Ein Brief von Mechildis / A Letter from Mechildis

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Theo erhält Post von Mechildis. Ob sie sich wohl noch einmal mit ihm treffen möchte? Oder hat auch sie der Auftritt von Bruder Heinrich eingeschüchtert?

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  1. Tagebuch

2. Der Brief

English Version

Mittwoch, 30. März 1485

Besuch von Albertus. Sein komplizenhaftes Lächeln zeigt mir, dass sein Kommen etwas mit unserer speziellen Partnerschaft mit dem Frauenkloster zu tun hat.
„Draußen an der Pforte steht Margaretha und verlangt nach dir“, teilt er mir mit.
„Margaretha?“ wundere ich mich. „Nicht vielleicht eher Mechildis?“
„Nein, du hast richtig gehört. Es ist Margaretha, die auf dich wartet“, bestätigt er. Mit einem vielsagenden Grinsen setzt er hinzu: „Sie möchte dir eine Epistel von deiner Gespielin übergeben – und zwar nur dir persönlich! Mir wollte sie die Zeilen partout nicht aushändigen.“
Es gefällt mir nicht, wie er von Mechildis redet. Seine Worte kommen mir vor wie eine Entweihung meines Zusammenseins mit ihr. Rasch gehe ich an ihm vorbei und trete ans Tor des Klosters. Was Margarethas Heimlichtuerei wohl zu bedeuten hat?
Nach einigem Hin- und Herschauen entdecke ich Margaretha. Sie hat sich unter eines der vorkragenden Stockwerke gekauert und blickt sich ängstlich nach allen Seiten um, als wäre sie eine stadtbekannte Verbrecherin, die jeden Augenblick damit rechnen muss, verhaftet zu werden. Als ich zu ihr unter den Mauervorsprung trete, erkenne ich, dass ihre Augen gerötet sind.
„Hier“, sagt sie, indem sie mir einen gefalteten Papierbogen überreicht, „ein Brief von Mechildis. Lest ihn bitte gleich – ich habe Mechildis versprechen müssen, ihn wieder mitzunehmen.“
Ich bin zwar erstaunt über diese merkwürdige Vorgehensweise, doch meine Neugier ist zu stark, um Margaretha nach dem Grund dafür zu fragen. So falte ich den Bogen auseinander und lese mit fliegendem Blick:

Mein Liebster!

Diese Nacht hatte ich einen schrecklichen Traum – einen Traum, der mir so wirklich erschien, dass sich mir noch jetzt das Herz zusammenschnürt, wenn ich daran denke!
In meinem Traum sah ich mich in meinem Bett liegen. Ich schlief, doch mein Herz war wach und lauschte auf das Klopfen an der Tür, das – wie ich sicher wusste – nur von Dir, mein Geliebter! kommen konnte. Ich sah mich aufstehen, um Dir zu öffnen. Doch als ich an die Tür trat, warst Du schon fort, verschluckt von der Dunkelheit der Stadt, die mich direkt vor meiner Kammer umfing.
Mir stockte der Atem, denn ich wusste: Ich hatte Dich verloren! Ich wollte es aber nicht wahrhaben und lief besinnungslos in den Gassen umher. Ich rief nach Dir, ich klagte, ich schrie – aber Du antwortetest nicht.
Da fanden mich die Wächter auf ihrer Runde durch die Stadt. Ohne ein Wort zu sagen, schlugen sie auf mich ein. Tief drangen ihre Schläge in mein Inneres ein und verletzten meine Seele, die krank war vor Sehnsucht nach Dir. Immer mehr Wächter strömten heran, immer heftiger wurden ihre Schläge. Am schlimmsten aber war, dass sie alle denselben harten Mund, dasselbe dunkle Blitzen in ihren Augen, ja genau dasselbe Gesicht hatten wie Bruder Heinrich. Wie eine Armee von Schatten waren sie, die als eine einzige dunkle Welle über mich hinwegflutete und mich mit unwiderstehlicher Kraft unter sich begrub.
Mein Geliebter! Du wirst wohl wissen, was der Traum bedeutet: Die Hydra des Bösen hat ihre Häupter erhoben, um uns zu vernichten. Ihre Diener aber sind wie Löwen, die am Wegesrand lauern und jedem die Kehle durchbeißen, der achtlos an ihnen vorübergeht. Sieh Dich vor, mein Geliebter, dass sie nicht auch Dich zu fassen bekommen – denn sie kennen keine Gnade!
Aber wenn sie mir auch meinen Umhang entrissen haben, die Wächter der Mauern, so können sie mir doch niemals den Mantel meiner Sehnsucht rauben, der mich für immer verbindet mit Dir. Auch wenn wir nicht mehr zusammenkommen können, werde ich immer bei Dir sein.
Du weißt ja: Das Böse ist mächtig, aber mächtiger als das Böse ist die Liebe! Ist ihre stille Glut einmal erwacht, so können selbst die mächtigsten Ströme der Unterwelt sie nicht löschen noch hinwegschwemmen.
Deshalb leg meine Liebe wie ein Siegel auf Dein Herz, wie auch ich es tun will mit dem Bild, das ich von Dir in meinem Geiste bewahre. Dann werden unsere Seelen einander auf ewig nahe sein, was auch immer geschehen mag. Das gebe Gott!

In Liebe – Mechildis

Natürlich war mir sofort klar, worauf Mechildis mit ihrem Brief anspielte. Die Rede von Bruder Heinrich hat in der Stadt eine Mordbrennerstimmung erzeugt, die jeden aufs Schafott bringen kann, der sich auch nur der kleinsten Verfehlung schuldig macht.
Dennoch hat mich die Unerbittlichkeit, mit der sie die Konsequenzen daraus gezogen hat, ins Mark getroffen. Der kleine Zipfel des Paradieses, den ich erhascht hatte, löste sich von einer Sekunde zur anderen in Luft auf. Auf einmal ging ich wieder ganz allein durch ein finsteres Tal.
Ich fühlte mich wie betäubt von meinem Waisenkindschmerz. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich aus meiner Benommenheit lösen und Margaretha das Schreiben zurückgeben konnte. Mir war, als würde ich damit meine Hände endgültig aus denen von Mechildis lösen – und damit den Rettungsanker verlieren, der mich vor dem Sturz in einen unsagbar tiefen Abgrund bewahrte.
Es mag ja sein, dass Mechildis Recht damit hatte, mir den Brief nicht zu überlassen. Ich hätte es wohl wirklich nicht fertiggebracht, ihn – als vielleicht letzte und einzige Erinnerung an sie – zu vernichten. Und da Mechildis ja nichts von meiner Notfalluhr wusste, musste ihr ihre Vorsichtsmaßnahme als sicherste Möglichkeit erscheinen, mich vor der Gefahr zu bewahren, die mir im Falle einer Entdeckung des Briefes gedroht hätte. Dennoch schmerzt es mich, wenn ich daran denke, dass ihre Zeilen jetzt vielleicht schon längst verbrannt sind, eine Beute der Flammen, die hier alles Schöne zu vernichten scheinen.
Hinzu kommt, dass ich zu gern einmal ein Originaldokument in Händen gehalten hätte, das mir die Mühe erspart hätte, mich an das Gesagte zu erinnern und es mit meinen eigenen Worten wiederzugeben. Das führt doch in jedem Fall zu Verfälschungen.
Die paar Tage, die ich hier verbracht habe, reichen bei weitem nicht aus, um die innere Distanz zu überbrücken, die mich nach wie vor von dieser Zeit trennt. Dass mir vieles aus dem Geschichtsunterricht, aus Büchern und von Museumsbesuchen her bekannt vorkommt, macht die Sache eher noch schlimmer. Dadurch nehme ich zahlreiche Dinge von vornherein durch die Brille ihrer späteren Deutung wahr, anstatt sie unmittelbar auf mich wirken lassen zu können.
Bei der Sprache macht sich diese seltsame Mischung aus Vertrautheit und Fremdheit besonders störend bemerkbar. Da sind zunächst die in meiner ehemaligen Gegenwart außer Gebrauch gekommenen Wörter, bei denen ich die Bedeutung nur erraten kann. Allerdings ist die Fremdheit in diesem Fall wenigstens offensichtlich, und ich werde nicht zu vorschnellen Schlüssen verleitet.
Meistens erscheint mir die Sprache hier jedoch eher wie ein ausgefallener Dialekt, der sich bei entsprechendem Bemühen durchaus verstehen ließe. Das ist aber ein gefährlicher Trugschluss. Wenn ich nämlich hinterher das Gehörte zu Papier bringen möchte, stelle ich immer wieder fest, dass sich hinter den scheinbaren dialektalen Färbungen doch eine ganz andere geistige Welt verbirgt, die sich meinen Worten auf eine eigentümliche Weise entzieht. Weil ich die aufgeschnappten Begriffe automatisch mit dem Sinn verbinde, den sie für mich in meiner früheren Gegenwart hatten, ist es für mich nahezu ausgeschlossen, die Bedeutung zu erfassen, die sie für die Menschen dieser Zeit haben.
Wahrscheinlich wäre es sogar einfacher, in eine völlig fremde sprachliche Welt einzutauchen. So habe ich doch immer den Eindruck des notdürftigen Übersetzens und Umschreibens, als würde ich Gedichte in eine fremde Sprache übertragen. Am Ende ist wohl jeder ein Gefangener seiner Zeit – und redet auch dann von Eigenem, wenn er sich auf das Fremde bezieht.

Mechildis‘ Brief enthält Motive aus dem Hohelied König Salomos:

Ich schlief / Da fanden mich die Wächter: Hld 3, 1 – 3

Mir stockte der Atem / Ich hatte Dich verloren: Hld 5, 5 – 7

Leg meine Liebe wie ein Siegel auf Dein Herz: Hld 8, 6/7

English Version

A Letter from Mechildis

Theo receives a letter from Mechildis. Does she want to see him again? Or has she also been intimidated by Brother Henry’s penitential sermon?

Wednesday, March 30, 1485

A visit from Albertus. His complicit smile indicates that his coming has something to do with our special relationship to the nunnery.
„Margaretha is standing outside at the gate asking for you,“ he informs me.
„Margaretha?“ I wonder. „Don’t you rather mean Mechildis?“
„No, you heard right. It is Margaretha who is waiting for you,“ he confirms. With a meaningful grin he adds: „She wants to give you an epistle from your playmate – and only to you personally! Under no circumstances did she want to hand over the lines to me.“
I don’t like the way he talks about Mechildis. His words seem to me like a desecration of what I have shared with her. I quickly walk past him and hurry to the gate of the monastery, wondering what Margaretha’s secrecy means.
After looking around for a while, I discover Margaretha. She has crouched under one of the overhanging floors and lets her gaze wander anxiously in all directions, as if she were a wanted criminal who must expect to be arrested at any moment. As I step up to her, I notice that her eyes are red.
„Here,“ she says, passing me a folded sheet of paper, „a letter from Mechildis. Please read it right away – I had to promise Mechildis to take it back.“
Although I am surprised by this strange procedure, my curiosity is too strong to ask Margaretha the reason for these strange precautions. So I unfold the sheet and read with a flying glance:

My beloved, my shining star, you light of my heart!

This night I had a terrible dream – a dream that seemed so real to me that even now my heart tightens when I think back on it!
In my dream I saw myself lying in my bed. I was asleep, but my heart was awake and listening for the knocking on the door, which I knew for certain could only come from you, my beloved! I saw myself getting up to open the door for you. But when I stepped to the door, you were already gone, swallowed up by the darkness of the town that enveloped me right outside my chamber.
I held my breath, because I knew: I had lost you! But I didn’t want to believe it and roamed the alleys in senseless fear. I called for you, I lamented, I screamed – but you did not answer.
That’s when the guards found me on their patrol through the town. Without saying a word, they started beating me. Deeply their blows penetrated my interior and wounded my soul, which was sick with longing for you. More and more guards rushed over, their blows became stronger and stronger. But worst of all, they all had the same hard mouth, the same dark flash in their eyes, indeed exactly the same face as Brother Henry. They were like an army of shadows that flooded over me as a single dark wave, pulling me into the abyss of forlornness with irresistible force.
My beloved! Surely you know what the dream means: The Hydra of Evil has raised its heads to destroy us. And the servants of the beast are like lions lurking by the wayside, biting the throat of anyone who carelessly passes them by. So take care, my beloved, that they do not get hold of you – for they are as merciless as hell!
But even if the guards of the walls have snatched my cloak from me, they can never rob me of the mantle of longing that binds me to you forever. Even if we can no longer come together, I will always be with you.
You know very well: The evil is mighty, but mightier than the evil is our love! Once its silent embers have awakened, even the mightiest currents of the underworld cannot extinguish them or sweep them away.
Therefore, lay my love like a seal on your heart, as I will do with the image I keep of you in my mind. Then our souls will be close to each other forever, whatever may happen. May God grant it!

With everlasting love – Mechildis

Of course, I immediately realised what Mechildis was alluding to with her letter. Brother Henry’s speech has created a murderous atmosphere in the town that can bring anyone to the scaffold who is guilty of even the slightest transgression.
Nevertheless, the relentlessness with which she drew the consequences from this struck me to the core. The tiny snippet of paradise I had snatched vanished into thin air from one second to the next. Suddenly I was walking through a dark valley all alone again.
I felt all numb from my orphan pain. It took quite a while before I could break free from my daze and give the letter back to Margaretha. It seemed to me that by doing so, I would finally detach my hands from those of Mechildis – and thus lose the lifeline that saved me from falling into the very „abyss of forlornness“ Mechildis had mentioned in her letter.
It may well be that Mechildis was right not to leave the letter with me. I really wouldn’t have had the heart to destroy this last and only reminder of her. And since Mechildis knew nothing about my emergency watch, her precaution must have seemed to her the safest way to protect me from the danger that would have threatened me if the letter had been discovered. Nevertheless, it hurts me to think that her lines may now have long since been burnt, a prey to the flames that seem to destroy everything beautiful here.
Moreover, I would have loved to hold an original document in my hands at least once, which would have saved me the trouble of remembering what was said and reproducing it in my own words – which inevitably leads to distortions.
The few days spent here are by no means enough to overcome the inner distance that still separates me from this time. The fact that many things seem familiar to me from history lessons, books and museum visits makes things even worse. As a result, I perceive many things from the outset through the lens of their later interpretation, instead of letting them have an immediate effect on me.
The most disturbing effect of this strange mixture of familiarity and strangeness occurs in the field of language. Most of the words seem somehow familiar to me – even those that have fallen into disuse in my former present. However, the strangeness is at least obvious in this case, and I am not tempted to jump to conclusions.
More often, the language here seems to me like a fancy dialect that could be understood with adequate effort. But that is a dangerous fallacy. When I try to write down what I have heard, I always find that behind the seemingly dialectal colouring there is a completely different spiritual world that eludes my words in a peculiar way. Since I automatically associate the terms I have picked up with the meaning they had for me in my former present, it is almost impossible for me to grasp the meaning they have for the people of my new „home time“.
It would probably even be easier to immerse myself in a completely foreign linguistic world. As things stand, I always have the impression of paraphrasing and translating, as if I were adapting poems into a foreign language. Ultimately, we all prisoners of our own time – and speak of our own world even when we refer to entirely alien worlds.

Mechildis‘ letter contains motifs from King Solomon’s Song of Songs:

I was asleep / The guards found me: Song of Solomon 3:1-3

I held my breath / I had lost you: Song of Solomon 5: 5-7

Lay my love like a seal on your heart: Song of Solomon 8: 6/7

Bilder / Images: Anja (Cocoparisienne): Brief / Letter (Pixabay); Lwcy: Manuskript / Manuscript (Pixabay)

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