter Stimme die auf die Tube aufgedruckte Aufschrift vor. Da er die Worte natürlich nicht verstand, sondern sie entsprechend den Schreib- und Redekonventionen seiner Zeit und seines Sprachraums vorlas, klangen sie in der Tat geheimnisvoll. Zudem verfiel er beim Lesen in einen monotonen, beschwörend klingenden Singsang: „LABORATOIRES AERA TEINT TECHNOLOGIE MICRO-AEREE NON OCCLUSIVE FOND DE TEINT CREME SATINEE ULTRA CONFORT TEINT CLAIR 23 IVORY SPF 14 HYPOALLERGENIQUE.“
Er ließ die Worte kurz auf die sichtlich beeindruckten Zuhörer wirken, dann ergänzte er: „Auf der Rückseite des Gefäßes sind in kleiner Schrift weitere Worte zu lesen. Dabei handelt es sich offenbar um die Stoffe, welche die Hexen für die Herstellung der Salbe benötigen. Wahrscheinlich ist dort auch angegeben, für welchen Zauber die Salbe wirksam ist. Wem dies alles noch nicht Beweis genug ist, dass es sich hierbei um eine Hexensalbe handelt, der möge zusehen, wie das Gefäß zu gebrauchen ist.“
Er öffnete die Tube und drückte ihre untere Hälfte kräftig zusammen, so dass sich ein ganzer Schwall von Make-up in Linas Richtung ergoss. Dabei hielt er die Tube in unzweideutiger Weise vor seine Lenden – eine Geste, die eigentlich weder er selbst noch die zuhörenden Mönche hätten verstehen dürfen, hätten sie immer keusch gelebt. Triumphierend fragte er: „Wer wollte jetzt noch daran zweifeln, dass wir es hier mit einer Teufelssalbe zu tun haben?“
An dieser Stelle stand Lina, deren Hüsteln sich während der Beweisführung des Prediger-Richters weiter verstärkt hatte, halb von ihrem Stuhl auf und stammelte: „Entschuldigung, ich glaube, ich muss …“
Weiter kam sie nicht. Sie schaffte es gerade noch bis zum Anfang des Kräuterbeets, wo das ihr eingeflößte Gebräu förmlich aus ihr herausbrach.
Die Wachen, die Lina am Verlassen ihres Stuhls hindern wollten, wurden von Bruder Heinrich zurückgehalten. „Lasst nur“, beruhigte er sie. „Es ist ein gutes Zeichen: Jetzt scheidet sie das Gift aus, mit dem sie sich gegen die Macht des Gerichts hatte feien wollen!“
In der Tat versuchten die Wachen nicht, Lina zurück auf ihren Platz zu zerren. Der Grund dafür waren jedoch nicht die beschwichtigenden Worte des großen Hexenverstehers. Die Ursache ihres plötzlichen salzsäulenhaften Innehaltens war vielmehr dieselbe, die auch die übrigen Anwesenden erstarren ließ.
Irritiert folgte schließlich auch Bruder Heinrich den Blicken der anderen. Sie alle sahen das, was auch ich mit wachsendem Entsetzen erkannte: In der Eile hatte Lina nicht mehr darauf achten können, sich vor den Sonnenstrahlen in Acht zu nehmen. Sobald sie aus dem dunklen Kreuzgang in den Klosterhof trat, wurde daher deutlich, was bislang den Blicken verborgen geblieben war: dass die Sonne noch den kleinsten Grashalm, das unbedeutendste Wildkraut mit einem dunklen Spiegelbild versah, Linas Körper aber von ihr vollständig missachtet wurde.

English Version
The Witch Trial/3: The Witch’s Ointment
Brother Henry presents seemingly irrefutable proof of Lina’s witchcraft. However, she unintentionally provides him with much more valid evidence for her alleged alliance with the Evil One.
Thursday, March 31 / Friday, April 1, 1485, at night
A few more lines and I will have scribbled all over the Boccaccio booklet. After I have finished reading the story, I no longer regret having defaced the book with my notes. The protagonist’s behaviour is simply abominable in my eyes: It is not until he has humiliated his wife in every possible way and she has patiently endured this that he is convinced of her decent character.
What is also telling is the justification that the not very heroic hero of the book asserts for his actions at the end: Because he has successfully taught his wife „how a woman should be, and the others how to take and keep a woman“, those who have considered his behaviour „cruel and unjust and foolish“ are supposed to be wrong.
And on top of that, he is still proud of his own ability to suffer, which he demonstrates at the sight of his tortured wife for the sake of her education! Is this not reminiscent of the sadomasochism that moral zealots like Brother Henry reveal in their inhuman deeds?
- The Witch’s Ointment
In the face of Brother Henry’s pharisaical self-assurance, Lina had no chance. Everything she said and did was interpreted by him as confirmation of his abstruse theories. Even her uncertainty was proof to him of her witch nature.
„You see,“ he lectured, addressing the councillors, „the remedy is already working. We can clearly notice how she searches for the evil enemy – but he can no longer approach her because of the unpleasant odours of his paramour.“
Turning to Lina, he stated with satisfaction: „You can wait for your paramour for all eternity – he will not stand by you! It is better, therefore, to entrust your soul to Him who alone, in His immeasurable mercy, can help you now, and to confess your crime. Well then: How long have you been practising your witchcraft, and whom have you instructed in this shameful art?“
Lina took a deep breath and closed her eyes briefly. Then she stated in a trembling voice that clearly showed the effort of self-control: „I have never practised ‚witchcraft‘, as you call it, nor have I taught it to anyone. Nor do I believe that it is possible to practise witchcraft, as this would undoubtedly run counter to the Almightiness of the Creator.“
The councillors and the invited monks listened attentively to these words. Lina’s strategy of turning the trial into a theological dispute seemed to be quite promising.
Brother Henry, however, was in no way distracted by this. Undeterred, he continued to ask his questions as if he were working through a prepared list: „So you want to deny that you have devoted yourself to the devil, that you have disgracefully renounced the Holy Trinity and let yourself be baptised by the Evil One?“
„That’s right,“ affirmed Lina. „I have to deny all that – because I cannot admit to something I have not done.“
„A difficult case,“ murmured the preacher, turning to the councillors, „but you will see that the denial will soon come to an end.“
He straightened up and asked Lina in a lurking undertone: „But what if irrefutable evidence of your participation in the Witches‘ Sabbaths were presented – would you then confess to your misdeeds?“
Lina coughed – apparently the supposed purification potion had made her sick. Encouraged by the attention of the councillors and the monks to her last answer, she nevertheless replied in a firm voice: „There can be no such proof. I have never attended such sinister meetings – and I even doubt that they take place at all.“
Brother Henry again beckoned one of the two monks to him and ordered him to hand him one of the objects lying on the table. This supposedly irrefutable piece of evidence he then solemnly held aloft. When I looked more closely, I saw that it was a small tube of make-up.
„Is this your ointment?“ he asked the accused.
Lina looked at him, startled. „Yes, but …“
The preacher did not let her finish. „This ointment,“ he explained to the councillors, „was seized by my aides in the defendant’s chamber. It is recognisable as a witch’s ointment even to the untrained eye, as the jar in which it is kept is entirely covered with magic signs. I will now read these for the record.“
He briefly glanced over at Albertus to make sure that he was taking notes. Then he read the inscription printed on the tube in a loud voice. Since he did not understand the words, of course, but read them out according to the writing and speaking conventions of his time and language area, they did indeed sound mysterious. Moreover, he fell into a monotonous, incantatory singsong while reading: „LABORATOIRES AERA TEINT TECHNOLOGIE MICRO-AEREE NON OCCLUSIVE FOND DE TEINT CREME SATINEE ULTRA CONFORT TEINT CLAIR 23 IVORY SPF 14 HYPOALLERGENIQUE.“
He briefly let the words work on the visibly impressed listeners, then he added: „On the back of the vessel, further words can be read in small letters. These are obviously the substances that the witches need to make the ointment. It is probably also indicated there for which spell the ointment is intended. If all this is not proof enough that this is a witch’s ointment, let us see how the vessel is to be used.“
He opened the tube and squeezed its lower half forcefully so that a whole gush of make-up poured out in Lina’s direction. As he did so, he held the tube in front of his loins in an unambiguous manner – a gesture that actually neither he nor the listening monks should have understood if they had always lived chastely. Triumphantly, he asked: „Is there any doubt left now that we are dealing with a devil’s ointment here?“
At this point, Lina, whose coughing had become stronger during the preacher-judge’s presentation of evidence, half rose from her chair, stammering: „Excuse me, I think I must …“
She did not get any further. She just made it to the beginning of the herb bed, where the brew forced upon her literally burst out of her.
The guards who wanted to prevent Lina from leaving her chair were held back by Brother Henry. „Just leave her alone,“ he reassured them, „it’s a good sign: Now she is excreting the poison with which she had tried to defend herself against the power of the court!“
Indeed, the guards did not try to drag Lina back to her seat. However, this was not due to the placating words of the great witch scholar. The cause of their sudden paralysis was the same as that which made the others present freeze.
Disturbed, Brother Henry finally followed the others‘ gazes as well. They all saw what I too recognised with growing horror: In her haste, Lina had no longer been able to watch out for the sun’s rays. Therefore, as soon as she stepped out of the dark cloister into the monastery courtyard, it became obvious what had hitherto remained hidden from view: that the sun provided even the smallest blade of grass, the most insignificant weed with a dark reflection, whereas Lina’s body was completely disregarded by it.
Bilder / Images: Tanz der Hexen am Hexensabbat; Illustration aus Christian, Paul: Histoire de la magie, du monde surnaturel et de la fatalité à travers les temps et les peuples [Geschichte der Magie, der übernatürlichen Welt und der Schicksalhaftigkeit im Wandel der Zeiten und bei unterschiedlichen Völkern]. Paris 1870: Furne, Jouvet et Cie / Dance of the witches on the witches‘ Sabbath; Illustration from Christian, Paul: Histoire de la magie, du monde surnaturel et de la fatalité à travers les temps et les peuples [History of magic, the supernatural world and fate in different times and among different peoples]. Paris 1870: Furne, Jouvet et Cie; Martin Joachim Schmidt (1718 – 1801): Eine Hexe wirft bei der Zubereitung eines Zaubertranks einen Skorpion in einen Topf; Kupferstich von Ferdinand Landerer (Wikimedia commons) / Martin Joachim Schmidt (1718 – 1801): A witch placing a scorpion into a pot in order to make a potion. Etching by Ferdinand Landerer (Wikimedia Commons)